Akkupunktur
Dass die Akupunktur bereits vor mehr als einem Jahrhundert einmal in Deutschland praktiziert und lebhaft diskutiert wurde, dürfte den wenigsten bekannt sein. Dies geht u.a. hervor aus der “Encyklopädie der gesamten Volksmedizin”, die von Georg Friedrich Most 1843 in Leipzig bei F. A. Brockhaus herausgegeben wurde. Ich zitiere daraus den folgenden Abschnitt, dessen Ausführungen auch heute noch interessant sein dürften.
Nadelstich, Acupunctura. So nennt man das von den Chinesen und Japanesen entlehnte, am Ende des 17. Jahrhunderts nach Europa verpflanzte, unter dem Volke und den dortigen Ärzten gebräuchliche Verfahren, Nadeln von Gold, Silber, Kupfer usw., die am besten sehr fein, zwei bis drei Zoll lang, biegsam und an der Spitze durch kaltes Hämmern gehärtet sind, in schmerzhafte Teile einen viertel, halben, selbst einen oder mehrere Zoll tief zu stechen, indem man mit dem Daumen und Zeigefinger der linken Hand eine kleine Hautfalte bildet und hier die Nadeln einsticht. Der Schmerz ist unbedeutend, denn nur der Hautstich schmerzt, nicht aber das Weiterschieben der Nadel im Fleische.
Man hat die Acupunctur mit Nutzen gebraucht: bei örtlichen rheumatischen und gichtischen Schmerzen, bei nervösem Kopfweh, Gesichtsschmerz, bei der Mundsperre, bei Hüftweh sowie Magenkrampf. Man appliciert die Nadeln, deren man gleichzeitig 4-10 Stück einsticht, unmittelbar an den leidenden Teil oder in die Nähe desselben (beim Magenkrampf in die Herzgrube, beim Kopfweh in die Kopfhaut usw.) und läßt sie dann eine viertel, halbe, ja eine volle Stunde, überhaupt so lange stecken, bis alle Schmerzen vorüber sind.
Beim Scheintode ist die Acupunctur des Herzens, eben auch mit Galvanismus, mit einer Voltasäule von 10-20 Plattenpaaren in Verbindung gesetzt, noch als letztes desperates Mittel von der Pariser Academie royale de Medecine vorgeschlagen worden (s. Archives generales Medicine, Mai 1827). Die überraschensten Wirkungen der Acupunctur beruhen teils auf Oxydation, teils auf feinen elektrischen Verhältnissen, auf Wiederherstellung unterbrochener oder sonst gestörter Nervenleitungen und animalischer Elektrizität, sah ich doch bei acutem, recht schmerzhaftem Rheumatismus der Schulter, des Rückens, des Oberarms, Nackens und der Gliedmaßen sehr gute Ergebnisse. In der Regel war binnen einer Viertelstunde aller Schmerz weggezaubert. Man wählt gern Nadeln von Metallen, welche eine elektrische Spannung haben, z.B. goldene und silberne.
Ich habe je zwei solcher Nadeln, nach der Methode der französischen Ärzte Jul. Cloquet, Pelletan und Sarlandiere, nachdem sie eingestochen, mit einer feinen Clavirsaite oder solchem Platindrahte verbunden, wodurch die elektrischen Strömungen vermehrt und die heilsame Wirkung erhöht wird. Nicht selten empfinden die Kranken unter Anwendung der Acupunctur, ein Gefühl von Erstarrung im leidenden Teile, welches sich auch dem berührenden Finger des Arztes mitteilt und stets, wie Clocquet und Pelletan versichern, ein vollkommene Genesung erwarten läßt.
Vor dem Jahre 1825 war die Acupunctur in Deutschland wenig versucht worden, obgleich schon vor 150 Jahren dieselbe durch Ten Rhyne, Bidlov, Titsing und Kämpfer in Europa bekannt und im Jahr 1811 aufs neue durch französische und englische Arzte angeregt wurde. Später im Jahr1825 war es Prof. Friedrich, der bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Frankfurt a. M. seine Beobachtungen darüber vorlegte und zu neuen Versuchen anregte.
Wirksamer als die einfache Acupunctur ist noch die Elektropunctur. Magiendie war nämlich der erste, welcher, um die Wirkung zu verstärken, die Nadeln mit einer Voltasäule in Verbindung brachte. Dasselbe versuchte Dr. König (Hufeland’s Journal 1829, Juli), der zwei ernsthafte Fälle von Wassersucht dadurch heilte, was das Ministerium der geistlichen, Unterrichts und Medicinalangelegenheiten bewog, die Heilkraft der Elektropunctur im Charitekrankenhause zu Berlin näher prüfen zu lassen. Rust (Hdb. d. Chirurgie, Bd. 1, S. 294) berichtet darüber Folgendes:
“Eine Voltasäule von bald mehr, bald weniger Plattenpaaren wurde mit zwei geöhrten Platinnadeln, die in den Unterleib oder eine andere Stelle des Körpers einen viertel bis einen halben Zoll tief eingestochen worden waren, in Verbindung gesetzt, und 10-30 Minuten darin gelassen. Sobald die Kette geschlossen war, empfanden die Kranken heftige, zuckende, reißende Schmerzen, die sowohl zu lautem Aufschreien, als zu unwillkürlichen Bewegungen nötigten und nicht selten hierdurch das Ausgehen der Nadeln veranlaßten. In der Regel exacerbierte und remittierte der Schmerz, dauerte aber auch, nach Beendigung des Versuches noch einige Zeit, wiewohl in minderem Grade, fort.
Die Muskeln, welche dem Einstichpunkte der Nadeln zunächst lagen, zogen sich lebhaft zusammen, eine Erscheinung, die an den Bauch- und Gesichtsmuskeln am deutlichsten wahrgenommen werden konnte. Um die Einstichspunkte bildete sich ein kreisrunder, entzündeter Hof, der oft 2-8 Linien Durchmesser erlangte und welcher um die Nadel, die mit dem Zinkpole in Verbindung stand, größer und deutlicher war als um die Nadel, welche dem Kupferpole, der Säule angehörte. Sehr bald sonderte sich um die erstere Nadel eine anfangs helle, späterhin trübe und consistente Lymphe ab (ich habe dieses Fluidum oft so scharf bei Rheumatischen gefunden, daß es die nahen Teile in Entzündung setzte, selbst bei der einfachen Acupunctur Most), während sich die Epidermis um die Nadel, welche zum Kupferpole der Säule führte, blasenförmig erhob und bei dem Ausziehen der Nadel eine Gasart mit knisterndem Geräusch entweichen ließ.
Der entzündete Hof breitete sich bei vielen Kranken nach mehreren Stunden noch weiter aus. Zwei bis vier Tage später verwandelten sich diese Stellen in kreisrunde Geschwüre, die 1-2 Linien in das Corium eindrangen, sehr empfindlich waren, mit den durch Einreibung der Brechweinsteinsalbe veranlaßten Geschwüren die meiste Ähnlichkeit hatten und nur langsam heilten. (Ich fand meist an der Einstichstelle, die mit dem Zinkpole in Verbindung stand häufig die Wade nicht immer nachher jene kleinen Geschwüre, aber immer eine kleine Blutunterlaufung, welche völlig sich wie eine solche verhielt, d. h. anfangs dunkelblaue, nach mehreren Tagen grüne, gelbe Hautfärbung, aber unmittelbar nach dem Ausziehen der Nadel etwas Emphysematisches. Most). Die Gefäßtätigkeit wurde während des Galvanisierens auffallend erhöht und blieb es 12-24 Stunden; der Puls ward frequenter, größer, mitunter unregelmäßig, wohl infolge des heftigen Schmerzes. Am lebhaftesten sprach sich diese Steigerung der Gefäßtätigkeit im Uterinsysteme aus, und zwar um so deutlicher, je näher den Genitalien die Nadeln eingestochen wurden. Es folgten alle Erscheinungen wie bei Anwendung des Galvanismus ohne Acupunctur, besonders starker, anhaltender Schweiß und bedeutende Absonderung eines klaren, hellen, wässerigen Harns. Die Krankheitsfälle, wo dieses, Mittel mit wechselndem Erfolge versucht wurde, waren:
- Haut und Bauchwassersucht, welche seit 9 Monaten bestanden und durch Erkältung, die auch Unterdrückung der Menstruation veranlaßt hatte, herbeigeführt zu sein schienen. Nach zehnmaliger Anwendung des Galvanismus traten die Menses ein, und die vollkommene Heilung der Wassersucht gelang in 4 Wochen.
- Bei sehr ausgebildeter Bauchwassersucht ohne allen Erfolg.
- Bei allgemeiner Wassersucht auch ohne Erfolg. Man mußte mit der Application des Galvanismus aufhören, weil danach große Beängstigung eintrat.
- Bei mangelnden Regeln eines 24 jährigen Mädchens, welches an vicariierenden Blutungen durch Nase, Lungen und Magen oft sehr litt, waren die geeigneten Mittel Monate lang ohne allen Erfolg angewandt. Schon nach dem zweiten Versuche mit dem Galvanismus traten die Menses ein, die nach 4 Wochen wiederkehrten. Alle Beschwerden verschwanden und die Kranke verließ völlig gehellt die Anstalt.
- Eine seit 5 Monaten bestehende Suppressio mensium wurde nach siebenmaliger Anwendung des Galvanismus behoben, wo die Menses eintraten. Dagegen leistete das Mittel bei Verhärtung der Mesenterialdrüsen, bei Tumor albus genu und Amblyopia arnaurotica nichts.
Ähnliche Resultate habe ich auch bei der Anwendung des Galvanismus ohne Acupunctur gewonnen. Am wirksamsten fand ich das Mittel bei chronischen Menstrualleiden, in gewissen Formen der Fallsucht hier öfters mit der Acupunctur und bei acutem, fieberlosem, noch mehr chronischem Rheuma; bei ersterem nach vorhergegangener Application von Blutegeln. Auch bei halbseitiger Lähmung wirkte in zwei Fällen die Elektropunctur sehr gut.
Vor 20 Jahren hatten die meisten Pariser Ärzte eine wahre Acupuncturmanie; sie wollten mit der Nadel alle Krankheiten heilen. Der einfache, gesunde und gemüthliche Sinn der Kranken in einem Pariser Hospital es war im Jahr 1824 erkannte bald das Übertriebene in der Application der Acupunctur, die nicht selten Ohnmachten und Krämpfe zur Folge hatte; und so revoltierten hier eines Tages sämtliche Kranke gegen ihre mit Nadeln bewaffneten Ärzte, die sie “Picqueurs medecins” nannten. Die Erfahrung hat nun gelehrt, daß das Mittel keine Panacee sei.
Bei Amaurose, alten Lähmungen, bei reinen Neurosen ohne rheumatische Komplikationen, z.B. bei solcher Prosopalgie, leistete weder Acu- noch Elektropunctur etwas, ja letztere wurde bei recht sensiblen Personen gar nicht einmal vertragen; sie vermehrte die Anfälle; daher ich hier meinen G a l v a n i s m u s o r i s versuchte (s. Horn’s Archiv 1825, Mai bis Aug.), wovon ich aber später auch zurückkam, da er bei mehreren nichts leistete.
Daß übrigens die Acupunctur in ihrer Anwendung nicht immer gefahrlos sei, ist bekannt. HEYFELDER (Rust’s Chirurg. Hdb. Bd. 1. 289) sah 3 Minuten nach ihrer Application bei einem robusten Manne heftige Convulsionen folgen, bei einer 70jährigen Frau mit Iritis arthritica 5 Minuten nach dem Einstich in die Schläfe Ohnmachten, bei einem anderen Kranken selbst einen epileptischen Anfall folgen. Daß, wie JUL. CLOCQUET meint, die Furcht vor der Operation dies bewirke, ist nicht wahrscheinlich. Vor ein paar Jahren gebrauchte ich bei einem furchtsamen Manne die Acupunctur gegen einen heftigen Rheumatismus der Schulter. Da er sich vor der Operation sehr fürchtete, ich aber aus eigener Erfahrung weiß, daß nur der Hautstich beim Einbringen der Nadel, nicht aber letzteres schmerzt, so stach ich mir in seiner Gegenwart eine feine goldene Nadel anderthalb Zoll tief in meine rechte Wade. Drei Wochen später empfand ich nach heftiger Erkältung auf dieser Stelle häufig flüchtige Stiche, die später verschwanden. Es bildete sich aber allmählich hier eine harte, schmerzlose Geschwulst bis zur Größe eines Taubeneies, welche erst später durch Einreibungen vertrieben wurde. Es folgt hieraus, daß nur ein sachkundiger Arzt die Acupunctur, nicht aber der Laie, wie man in Frankreich und Deutschland hie und da sieht, dieselbe unternehmen soll, da ihre Anwendung, wenn große Blutgefäße oder Nerven getroffen werden, nicht immer gefahrlos ist.
*
So weit MOST. Wie man sieht wurde die Akupunktur damals in einer ziemlich robusten Form angewandt – sehr zum
Unterschied von der chinesischen Originalmethode, wie sie heute wieder üblich ist. Was uns dabei vor allem
interessiert, ist die Tatsache, dass man schon vor hundertfünfzig Jahren versuchte, die Akupunkturwirkungen auf
elektrobiologische Vorgänge im Organismus zurückzuführen, und in Verfolgung solcher Gedankengänge schon damals mit
Elektropunktur arbeitete.
Wenn wir Heilpraktiker/innen die Akupunktur so anwenden würden, wie es vor 150 Jahren –
durch Ärzte – der Fall war, hätten wir wohl bald keine Patienten mehr.
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