Was ist eigentlich?
Diesen Artikel, den ich unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten möchte, fand ich kürzlich in einer
Zeitschrift für diagnostische und therapeutische Sondermethoden aus dem Jahr 1955.
Abkürzungen, an die wir uns gewöhnt haben und die uns heute ganz selbstverständlich über die Lippen gehen, waren
damals Neuland.
Was ist eigentlich?
So fragt gar mancher angesichts der ständig steigenden Hochflut neuer und neuester Begriffe, mit denen uns die moderne Medizin überschwemmt und deren schlagwortartigen Gebrauch man sich nur allzu leicht angewöhnt, ohne sich einer ausreichenden Definition ihres wesentlichen Kernes und ihres eigentlichen Aussagegehalts stets bewußt zu bleiben.
Oder Hand aufs Herz! Können Sie, lieber Leser und Leidensgenosse, reflexartig und gewissermaßen im Schlaf eine einigermaßen erschöpfende, geschweige denn wirklich präzise Antwort auf jedes der folgenden Fragezeichen geben?
Ein besonderes Kapitel sind die mechanisierten Abkürzungen unserer hypertechnisierten Zeit. Gewiss: die meistens dahinter stehenden Wortungeheuer dürften die Einführung formelhafter Buchstabensymbole größtenteils berechtigt erscheinen lassen und schreien geradezu nach einer Vermeidung der sonst erforderlichen Zungen und Gehirnakrobatik. Aber bitte: Was ist denn nun eigentlich:
ACTH? BAL? DOCA? – IAP? – INH? – MAD? MASD in KS? – TEM? WAR?
- A C T H ist noch einer der einfachen, relativ harmlosen Vertreter dieser vertrackten Gattung und mnemotechnisch gut gewählt. Seine Bedeutung hat sich denn auch in den weitesten Kreisen herumgesprochen, es handelt sich bekanntlich um das Adrenocorticotrope Hormon.
- B A L dagegen ist bereits ein Ausländer und heißt mit vollem Namen British Anti Lewisit; es stellt ein Antibioticum dar, das auch in dem deutschen Präparat Sulfactin Homburg enthalten ist und bei Allergie, Rheuma, Hepatitis, Nierenschäden, Salvarsannebenerscheinungen usw. versucht wurde.
- D O C A bedeutet Desoxycorticosteronacetat, es beeinflusst die innersekretorischen Regulationsprozesse bei Rheuma, Addison, allergischen Entzündungen usw.
- I A P und I N H sind nicht etwa Autokennzeichen, vielmehr stammt ersteres aus Übersee (Los Angeles) und heißt zur Gänze: Irradiated Antihemophilie Plasma, woraus seine Indikation ja schon hervorgeht, während letzteres das Antibioticum Isonikotinsäurehydrazid ist, der Hauptwirkstoff vieler Präparate gegen Tuberkulose (z.B. Neoteben, Rimifon usw.).
- Eine ziemlich. willkürliche Abkürzung hat das männliche Hormon Methylandrostendiol erfahren, nämlich
- M A D, von ganz gewissenhaften Leuten unsinnigerweise auch M A S D geschrieben, wobei der Zusatz “in KS” bedeuten soll: in Kristallsuspension.
- Einigermaßen barbarisch ist auch die Abkürzung
- T E M für Triäthylenmelamin, eine mit Stickstofflost verwandte Substanz, die erfolglos gegen Krebs versucht wurde, aber gewisse Wirkungen bei Lymphogranulomatose, Leukämie und ähnlichen Erkrankungen des blutbildenden Systems aufzuweisen hat.
- W A R endlich ist eine üble Sekundärerscheinung dieses epidemischen Buchstaben Größenwahns, denn hier handelt es sich um die alte, traute Wassermannsche Reaktion, die indessen wohl besser bei ihrer altbewährten Chiffre WaR bleiben sollte!
Wird man in 50 Jahren auch über uns und unsere Abkürzungen lächeln?