Hahnemann – zum 250. Geburtstag
Initium, Initial und Initiator
Zur 250. Wiederkehr seines Geburtstags
Wann HAHNEMANNs Leben begann, wissen wir nicht genau. Infolge archivalischer Schlamperei kann man sowohl den 10. als auch den 11. April 1755 für seinen Geburtstag halten. Auf jeden Fall dürfte HAHNEMANN sehr spät am 10. oder ganz früh am 11. April zur Welt gekommen sein: als so schwächliches Kind, dass wahrscheinlich eine Nottaufe vorgenommen wurde. Drei kleine, jedoch vernehmlich orakelnde Signaturen! Denn dass einer, dessen ganzes Leben den Gebrechlichkeiten und ihrer Balancierung zum Heil hin geweiht sein soll, nicht als Massivling den irdischen Plan betritt, sondern selbst an der Insecuritas partizipiert, ist nicht nur recht und billig, sondern auch homöopathisch. Und ob HAHNEMANN sehr spät oder sehr früh erschien, lässt sich nicht nur hinsichtlich der Geburtsstunde kaum ausmachen. Bedenkt man, dass die Heilkunst sich Jahrtausende ohne ihre überlegene Richtschnur similia similibus! behelfen musste (zumindest in der klaren Anweisungsform, die erst HAHNEMANN gab), so ist er reichlich spät geboren worden; erlebt man hingegen, wie unreif auch unsere Zeit noch diesem Mann und seinem Werk gegenübersteht, ja wie trotz oder wegen allerlei Scheinrenaissance das Wirkliche und Wirksame seines Lebenswerkes einem Abbau unterworfen ist, einer Einebnung zum Plausiblen hin und damit einer progressiven Impotenzierung, so mag man ihn als einen Verfrühten betrachten.
In Wirklichkeit freilich kommt er aus keiner Vergangenheit, er kommt immer nur aus der Zukunft auf uns zu. Vater und Großvater waren Porzellanmaler. Augenmenschen, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Das Wahrnehmen in solidem Sinne sehend und, mehr noch, schauend ist auch die Voraussetzung für SAMUEL HAHNEMANNs Kunde und Kunst. Wer als Laie eine Käfersammlung betrachtet, findet zahlreiche Arten einander ähnlich, die der Fachmann markant verschieden kennt: selbst solche Unterscheidungsgabe ist nur begrenzt lehr- und lernbar, es gibt Menschen ohne morphologische Begabung, die dann eben nicht Fachmann werden können. Kommt nun, wie in der Homöopathie, beim Erwägen von Ähnlichkeiten noch die Forderung hinzu, außer morphologischen Gegebenheiten auch Symptome subjektiver Natur und Erscheinungen, die sich nicht im Raum, sondern nur in der Zeit erfassen lassen, vergleichend miteinzubeziehen, so bedarf es außerordentliche Seh- und Schaubegabung, wenn die Symptomengesamtheiten der Arzneimittelprüfungen am Gesunden mit denen, die der jeweilige Kranke offenbart, bis zum Zustandekommen einer situationsgerechten Arzneimitteldiagnose verglichen werden sollen. Ähnlichkeiten sehen können: das ist etwas so Subjektives, dass schon deshalb der Schulmedizin nie wohl sein kann, wenn sie, seit je auf Objektives vereidigt, einen Blick in HAHNEMANNs Hortus sanitatis wagt. Klinisch diagnostische “Fest Stellungen” sind für die homöopathische Arzneimittelfindung ziemlich wertlos, wie man weiß und gerade da, wo der Kliniker “o. B.” aufs Krankenblatt setzt, beginnt oft erst das, was dem Homöopathen zu finden aufgegeben ist.
Maler-Enkel und Maler-Sohn: so begann es. Mit Künstleraugen sehen unterscheiden, vergleichen und fein differenzieren können (die Porzellanmalerei ist Miniaturmalerei!), das wurde HAHNEMANN in die Wiege gelegt. Wessen Wiege in dieser Hinsicht steril blieb, der bleibt es auch für die Homöopathie. Das eigene Initium des Therapeuten muss dem HAHNEMANNs ähnlich sein, sonst kann sich auch später keine Ähnlichkeit ergeben. Geboren also wird der homöopathische Therapeut jedoch nicht um auf einem sanften Ruhekissen zu verbleiben, etwa auf dem des “Talents”. Die Arbeit beginnt dann erst, eine enorme Arbeit. Doch vergebens wäre sie ohne besagtes Geschenk in die Wiege hinein.
II. Initial:
Mit HAHNEMANN endet die Medizingeschichte und beginnt die Medizin. Vor ihm gab es nur drei Möglichkeiten, Heilungen zu
versuchen oder zu vollbringen:
a) aus der Eingebung heraus, somnambul gleichsam,
b) von Kausalspekulationen her,
c) unter Anlehnung an die Empirie.
Alle drei Möglichkeiten sind, auch wenn sie Erfolge zeitigen, grundsätzlich unsicher. Das Sichverlassen auf die Intuition führt zur Verlassenheit von, allen guten Geistern und Kräften, sobald diese Intuition einmal (oder gar immer) aus bleibt. Die Kausalspekulationen der vermeintlich feste Boden, auf den die Schulmedizin aller Zeiten pochte, pocht und pochen wird – wechseln mit dem jeweiligen Stande naturwissenschaftlicher Einsicht, also von heute auf morgen; sie werden von eben jenem Fortschritt geschaffen, der an sich selber rapide dahinstirbt. Wo es einst “Schärfen im Blut” waren oder “Vapeurs” oder “über bzw. unterreizte Fasern”, wo es hernach hieß, es handle sich um Elektrolytverschiebung oder Mesenchymblockade oder, um die Liste schnell ins fast noch Heutige zu bringen, um vegetative Dystonie, da ist inzwischen der Darmflorist anderer Meinung als der neurozirkulatorisch fahndende Befunderheber oder wer sonst auch immer im Lager der Z. Zt. gängigen und gültigen Kausaldiagnosen; ein Lager, das sich von selbst räumt, um neue und immer neuere Ursachen in abermals neues Veralten zu stapeln.
Der Satz, man könne eine Krankheit nur heilen, wenn man ihre Ursache kenne und beseitige, ist so plausibel wie falsch (zwei fast synonyme Adjektive). Die dem HIPPOKRATES bekannten “Ursachen” waren andere als die des AVICENNA oder des PARACELSUS oder des Dr.HUFELAND oder des jeweils letzten und deshalb kenntnisreichsten Facharbeiters heute. Ausserdem gibt es keine Krankheit, es gibt nur Kranke. Und endlich: “die Ursache” gibt es schon gar nicht. Wer ernstlich kausal forscht, landet das ist ganz buchstäblich, d.h. in diesem Falle: theologisch gemeint bei Adam und Eva. Da jeder Mensch an dieser letztinstanzlichen Ursache des Übels partizipiert, ist er von damals her einem Ursachen Plural des latenten oder manifesten Krankseins ausgeliefert, der sich ohnehin nicht überblicken oder gar “feststellen” lässt, am allerwenigsten mit naturwissenschaftlichen Methoden; jedes einzelne Kausalmotiv in diesem Komplex stellt aber überdies noch ein Endglied dar: Ketten ohne Enden nach allen Richtungen. Ursachenforschung in der Medizin ist stets ein Beitrag zu deren Geschichte, jede neu gefundene Krankheits Ursache gehört von vornherein, ins Historische, sie gilt schon kaum noch, wenn man anfängt, sie zu formulieren. Wer das nicht bemerkt, ist unbelesen, nimmt nicht zur Kenntnis, wie geschwind das schulmedizinische Kausaldenken veraltet, und hat außerdem ein Skotom: Würde er nämlich all das sehen, was heute von Disziplinen wie der sich selbst überschreitenden Psychologie, der Parapsychologie, der Schicksalskunde usw. ins Blickfeld gebracht wird, müsste er die Unmöglichkeit des “Feststellens von Krankheits Ursachen” erkennen und zugleich die Naivität des Glaubens, man könne solch eine Causa morbi, hätte man sie nur erst einmal eindeutig erwischt, so einwandfrei vernichten, dass auch ihre Folge eben die Krankheit, verschwindet. Was endlich die Empirie betrifft, auf die man so große Stücke hält: Kein Therapeut darf sich ihr in dem Sinne verschreiben, dass es ihm nun etwa erlaubt sei, “Erfahrungen zu machen” und von solchen her Heilmethoden zu finden. Einmal reicht weder ein Leben noch eine Riesenpraxis aus, um überhaupt die Allround Erfahrungen sammeln und sichten zu können, die man Tag um Tag benötigt. Sodann werden es nur in der Minderzahl positive Erfahrungen sein, die man sich empiristisch erfahndet wenn man nämlich beim Erproben neuer Methoden eventuell Glück hat in der Mehrzahl werden es negative sein. Auf wessen Kosten? In dieser Hinsicht ist die Schulmedizin freilich hart im Nehmen: Hat nicht gehalten, was es anfangs versprach”, heißt es immer wieder beim Abgesang unlängst erst als erfolgreich gerühmter Pharmaka. Und endlich: man kann sich ja auch, will man das Risiko eigenen Erfahrungssammelns einschränken, an die Erfahrung anderer Therapeuten lehnen; Beispiel: den 5 bis 7 kausalistischen Theorien des Ulcus ventriculi et duodeni schliessen sich etwa ein Dutzend Heilwege an, deren einer durchaus das krasse Gegenteil des andern sein kann, was bereits beim Diätzettel beginnt. Überall wird die Empirie bemüht. Wessen Empirie soll sich nun der Therapeut anschliessen? Der KÜRTENS, der MEULENGRACHTS, der Bircher BENNERS oder der KALKS?
Der Intuitive taumelt von Begnadung zu Indisposition und, wenn er Glück hat, wieder zurück; der Kausalist taumelt von
der Heutigkeit seiner Ursachenerkenntnis in deren jähe Gestrigkeit; der Empiricus taumelt zwischen
Misserfolgsmöglichkeiten und Autoritätenglauben (denn das ist ja, wenn man für die Empirie eines Autors zuungunsten
derjenigen anderer Autoren optiert). Aus alldem speist sich jetzt und hier bereits mit gutem Appetit bei uns zu Gaste,
die Medizingeschichte als die Chronik des Ungültigen und seiner rhythmisch vonstatten gehenden
Wiederbelebungsversuche.
So, war es und so bleibt es einstweilen. In diesem Strom treibt die Insecuritas der Therapeuten: eine tragische
Situation, weil so der Insecuritas des Menschen überhaupt der einzigen wirklichen Causa morbi also – nicht souverän
begegnet werden kann.
HAHNEMANN war es gegeben worden, aus dem Strom herauszutreten. Er bekam festen Boden unter die Füße. Er durfte
Gesetzgeber sein.
Deshalb ist das Initial, mit dem abseits und oberhalb der Medizingeschichte die Medizin beginnt als die Kunst zu
Können, ein großes S: SAMUEL. SAMUEL HAHNEMANN.
Wer sich davon überzeugt hat, dass Heilung zustande kommen kann, wenn zwei Ähnlichkeiten miteinander ins therapeutische Gespräch gebracht werden die der Gesamtsymptome, welche eine Arznei am und im Organismus eines gesunden Prüfers hervorruft, und die der Gesamtsymptome, welche kennzeichnend für die Erkrankung eines Patienten sind, dem dürfen und sollen alle Spekulationen gleichgültig sein. Indem er (ein Wort NIETZSCHES, von HERMANN EDUARD SIECKMANN mit Recht in homöopathischen Zusammenhängen zitiert): “oberflächlich aus Tiefe” bleibt, erfasst er, therapierend, die Tiefe mit. Die Schulmedizin geht auf die Ursache los und erreicht lediglich Symptomatisches. Die Homöopathie kümmert sich nur um Symptome und bekommt kausale Heilungen geschenkt. Freilich von dort her, wo einzig das Kausale des Krankens und Genesens gewusst, jedoch nicht gesucht oder gar entlarvt werden kann: vom Unsäglichen her. “Wer sich davon überzeugt hat…”: Man kann sich davon überzeugen!
Deshalb steht hinter SAMUEL HAHNEMANNS Initial sogleich der Imperativ für die, die sich überzeugen wollen. Er heißt wörtlich: “Macht’s nach aber macht’s genau nach!” Nur die Genaunachmacher entwinden sich der Medizingeschichte zur Medizin hin. Nur sie haben Anlass, HAHNEMANNS 250. Geburtstag zu feiern.
III. Initiation:
HAHNEMANNs Lebensgang war reich an Initiations- Motiven. Die Mächte, die über uns sind, hatten etwas vor mit ihm. So
kam er denn schwach und arm zur Welt und dennoch mit reichem Erbe, wie wir sahen. Er musste sich alles erkämpfen,
nichts fiel ihm zu, außer dem Simile. Seine Lebensgeschichte wird gegenwärtig, da man ihn weltweit feiert, so oft zu
lesen sein und zu hören, dass wir uns deren Skizzierung hier ersparen können. Ihr wichtigstes Motiv war zweifellos,
dass ein Arzt aus Leidenschaft, der in bitterster Not sein Arzttum erkämpft hatte vom Volksschüler, Stipendiaten,
Werkstudenten bis zum Armeleutedoktor und schliesslich zum anerkannten Gelehrten -, all dies nach erreichtem Ziel
hinwarf und ins wirtschaftliche Nichts zigeunerte mit seiner großen unversorgten Familie: nur weil er erkennen musste,
dass Intuition, Kausalsuche und Empirie dem Therapeuten keine Sicherheit des Handelns geben. Ohne Sicherheit am
Krankenbett jedoch wollte er nicht wie all die andern vor ihm, mit ihm und nach ihm Arzt bleiben. Lieber als
Übersetzer von Ort zu Ort geschoben werden, die Not im Nacken und das Nichts vor Augen, lieber das größte aller Opfer
bringen, das des geliebten Berufes, als in einer Zunft bleiben, die verurteilt ist, auf gut Glück zu kurieren und auf
schlimm Unglück oft genug!
Weil es das Gesetz, das dem Arzt Sicherheit verleihen kann, nicht gab, deshalb hatte sich HAHNEMANN entschlossen und hatte seinen Entschluss realisiert, dem Beruf zu entsagen. Aus Liebe zur Idee des Arzttums – der keine Wirklichkeit entsprach nicht mehr Arzt! Konnte einem anderem Manne als diesem das geschenkt werden, was als Motiv hinter seinem Verzicht stand: das Gesetz eben, das ehedem unbekannte? Indem er 1790, um einer törichten pharmakologischen Deutung in der von ihm Übersetzten Arzneimittellehre des Schotten CULLEN durch eine Fußnote entgegenzutreten, die besagte Arznei es war Chinarinde an sich, dem Gesunden, prüfte, indem er also seine Gesundheit einer Fußnote wegen riskierte und in der Tat krank, arzneikrank wurde, fand er, zunächst als intuitives, Aufblitzen und alsdann systematisch forschend und seine Erleuchtung ausbauend seine Einsichten:
1. Arzneiwirkungen kann man nicht am Krankenbett studieren. Das ergibt unreine Bilder, man weiss nicht, was bei
eintretenden Veränderungen
a) zum Krankheitsbild,
b) zu den Symptomen der Wiederherstellungsbemühung des erkrankten Organismus und
c) zur Wirkung der Arznei gehört.
2. Reine Arzneimittel erfährt man nur, wenn man Arzneien am Gesunden prüft.
3. Arznei macht krank. Immer. Den Gesunden nämlich. Er bringt an Leib, Seele und Geist Symptome hervor, deren vollzählige Aufzeichnung das “reine Arzneimittelbild” ergibt.
4. Ähnelt die Symptomengesamtheit eines Kranken unter Bevorzugung der subjektiven Symptome und der “oberflächlichen” der eines am Gesunden geprüften Mittels größtmöglich, so ist dieses Mittel das für den Kranken zu wählende. Homöopathische Mittel gibt es nicht; es gibt nur Arzneien und eine homöopathische Anwendung derselben (die man zu meist auch allopathisch anwenden kann, dann wirken sie statt heilend lediglich palliativ). Wohl aber darf man von potenzierten Arzneien sprechen, die aber noch nicht deshalb, weil sie potenziert wurden, homöopathisch sind. Nur die Anwendung entscheidet, ob eine Arznei nicht potenziert, tief potenziert oder hoch potenziert homöopathisch gehandhabt wird. Damit erledigt sich von selber die gesamte Pseudo Homöopathie. Zugleich wird die Potenzfrage sekundär.
5. Chronisches Erkranken wurzelt in Konstitutionen, zu deren Symptomatik es gehört, dass sie sich weithin durch die Kategorie der Zeit dehnt; wer solche Erkrankungen kurieren will, muss weit zurückgreifen können beim Aufsuchen und Bewerten der Symptome. Sie weichen nur, wenn zugleich die Arznei weithin wirkt: und das kann nur die hochpotenzierte. In unserer Zeit hat das eindringlicher als alle anderen Autoren A. VOEGELI dargestellt (“Heilkunst in neuer Sicht”, Karl F. Haug Verlag, Ulm 1955).
6. Chirurgie und allopathische Maßnahmen können in Grenzfällen berechtigt sein, jedoch nicht als Heilkunst, sondern als “technische Nothilfe”. Der Chirurg hinterlässt Narben, es gibt also keine Restitutio ad integrum. Die Morphium, Kampher oder Luminal Injektion können verzweifelte Situationen überbrücken, sind jedoch nur Hilfs-, keine Heilmittel. Alle Substitutions Therapie ist Krücke, ohne die man Beispiel: Diabetes vielleicht nicht weiterkommt in vorgeschrittenen Fällen, jedoch Heilung kommt dabei nicht zustande (aufschlussreich das Wort: Erhaltungsdosis).
All das ist prüfbar. Wo das Plausible der Homöopathie weiten Therapeutenkreisen zugänglich gemacht werden kann, da tummeln sich die Eklektiker und holen sich “ergänzungstherapeutische” Kniffe und Tipps, Ohne den gesunden Menschenverstand kommt man in der Homöopathie nicht weit, mit ihm allein jedoch bleibt man erst recht stecken. Er verbaut, schickt man ihn als Solisten ins Parkett, den Aufstieg zur Initiation.
Wer die Geschichte der Homöopathie kennt, die 1755 mit HAHNEMANNs Geburt begann und dann 1790 mit seiner Findung des Simileprinzips durch den Chinarinde Selbstversuch, der weiß, dass man aus ihr emporschnellen muss in die Region, wo der alte HAHNEMANN endlich und endgültig angelangt war in seiner Köthener und Pariser Meisterzeit, will man wirklich der Initiation des Heilenkönnens teilhaftig werden. Die erste Zeit nach HAHNEMANNs Tode ist das oft gelungen: Männer wie STAPF, BÖNNINGHAUSEN, HERING waren keine Einzelerscheinungen, wenn auch wohl die Größten unter den echten Homöopathen damals. Später wurden die Meister seltener. Sie blieben, was zu ihrem Wesen gehört und zum Wesen ihres Lehrers, Aussenseiter. Die Majorität derer, die ein wenig oder ein wenig mehr Homöopathie zu erhaschen suchten, wollte es billiger haben. Daher die Freude, als AUGUST BIER 1925 (und um dieselbe Zeit etwa auch HANS MUCH) vom offiziellen Katheder Freundliches über die Homöopathie sagten und sie weiten Kreisen zugänglich zu machen versuchten. Dazu P. DAHLKE, einer der letzten großen Klassiker: “Ich bemerke nebenbei, dass beiden das Missgeschick passiert ist, dass sie die Homöopathie nicht verstanden haben” (“Heilkunde und Weltanschauung”, Stuttgart 1928). BIER z. B. empfahl, da Jod beim Gesunden Schnupfen erzeugt, den Jodtropfen, in Wasser gegen Schnupfen. Nun erzeugt aber Jod gar nicht “den” Schnupfen, sondern eine bestimmte differenzierte Symptomengesamtheit, zu der auch ein nicht minder bestimmter Jod Schnupfen (im Unterschied etwa zum Mercurius oder Aconitum oder Nux vomica und noch manchem anderen Schnupfen) gehört. Der Tropfen Jodtinktur kann nur nützlich sein, wenn wirklich ein Jodschnupfenbild beim Patienten vorliegt: und gerade in solchem Fall ist er, zu massiv dosiert, wiederum bedenklich. In anderen Fällen nützt er überhaupt nicht, schadet aber auch da eventuell. BIER war, eine massive Natur, er berichtet, dass ihm sein Tropfen Jodtinktur immer wieder geholfen habe, seinen Schnupfen bald zu überwinden. VOEGELI stellt mit Recht fest, dass, wenn BIERS Schnupfen immer wiederkehrte, die Heilung nicht stattgefunden habe. Chronische Zustände, zu denen auch immer rezidivierender Schnupfen gehört, verlangen das Simillimum in hoher oder Höchstpotenz (HAHNEMANN, BÖNNINGHAUSEN, KENT, NASH, DAHLKE, SIECKMANN, VOEGELI), dann erst kommt Dauerheilung zustande.
Das muss gesagt werden, wo von Initiation die Rede ist. Man kann ganz gewiss, Homöopath und sogar ein erfolgreicher sein, ohne dass man sich deshalb in Ähnlichkeitsbeziehung zum alten, zum meisterlichen HAHNEMANN zu setzen braucht; den Zugang zu der Initiation sub signo similitatis findet man freilich nur, wenn man es tut.
Nun ist Initiation stets Einzelnen vorbehalten gewesen und heute, in einer antibiotischen und antiinitiatorischen Zeit, in der das Plausible seine Kulmination erreicht hat und seine Grimasse freizulegen beginnt, trifft man die Seltenen und das Seltene noch seltener als vor 250 und vor 100 Jahren. Insofern ist heute die plausible Homöopathie, die klinisch lehrbare und klinisch prüfbare, keine große Sache mehr; man kann sie per Kursus erwerben und auf oder abwerten je nach Begabung. Die Meister Homöopathie jedoch, die durch HAHNEMANN allein verleihbare (und “nur die Höhe HAHNEMANNS ist HAHNEMANN!”), lässt sich immer seltener auffinden, Man muss weit zurück gehen, will man ihr öfter begegnen. Und weit vorwärts, dann wird es sie wieder geben.
Zum Erschliessen der Initiation, die mit der Auswirkung HAHNEMANNS in die Zeit hinein verquickt ist für jene Seltenen gehört mehr als bloße “Ausbildung”. Es gehört dazu
das Kommunizieren mit dem Toxischen, d.h. der Selbstversuch möglichst im Plural: die Selbstversuche; wer keine
Arzneien prüft, erfährt ihre intimsten Offenbarungen nicht und betrügt sich um die Erweckung des “Schmerzensmannes” in
sich,
die. Selbstherstellung der Arznei, lege artis und handverschüttelt;
das Selbstabgeben der Arznei: aus der Hand des Herstellers und Therapeuten in die des Kranken;
die spirituelle Durchdringung des Simile, wie sie z.B. EMIL SCHLEGEL (in “Heilkunst als Weltmitte”, Karlsruhe 1931)
gefordert und vollbracht hat.
Nur allzu berechtigt ist hier die Frage: Wer tut das heute? Die Arzneien, deren genaue Herstellungsvorschrift HAHNEMANN in der maßgeblichen 6. Auflage seines “Organon” gibt, sind in Deutschland nicht mehr lieferbar. Das Selbstdispensieren wird wie damals, so heute bekämpft und verboten. Zur spirituellen Durchdringung des homöopathischen Kosmos und Metakosmos fehlt dem Praktiker die Zeit (wenn nicht gar noch Wichtigeres).
Wir gingen, im Abschnitt “Initium”, von drei Orakelnden Signaturen aus, die die Geburt SAMUEL HAHNEMANNS kennzeichnen. Auch sein Tod gab uns eine Signatur: HAHNEMANN hatte sich gewünscht, auf seinem Grabstein solle das Wort stehen: Non inutilis vixi; Ich habe nicht umsonst gelebt. Diesen Grabspruch hat man ihm bis heute verweigert.
Die Zeit, die sagen kann, er habe aufs Ganze, in großem Stil – nicht umsonst gelebt, kommt erst noch. Wer dem alten
Weisen etwas zum 250. Geburtstag schenken will, der helfe diese Zeit – diese Wartezeit auf das Kommen universaler
Homöopathie abkürzen.
Wie? Durch Nachmachen aber genau.
Das allein ist eine HAHNEMANN Feier in seinem Sinne und in einem andern darf man ihn doch wohl nicht feiern.
Quellen:
Dr. Herbert Fritsche
Erfahrungsheilkunde (Karl F. Haug Verlag)