Anmelden als
Lesezeit: 4 Minuten

Pawlowsche Schule

Die Homöopathie ist eine ausgesprochen auf Erfahrung beruhende Heillehre. Demgemäß liegen Wesen und Wert der Homöopathie nach wie vor in der Bewährung auf dem Gebiet der praktischen Heilkunst, die unabhängig ist vom Wechsel der pathogenetischen Theorien.

Die Versuche, die HAHNEMANN nachträglich unternommen hat, um die empirisch gewonnenen Erkenntnisse zu deuten, sind von sekundärer Bedeutung und können nicht als theoretisches Fundament dieser auf Erfahrung beruhenden und ausschließlich auf die Praxis des Heilens gerichteten Lehre angesprochen werden. Obwohl die gesamte Medizin im Grunde eine Erfahrungswissenschaft ist, hat das Fehlen einer theoretischen Grundlage wesentlich dazu beigetragen, die Homöopathie für unwissenschaftlich zu erklären, und ist wohl auch von manchem Anhänger Samuel Hahnemanns als Mangel empfunden worden.

Um so mehr muss es begrüßt werden, dass experimentelle Untersuchungen der Pawlowschen Schule auf dem Gebiete der Physiologie und Pathologie des Nervensystems zu Ergebnissen geführt haben, die mit fast allen empirisch gewonnenen Erkenntnissen der Homöopathie übereinstimmen.

PAWLOW hat bekanntlich die Bedeutung der bedingten Reflexe entdeckt. Er vermutete mit Recht, dass bei allen Organen eine bedingt reflektorische Regulation ihrer Tätigkeit nachweisbar sein müsse, aber es war ihm selbst nicht mehr möglich, diesem Gedanken nachzugehen. Seine Vermutungen wurden später experimentell bestätigt. Hier zeigte sich die ungeheure Bedeutung der nervlichen Komponente, die von Anfang bis Ende aller Vorgänge der Faktor ist, der ihren allgemeinen Zustand entscheidet.

Die Arbeiten SPERANSKYs konnten den experimentellen Beweis erbringen, dass die Giftwirkung bestimmter Metalle sowie bestimmter Krankheitsstoffe in einer Reizung des Nervensystems besteht und dass die Veränderungen in den Geweben nicht ursächlicher, sondern sekundärer Natur sind.

So stand er auf dem Standpunkt, dass nicht Mikroben ursächlich für die Schwere eines Krankheitsbildes sind, sondern dass sie gewissermaßen nur die Rolle eines Indikators spielen, der die Schwere der Schädigung anzeigt. Speransky zog aus seinen Erfahrungen den bedeutsamen Schluss, dass es keine echten spezifischen Reaktionen gäbe, die nur mit einem Reizstoff verbunden sind. Sie gehören alle zur Kategorie der Gruppenreaktionen, nur die Zahl der hervorrufenden Agenzien ist in jeder Gruppe verschieden. Damit wird die Erfahrung der homöopathischen Arzneiprüfung bestätigt, dass pflanzliche, tierische oder rein chemische Stoffe ähnliche Krankheitsbilder hervorrufen können wie eine bakterielle Infektion.

Auch stand Speransky auf dem Standpunkt, dass es notwendig sei, mit schwachen Reizen zu arbeiten und diese auswirken zu lassen. Wir wissen, dass die Wirkung homöopathischer Mittel nicht immer sofort einsetzt, sondern manchmal einer gewissen Anlaufperiode bedarf. Das gleiche hat Speransky bei fast allen Mitteln beobachtet, mit denen er einen Reiz auf das Nervensystem auszuüben versuchte. Wesentlich ist auch seine Auffassung von der Krankheit, die der der Homöopathie äußerst ähnlich, wenn nicht gleich ist. So schreibt er: “Wir erhalten nicht eine Krankheit im Organismus, sondern einen neuen Organismus.” Deshalb “ist es vor allem notwendig, sich selbst von gewissen üblichen Formen der Einstellung zum Begriff des therapeutischen Eingriffs frei zu machen. Dieser verfolgt, wie jedermann weiß, das Ziel, pathologische Phänomene im Organismus zu unterdrücken…”

Speransky fand es notwendig, um die Richtung, die ein Prozess nehmen wird, voraussehen zu können, vorher die Geschichte jedes individuellen Nervensystems zu kennen und einen Überblick über seine persönlichen Charakteristiken zu haben. Nur schwache Grade der Reizung können eine segensreiche Wirkung haben. Starke richten unvermeidbar Schaden an. Das könnte ebenso gut Hahnemann geschrieben haben. Speransky schwebte die Idee des “Leitgliedes” vor, die darin besteht, eine Reihe von Mitteln zu studieren und zu gebrauchen, die fähig sind, zeitliche Umgruppierungen der Beziehungen im komplexen Organismus zu schaffen. Speransky fand in seinen Versuchen heraus, dass psychische und organische Erscheinungen eine Einheit bilden und sich wechselseitig bedingen. Sie sind verschiedene Auswirkungen des gleichen Vorganges im Nervensystem.

Fragen wir uns nun, warum gerade die Experimente der Pawlowschen Schule eine Erklärung und Bestätigung für die Erfahrung der homöopathischen Praxis gebracht haben, so liegt das einmal daran, dass die homöopathischen Mittel wie oben dargelegt den Organismus aller Wahrscheinlichkeit nach durch Einwirkung auf das Nervensystem beeinflussen, zum anderen aber daran, dass Pawlow in dem Bestreben, nicht nur Einzelteile des Organismus zu untersuchen, eine chirurgische Methode der experimentellen Forschung geschaffen hat, die es erlaubt, nach Abheilung des operativen Eingriffs Reaktionen des ganzen Organismus im Normalzustand hervorzurufen und zu beobachten. Auch die Homöotherapie ist bemüht und in der Lage, nicht nur einzelne Organe oder Organsysteme, sondern den Organismus als Ganzes zu beeinflussen, d. h. die auch von den Universitäten angestrebte Ganzheitsmedizin zu verwirklichen.

Quelle: R. Stengel, Deutsche Homöopathische Monatsschrift, November 1955