Frühschäden und Leistungsabfall
Wenn es heute verfeinerter Diagnostik und klinisch experimenteller Forschung gelingt, prämorbide Funktionsanomalien zu registrieren, welche einen Einblick in das Zusammenspiel von Kreislaufimpulsen mit vegetativ hormonellen Regulationen ermöglichen, dann kommt man rasch zu der Erkenntnis, dass die naturheilkundliche Krankheitslehre im Sinne Brauchles oder die Ganzheitstherapie im Sinne Hahnemanns mit konstitutionsaffinen Richtarzneien fruchtbare Wegbereiter der modernen synthetischen Linie in der Medizin waren. Aus der Harmonie der Gegensätze. aber auch unter dem Druck der vom Menschen des 21. Jahrhunderts geforderten Leistungen, entwickelt sich eine bessere Heilkunde, in welcher die diagnostischen und therapeutischen Sondermethoden ihren Platz einnehmen werden.
Wenn der Facharzt für innere Medizin das Elektro-Kardiogramm innerhalb der klinisch diagnostischen Symptomatik im Sinne klinischer Ganzheitsschau und als Rückendeckung für die Diagnostik des klinischen Blickes mit verwendet, dann wird auch er zum Deuter eines symptomatischen Bildes wie der Homöopath bei der diagnostisch therapeutischen Suche nach dem Simile, wie der Akupunkteur beim Setzen der Nadeln und wie der Augendiagnostiker, der im Auge den Brennpunkt der Begegnungen aller Partialfunktionen mit der konstitutionsgeformten Persönlichkeit sieht.
Wenn man experimentell das Herzschlagvolumen, das Minutenvolumen, den peripheren Widerstand und die übrigen daraus errechenbaren Kreislaufgrößen bestimmt, so kann man wohl die Kranken auf Grund der Befunde bei neurozirkulatorischen Störungen in die Gruppen der “hypertonen” und “hypotonen” Regulationsstörungen einordnen. Damit ist ein Beitrag zur Erforschung der Frühschäden am Herzkreislaufsystem geleistet. Überraschend schnell hat aufgrund der experimentellen Bestätigung der Crataeguswirkungen durch Schimert dieses von den Anhängern der Erfahrungsheilkunde immer verwendete Herzkreislaufmittel Einzug in den klinischen Heilschatz gehalten, gerade für die Behandlung von Frühschäden. Wenn Schimert nach Crataegusgaben eine Durchblutungssteigerung der Coronarien um 80 % nachweisen konnte, dann bedeutet dies zugleich eine bessere Durchblutung des Herzmuskels und infolge der vermehrten Blutzufuhr zu den Zellen eine Intensivierung des Stoffwechsels des Herzmuskels, worauf besonders Ullsperger hingewiesen hat.
Andererseits weist nunmehr die Klinik unter Würdigung von Detailgrößen der Herzstromkurve und auf Grund empirischer
Erfahrungen auf jene Fälle hin, denen Digitalis eine Verschlimmerung der meist vegetativ dystonen, coronaroiden
Herzkreislaufbeschwerden brachte. Damit ist der naturheilerisch homöopathische Grundsatz bezüglich der Verwendung
von Digitalis ebenfalls gerechtfertigt.
Schließlich bewies der Leiter des Institutes für Konstitutionsforschung in Heidelberg, H. Bober, in einer Arbeit
“Über die Häufigkeit des Vorkommens von Herzbeschwerden und über die Möglichkeit einer prophylaktischen
Kreislauftherapie”, dass es möglich und notwendig ist, vorbeugende Kreislauftherapie zu betreiben.
Die gefäßerweiternde Wirkung, die nach Haferkamp laktonartigen Substanzen gleicht, wird sich funktionsverbessernd
auch beim leistungsschwachen Menschen mit subjektiven Beschwerden und ohne klinischen Befund aus. Freilich steht die
Lebensreform im Heilplan der Frühschäden und bei Leistungsabfall an erster Stelle. Auf die Hilfestellung eines
konstitutionsaffinen Medikaments sollte jedoch bei keiner Überholungskur verzichtet werden.
Bei der Überbeanspruchung der nervalen Substanz des modernen Menschen im Dienste der Reizleitung und
Reizbeantwortung, sollte der Ernährung und Funktion des nervösen Gesamtapparates größte Aufmerksamkeit
gewidmet werden.
Schimert hat einen für die Behandlung von Frühschäden bedeutsamen Beitrag bezüglich der cerebralen Durchblutungsstörungen geleistet, wenn er schreibt: “Noch ein in der Homöopathie viel gebrauchtes Medikament verdient Beachtung, das Bariumchlorid (BaCl2 . 2H2O). Es ist mehr bei Dauerzuständen indiziert und wirkt oft günstig bei den Durchblutungsstörungen der Sklerotiker. Im Versuch verursacht es in größeren Dosen von 0,5 mg aufwärts eine deutliche Verminderung der Zerebraldurchblutung, es eignet sich, wie schon erwähnt, vorzüglich zur Erzeugung eines zerebralen Angiospasmus. In kleinen Dosen, 0,1 bis 0,01 mg tritt in mehreren Fällen bei vorher gedrosselten Arterien eine deutliche Steigerung der Durchblutung ein, also auch hier ein Beweis für die therapeutische Verwendbarkeit.”
Wenn man mit der Augendiagnostik die Vorstadien der cerebralen Mangeldurchblutung und Sklerosierung registrieren kann, dann sollte man nicht zuwarten, sondern von der experimentell untermauerten Bariumwirkung in den Jahren der Frühschäden, die bekanntlich schon vor dem Klimakterium liegen können, Gebrauch machen. Wer die gesichteten Arzneimittelbilder von Barium studiert, wird nicht zögern, dem Bariumsalz in einer Zeit gehäufter Apoplexien in jungen Jahren als Ausdruck restlosen Versagens zentralnervöser Funktionen einen therapeutischen Wert bei der Behandlung von Frühschäden und Leistungsabfall zu bestätigen. Crataegus und Barium werden über ihre aufgezeigten Potenzen dasselbe therapeutische Ziel anstreben wie die Inhalation von vernebelten Cersalzen.
Soll man warten, bis aus dem leistungshemmenden Kopfdruck infolge ungenügender coronarer und cerebraler Blutzufuhr der Coronar oder Cerebralsklerotiker geworden ist? Soll man auf die seniophile Wirkung der Jodsalze verzichten, weil der Großteil der “Angeschlagenen” nicht zur Badekur nach Wiessee oder Tölz kommen kann? Wenn uns die Erfahrungsheilkunde durch Jahrhunderte auf die Spuren prophylaktischer Arzneien geführt hat, dann wollen wir der Erfahrung auch für die Zukunft ihre Beweiskraft nicht absprechen.
Dass ich der medikamentösen Therapie alle Möglichkeiten naturheilerischer Allgemeintherapie voraus- und parallelgehen lasse, soll nicht unerwähnt bleiben. Die “Überholung der Wirbelsäule” ist oberstes Gebot bei Behandlung von Frühschäden und Leistungsminderung. Zunehmende Bandscheibenschäden und dentale Foci sind degenerativer Art und verlangen vom Arzt und Heilpraktiker allen Einsatz für bessere Ernährung zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes zwischen animalischen und vegetarischen Kostanteilen zugunsten der letzteren. Die Augendiagnose (vor allem die Erkenntnisse Angerers) ist uns Richtschnur für unser chiropraktisches Diagnostizieren und Handeln.
Die Dystonie wird meist über Umweltreize in den Organismus hineingetragen. Der Begriff der Dystonie ist unteilbar, er gilt also für Ernährung, Tagesrhythmus, sexuelles Geschehen, Schlaf und Arbeit. Jede dystone Funktion führt zum Frühschaden und zur Einengung der Leistungsbreite. Die Therapie der Dystonie, die ohne Kneippsche Anwendungen unvollständig ist, verdient besonders in den Jahren des Leistungsknickes den Vorrang vor organgerichteten Verordnungen.
In einer Arbeit die ich in einem alten Heft für Naturheilkunde fand: “Ein Beitrag für die Behandlung der vegetativ dystonen Persönlichkeit”, wurde aufgezeigt, dass Gelsemium auf Grund der tierexperimentellen Resultate Schimerts und unter Würdigung erprobten Erfahrungsgutes nicht nur ein Mittel für neurovegetative Störungen der Schule, sondern auch ein Ganzheitstherapeutikum für die vegetativ dystone Persönlichkeit ist.
Wie die vegetative Dystonie sehr häufig eine Folge ungenügender Rekonvaleszenz ist, so kann die universale Anamnese nach homöopathischen Grundsätzen die Wurzel für den Frühschaden nicht selten in mangelhafter Rekonvaleszenz finden. Man sollte im Zeitalter der Funktions und Neuralpathologie die funktionellen Störungen der Leistungsgeschwächten nicht nur funktionell sehen. Viele neuraltherapeutische Maßnahmen versagen, weil die nervöse Substanz funktionsmüde, erschöpft, dystroph ist. Man sollte dabei in den Jahren der Frühschäden jede Rekonvaleszenz nicht nur funktionell mit Wasseranwendungen, Massagen, Gymnastik, sondern den Rekonvaleszenten dystoner Prägung auch neuronutritiv behandeln. Die Nervenheilnahrung Sensinerv Roborans hat sich bei Frühschäden und Leistungsabfall, bei Asthenikern und Neurasthenikern als Grundheilmittel bestens bewährt als Wegbereiter für neuraltherapeutische Impulse.
Stehen Frühschäden und Leistungsschwäche im Schatten einer anamnestisch offenbaren konstitutionellen Anfälligkeit des Herzkreislaufapparates, die meist familiär bekannt ist, dann ist Chronocard die geeignete Ergänzung der Mittelgruppe.
Bei allem therapeutischen Bemühen muss jedoch bei Menschen mit abfallender Leistungskurve die psychisch roborierende suggestive Kraft des Behandlers eine besondere Rolle spielen.
Quelle: Dr. Max Josef Zilch