Der Parasympathikus aus Sicht des Yoga
Das parasympathische Nervensystem ist Teil des vegetativen Nervensystems, das die autonom ablaufenden Prozesse des Körpers steuert. Es kann gemäß der schulmedizinischen Sichtweise nicht direkt willentlich beeinflusst werden. Über das vegetative Nervensystem werden lebenswichtige Vitalfunktionen des Körpers, u.a. Herzschlag, Atmung, Verdauung und Stoffwechsel, kontrolliert und gesteuert. Auch andere Organsysteme werden von diesem Nervensystem innerviert, z.B. Sexualorgane, Blutgefäße, endo- und exokrine Drüsen.
Das vegetative Nervensystem umfasst den Sympathikus, den Parasympathikus und das enterische Nervensystem. Über den Sympathikus werden hauptsächlich leistungssteigernde Akitvitäten herbeigeführt. Er steigert die Herz- und Atemfrequenz, erhöht den Blutdruck und stellt Energie durch Abbau von Kohlenhydraten bereit. Weiterhin wird die Muskulatur vermehrt durchblutet und erhält eine gewisse Grundspannung. Der Parasympathikus ist in vielen Funktionen der Gegenspieler des Sympathikus. Er verringert die Herz- und Atemfrequenz, führt zu Muskelentspannung, senkt den Blutdruck und schenkt Ruhe. Als weitere wichtige Funktion steuert er unwillkürlich die meisten inneren Organe. Die Nervenzentren des Parasympathikus liegen im Hirnstamm und im sakralen Rückenmark.
Das enterische System befindet sich im MagenDarm-Trakt und steuert dessen Funktionen. Es wird durch Sympathikus und Parasympathikus beeinflusst.
Der Parasympathikus aus Sicht des Yoga
Der weise Seher Patanjali beschreibt in seinen Yoga-Sutras das Ziel des Yoga als „yogas-citta-vrtti-nirodhah“: „Yoga ist das Stillstellen der Bewusstseinsbewegungen“. Sind die Bewegungen des Bewusstseins still gestellt, so kann der Yoga-Übende in sein Inneres schauen, ohne von Gedankenbewegungen abgelenkt zu sein. Er ruht in sich.
Diese Beruhigung kann durch Yoga und Meditation herbeigeführt werden. Das komplexe System des Yoga umfasst verschiedene Komponenten, um den Geist zur Ruhe bringen zu können, u.a. finden wir: rechte Lebensführung (Yama und Niyama), Körperstellungen (Asanas), Atemtechniken (Pranayama), Konzentration (Dharana) und Meditation (Dhyana). Alle Teilbereiche des Yoga wirken zusammen und unterstützen den Vorgang der Ruhigstellung der Bewusstseinsbewegungen.
Das parasympathische Nervensystem wird durch die Übungen des Yoga aktiviert. Überwiegen die Funktionen des Parasympathikus, wird der Mensch ruhig, entspannt und kann sich regenerieren. Entgegen der heutigen Devise „höher, schneller, weiter“ dreht der Yogi den Spieß um und möchte Ruhe und Tiefe in seinem Handeln. Diese Art der Umkehr beschreibt den Weg des Yogi – nicht zu sehr in der äußeren Welt von Stress und Hektik gefangen sein, sondern mehr bei sich sein und das eigene Wesen kennenlernen. Das klassische Symbol der Umkehr finden wir in der Körperübung Kopfstand (Sirsasana). Man stellt das Leben sozusagen auf den Kopf. Durch Yoga werden auch die Körperfunktionen „umgedreht“, hin zu einem inneren Zustand der Ruhe.
Da geistig-seelische Vorgänge für viele Menschen schwer greifbar sind, ist es einfacher, mit dem körperlichen Üben zu beginnen. Über die verschiedenen Körperstellungen, Atemtechniken und Verschlüsse (gezielte Muskelkontraktionen in bestimmten Bereichen) wird das parasympathische Nervensystem aktiviert, und dieses bringt bestimmte Körpervorgänge und die Geistesaktivität zur Ruhe. Der wichtigste Nerv des Parasympathikus ist der Nervus vagus, der X. Hirnnerv. Er verläuft vom Kopf aus durch den Hals, den Brustkorb, den Bauch bis in den Unterleib. Mittels Yogaübungen wird dieser Nerv aktiviert. Er reduziert die Körperabläufe, die die Energie des Menschen verbrauchen. Der Blutfluss verlangsamt sich, sodass die einzelnen Organstrukturen vermehrt Sauerstoff und Nährstoffe aus dem Blut herausziehen können. Die Organe funktionieren besser, die Körperstrukturen können sich regenerieren.
Aus Sicht des Yoga verbindet man den Fluss der Gedanken mit der Frequenz von Herz, Atmung und Blutfluss. Mit jeder Bewegung, die im Körper entsteht, sind Gedanken verbunden. Sind Herz, Atmung und Blutfluss ruhig, so ist auch der Geist still. Der Atmung kommt an dieser Stelle eine wichtige Bedeutung zu. In der Hatha-Yoga Pradipika (Lehrschrift des Hatha-Yoga) schreibt Svatmarama: „Ist der Atem tätig, so ist auch der Geist tätig; ist der Atem untätig, so ist auch der Geist untätig.“ (Hatha-Yoga Pradipika, Kapitel 2, Vers 2)
Yoga geht davon aus, dass der Körper nicht nur aus einem grobstofflichen, sondern auch aus einem feinstofflichen Anteil besteht. Dieser feinstoffliche Körper umfasst die Nadis, die Energiekanäle. Ein wichtiger Kanal ist Manovaha-Nadi. Dies bedeutet „Träger des Bewusstseins“. Er verläuft aus dem Unterleib durch den Brustkorb bis in der Kopf. Patanjali nennt diesen Kanal Kurma-Nadi, den Schildkrötenkanal. Auf körperlicher Ebene würde dieses Nadi dem Nervus vagus entsprechen. So wie die Schildkröte ihre Glieder einzieht und zur Ruhe kommt, geschieht dies beim Menschen, wenn der Nerv aktiviert wird.
Körperstellungen
Bei den Körperstellungen sind es besonders die rückbeugenden Übungen (z.B. Sarpasana, die Schlange), die den Nervus vagus dehnen und unter Spannung setzen. Um den Effekt zu verstärken, wird Kumbhaka, das Anhalten des Atems, praktiziert. Stellungen wie der Pfau (Mayurasana) aktivieren den Nervus vagus durch den Druck der Arme am Brustkorb.
Atemübungen
Die verschiedenen Atem- übungen führen durch eine tiefere Atembewegung zur Aktivität des Nerven. Das Heben und Senken von Brustkorb und Bauch übt einen positiven Einfluss auf den Parasympathikus aus. Zudem benötigt der Körper Sauerstoff für die verschiedenen Körperfunktionen, so auch das Vegetativum.
Bandhas sind die Verschlüsse im Yoga. Sie sind charakterisiert durch eine bestimmte Form der Muskelkontraktion. Beim Halsverschluss (Jalandhara-Bandha) wird der Kopf nach vorne oder in den Nacken gedrückt. Diese Muskelaktivität führt dazu, dass der Anteil des Nervus vagus, der durch den Hals verläuft, stark angeregt wird und so den Körper in die Ruhe führt. Den Genickverschluss finden wir z.B. bei den Körperstellungen Fisch (Matsyasana) und Heuschrecke (Shalabhasana).
Eine sehr wichtige Übung des Yoga nennt man Ajagari. Sie umfasst die beiden Verschlüsse des Bauches: Uddiyana-Bandha und UdaraBandha. Bei Udara wölbt man den Bauch nach vorne, bei Uddiyana zieht man den Bauch ein. Die Grundübung wird wie folgt ausgeführt: Man steht aufrecht, atmet tief in den Bauch ein, hält den Atem an und drückt den Bauch nach vorne. Wenn es genügt, so atmet man tief aus, hält den Atem an und zieht die Bauchdecke nach innen und oben. Danach atmet man wieder ein und löst den Bauch. Diese Übung sollte zu Beginn nur unter Anleitung gemacht werden. Ajagari beeinflusst im Besonderen das parasympathische Nervensystem und beruhigt den Geist. Es entsteht sofort nach der Übung ein Gefühl der Ruhe und Stille.
Reinigungsübungen
Ein Grundpfeiler des Yoga sind die Reinigungsübungen, die ShatKarma (sechsfache Handlung). Diese befreien von körperlichen und seelischen Schlacken. Über die Reinigungstechniken lernt der Yoga- Übende verschiedene autonome Reflexe des Körpers kennen. Über Trataka, die Reinigung der Augen, wird der Tränenreflex bewusst gemacht. Der Übende starrt in eine Kerzenflamme, ohne zu blinzeln, und beginnt dabei, den Reflex zu studieren und zu kontrollieren. So erhält er Wissen und Kontrolle über das autonome Nervensystem.
Lebensweise
Eine gesunde Lebensweise hat einen Einfluss auf den Geist und die Gedankenbewegungen. Zuviel Arbeit und Geschäftigkeit ist einer der Grundpfeiler für einen unruhigen Geist. Hier wäre aus Sicht des Yoga mehr Entspannung anzuraten. Zu einer gesunden Lebensweise zählt auch eine gute und ausgewogene Ernährung. Die Yogis empfehlen eine lacto-vegetarische Ernährung. Eine gesunde Ernährung führt dem Körper Nährstoffe zu und unterstützt die Übungen des Yoga. In der yogischen Ernährung werden besonders frisches Gemüse und Getreide bevozugt sowie Milch als energiereiches Lebensmittel. Dies wirkt ausgleichend auf Körper, Geist und Seele. Nahrungsmittel, die Körper und Geist des Menschen zu stark anregen, sollten gemieden werden. Hierzu zählen u.a. koffeinhaltige Getränke und scharfe Gewürze.
Fazit
Das parasympathische Nervensystem ist ein wichtiger Faktor in der Praxis des Yoga. Seine Aktivierung führt zu Ruhe, Gelassenheit und innerem Frieden. Der Mensch kommt mehr und mehr bei sich an und erkennt sich besser. Über die Nervenstrukturen und die feinstoffliche Komponente kommt es zu einer Verbindung von Kopf und Unterleib. Der Kopf steht für Bewusstes, der Unterleib für Unbewusstes. Diese Verbindung nennt man „Vereinigung“: Vereinigung von Körper und Geist, von Mensch und Kosmos.
Markus Ritz
Heilpraktiker mit
Schwerpunkten TCM, Akupunktur, Schmerztherapie und Yoga, Dozent an den Paracelsus Schulen
info@markusritz.de
Literatur
- Gammenthaler, Reinhard: Kundalini-Yoga-Parampara, Simowa Verlag, ISBN 978-390-8-15236-1
- Palm, Reinhard: Der Yoga-Leitfaden des Patanjali, Reclam Verlag, ISBN 978-3-150-20197-8
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