Der Hippokratische Eid
Alle sprechen von dem Eid, doch kaum einer kennt ihn im Wortlaut.
Der Hippokratische Eid dürfte etwa 400 v.Chr. entstanden sein. Er ist ein zeitgebundenes Dokument der
Medizingeschichte. Vermutlich ist Hippokrates von Kos (460-377 v.Chr.) nicht selbst der Autor des Eides. Der Text
kommt der geistigen Haltung des berühmten Verfassers der authentischen Schriften Epidemien III, Epidemien I und
Prognostikón jedoch mit Sicherheit sehr nahe.
Der Eid bot normierende, rational und pragmatisch motivierte Leitlinien für die Medizinerausbildung der damaligen
Zeit, dem Arzt-Patient-Verhältnis, dem ärztlichen Beruf und dessen Handlungsstrategien an. Solche Leitlinien benötigte
der Arzt der griechischen Antike, um medizinisch erfolgreich wirken und ökonomisch überleben zu können.
Die technischen Möglichkeiten der Medizin waren waren damals eng begrenzt. Das hatte wesentliche Konsequenzen für das
ärztliche Denken und handeln.
Die Hippokratiker betrieben eine prognostisch orientierte Heilkunde, die vor allem auf der Semiographie (korrekte
Deutung körperlicher Zeichen) basierte. Dazu waren langjährige Erfahrungen und eigene Beobachtungen notwendig.
Ein junger Mann (Ärztinnen gab es damals nicht) der Arzt werden wollte, ging zuerst zu einem anerkannten Meister in
die Lehre (ein Studium der Schulmedizin – Arzt – oder der Naturheilkunde – Heilpraktiker – so wie wir es heute kennen,
war zu jener Zeit nicht existent). Hier wurde der angehende Arzt theoretisch und praktisch ausgebildet.
Nach der Anrufung der Götter enthielt der Eid einen Vertrag (Syngraphé). Durch diesen Vertrag wurde die
Rechtsbeziehung zwischen Lehrer und Schüler geregelt. Sowohl das Honorar und die Altersversorgung des Lehrers wurden
in diesem Vertrag vorgesehen.
Daraus folgte auch, dass der Eid vor Beginn der Ausbildung abgelegt wurde und nicht erst nach ihrem Abschluss.
Erst im zweiten Teil des Textes werden die Vorschriften, die sich auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und auf die
optimale Berufsstrategie beziehen (Hórkos) behandelt.
Nicht nur aus ethischen Gründen kam es den Hippokratischen Arzt darauf an, jeglichen Schaden von seinem Patienten
abzuwenden, es ging auch um seine eigene berufliche Existenz.
Oftmals war es aufgrund der beschränkten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten viel klüger nichts zu tun –
dadurch wurde zusätzlicher Schaden vermieden – als durch eine falsche Behandlung die Krankheit möglicherweise zu
verschlimmern. Der damalige Arzt verstand sich als Fachmann (Technítes) zur Erhaltung gefährdeten Lebens. Für sein
Ansehen wäre eine Beihilfe zur Selbsttötung oder gar zur Tötung eines Menschen äusserst abträglich gewesen.
Beides wurde deshalb im Eid ebenso abgelehnt wie die aktive Ausführung einer Abtreibung. Die Ablehnung der
gefährlichen Blasensteinoperation mit dem Verweis auf die hierfür zuständigen Spezialisten war in ähnlicher Weise ein
Teil der Hippokratischen Strategie der Risikominimierung.
In der Entstehungszeit des Eides war kaum etwas selbstverständlich. Es musste erst formuliert und vesprochen werde,
eben in Form des vorliegenden Eides.
Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die restriktiven Vorschriften über den Hausbesuch und dessen vom Hippokratischen
Arzt geforderte Rahmenbedingungen anwenden; zu ihnen zählte ebenso die Einhaltung der Schweigepflicht zum Schutz der
Patienten und ihrer Familie. Nicht zuletzt konnte das Ansehen des Arztes unter einer im Dienst begangenen sexuellen
Verfehlung oder unter seiner mangelnden Verschwiegenheit leiden.
Der letzte Passus des Eides benannte schliesslich die Sanktionen, die dem Arzt drohten, wenn er die zuvor gegebenen
Versprechungen nicht einhielt. Dabei wurden die beiden Triebkräfte besonders herausgestellt, die ihn wohl am ehesten
zu motivieren vermochten, nämlich der materielle Erfolg im Leben und im Beruf sowie der dauerhafte Nachruhm bei allen
Menschen für alle Zeiten. Wenn der Arzt seinen Eid brach, dann würde er freilich erfolglos bleiben und der
Vergessenheit anheimfallen.
Prof. Dr.med. Axel W. Bauer, Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg kommentiert:
Weshalb war der Hippokratische Eid in der Antike offenbar funktionsfähig?
Ein solcher Eid konnte nur dann sinnvoll und wirksam sein, wenn er die ethischen Maximen nicht in Widerspruch zu jenen praktischen Erfordernissen brachte, die der Arzt im wohlverstandenen Eigeninteresse berücksichtigen musste. Die sittlichen Verpflichtungen konnten nur deshalb eingehalten werden, weil die berechtigten Ansprüche aller Beteiligten (Lehrer, Schüler, Arzt, Patient, Gesellschaft) in ein faires, pragmatisch begründbares Gleichgewicht gebracht wurden. Diese gelungene Balance erscheint als die eigentliche, historisch bemerkenswerte Leistung des Hippokratischen Eides. Als unmittelbar gültige normative Richtschnur für das konkrete Handeln des heutigen Arztes kann er vor dem gewandelten wissenschaftlichen und sozialen Kontext der Gegenwart allerdings nicht mehr dienen; die Geschichte entlässt uns nicht aus der Verantwortung für unsere eigene Zeit.
Ende des Zitats.
Interessant ist, dass – nach genauer Analyse – der Hippokratische Eid heute eher auf den Beruf des Heilpraktikers
zutrifft als auf den des Arztes.
Der Heilpraktiker überweist seine Patienten an einen Spezialisten, wenn die Naturheilkunde keine Aussicht auf eine
Gesundung bietet. Behandlungsfehler sind einem Heilpraktiker wesentlich abträglicher als einem Arzt.
Grundsätzlich wird der Heilpraktiker niemals an einer Selbsttötung oder sogar an der Tötung eines Menschen aktiv oder
passiv beteiligt sein. Auch eine Abtreibung steht ausser Frage.
Das staatliche Medizin Studium ist frei, der angehende Heilpraktiker bezahlt für seine Ausbildung und sorgt dadurch,
wie im Eid vorgeschrieben, für den Lebensunterhalt seiner Dozenten und seiner “Alma mater”.
Der Heilpraktiker gibt in Form von Assistenzstellen, sein Wissen an jüngere, unerfahrene Kolleginnen und Kollegen
weiter.
Fazit: Der Heilpraktiker könnte auch heute noch den Hippokratischen Eid mit gutem Gewissen ablegen,
der Arzt nicht mehr.
Der Hippokratische Eid
Ich schwöre bei Apollon dem Arzt und bei Asklepios, Hygieia und Panakeia sowie unter Anrufung aller Götter und
Göttinnen als Zeugen, dass ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil diesen Eid und diesen Vertrag erfüllen werde:
Denjenigen, der mich diese Kunst gelehrt hat, werde ich meinen Eltern gleichstellen und das Leben mit ihm teilen;
falls es nötig ist, werde ich ihn mitversorgen. Seine männlichen Nachkommen werde ich wie meine Brüder achten und sie
ohne Honorar und ohne Vertrag diese Kunst lehren, wenn sie sie erlernen wollen. Mit Unterricht, Vorlesungen und allen
übrigen Aspekten der Ausbildung werde ich meine eigenen Söhne, die Söhne meines Lehrers und diejenigen Schüler
versorgen, die nach ärztlichem Brauch den Vertrag unterschrieben und den Eid abgelegt haben, aber sonst niemanden.
Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung
und Unrecht aber ausschliessen.
Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch
keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen.
Lauter und gewissenhaft werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.
Auf keinen Fall werde ich Blasensteinkranke operieren, sondern ich werde hier den Handwerkschirurgen Platz machen, die
darin erfahren sind.
In wieviele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich von jedem vorsätzlichen
Unrecht und jeder anderen Sittenlosigkeit fernhalten, auch von sexuellen Handlungen mit Frauen und Männern, sowohl
Freien als auch Sklaven.
Über alles, was ich während oder ausserhalb der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre und das man nicht nach
draussen tragen darf, werde ich schweigen und es geheimhalten.
Wenn ich diesen meinen Eid erfülle und ihn nicht antaste, so möge ich mein Leben und meine Kunst geniessen, gerühmt
bei allen Menschen für alle Zeiten; wenn ich ihn aber übertrete und meineidig werde, dann soll das Gegenteil davon
geschehen.