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Psychotherapie
Lesezeit: 11 Minuten

Keine leichte Entscheidung – Patient am Scheideweg

Tina Wiegand provoziert und fordert mutige Entscheidungen, um Heilung doch möglich zu machen.

Ein Reiter reitet auf seinem Pferd durch die Wüste, bis er an eine Weggabelung kommt:

2009-02-Scheideweg2Biegt er rechts ab, stirbt der Reiter, und nur das Pferd überlebt.

Biegt er links ab, stirbt das Pferd, nur der Reiter überlebt.

Reitet er geradeaus, sterben beide.

 

2009-02-Scheideweg1Schöne Aussichten! Wo ist der Kompromiss, der gesunde Mittelweg, die Lösung? Ist ja grausam! Wir sind nicht einverstanden, zetern, hadern mit dem Schicksal und fordern lautstark die Reklamationsabteilung des Universums auf, einen Umtausch vorzunehmen und das fehlerhafte Geschehen zurückzunehmen. Das haben wir nicht verdient und es bedarf einer Sanierung der Situation. Es muss doch machbar sein, den Verantwortlichen für diesen Saustall zu finden: Die Eltern, Gott, die Politik, die heutige Jugend, die Manager, die Umweltzerstörung und im Zweifelsfall der zuständige Coach oder Psychotherapeut … Wenn alles Gestrampel gescheitert ist, bleibt dem armen Wüstenreisenden trotzdem nur noch sich in den heißen Sand zu setzen, seine letzten Trinkreserven mit dem Pferd zu teilen, den Kopf aufzustützen und nachzudenken:
Was verbirgt sich hinter dieser ausgesprochen unangenehm klingenden Situation? Es ist ein Algorithmus für eine der vielen scheinbaren Sackgassensituationen des Lebens, die wir alle kennen und hassen. Warum muss das passieren? Wozu widerfährt uns das und was will uns diese Werbebotschaft sagen?

Links Abbiegen:

Der Reiter repräsentiert den Verstand und das Pferd unsere Gefühlswelt. Wer „links abbiegt“, trifft eine Lebensentscheidung, die zwar „vernünftig“ erscheint, aber als Preis die vitale Lebensenergie fordert. Der Bauchstimme, die rät, nach den Sternen zu greifen, wird der Mund verboten. Vernünftig sind wir, wenn wir in die Altersvorsorge einzahlen, anstatt ein Sabbatical zu nehmen, um die Welt zu bereisen. Wir werden Beamte in einem krisensicheren Job anstatt Schauspieler, wovon wir schon immer geträumt haben. Wir heiraten den vernünftigen jungen Mann mit dem sicheren Job, anstatt mit dem vor Exotik vibrierenden Zirkusartisten auf Weltreise zu gehen. Wir kriegen Kinder, bauen ein Haus, warten auf die Rente, auf die wir unseren Lebensgenuss in Form von Erwartungshaltung projizieren. Bis dahin gehen wir kein Risiko ein, kaufen Versicherungen und Schutzhelme, umgehen Konflikte und umgeben uns mit Menschen, die nichts zu sagen haben, damit uns nicht jemand aus Versehen darauf aufmerksam macht, dass sich irgendetwas komisch anfühlt. So halten wir auf viele Arten die Luft an, damit wir gesund sind, wenn die Rente kommt. Wir wollen lecker essen, in Urlaub fahren, Donnerstags kegeln, zur Entspannung eine Soap genießen, nicht allzuviel denken – weil das stresst – und ab und zu einen drauf hauen. Währenddessen hängt unser Wohlbefinden davon ab, ob die Zahlen auf einem Blatt Papier, das irgendjemand Kontoauszug genannt hat, schwarz oder rot sind. Schwarz gibt Ruhe, rot stresst. Ja, so sind sie die Farben – vernünftig und logisch!

2009-02-Scheideweg3Eigentlich entstammt das Wort „Vernunft“ dem Wortstamm „vernehmen“. Leider vernehmen wir in der Regel die brüllende Stimme der Medien, die fordernde Stimme unserer Eltern, die mahnende Stimme der Versicherungsvertreter und weiteres ohrenbetäubendes Stimmengewirr, das uns davon überzeugt, dass wir uns, über den Tinnitus hinweg, für die Sicherheit entscheiden sollten. Was wir für gewöhnlich nur selten vernehmen – weil wir der Stille vorsorglich aus dem Weg gehen – ist aber die innere Stimme. Diese eigene Stimme redet sich Fusseln an den Mund, um uns davon zu überzeugen, den eigenen Traum zu leben und der Begeisterung zu folgen. Die Fusseln am Mund der inneren Stimme landen jedoch als Haar in der Suppe, die wir uns gar nicht erst einbrocken. Den eigenen Traum zu leben erfordert lebenslanges Wachstum und Anstrengung. Der Weg ist steil und schwierig. Wir müssen konstant an uns arbeiten, um durchzuhalten, nicht aufzugeben, uns nicht verunsichern zu lassen, Durststrecken auszuhalten. Träume verwirklichen sich nicht von alleine. Der Traum führt ins Glück – wenn man den riskanten Steilhang übersteht, der dort hin führt. Lebe deinen Traum, dann kannst du dich über Blasen an den Füßen, Sonnenbrand auf der Nase, Schweiß auf der Stirn, Tränen in den Augen und eine streckenweise volle Schnauze freuen. Es kann sogar sein, dass du zeitweise ein wenig streng riechst und deine Stubenreinheit zu wünschen übrig lässt. Und dann hagelt es auch noch Kritik, denn Steilhänge sind nicht opportun in einer Zeit, in der gepflegte Fingernägel wichtiger sind als strahlende Augen, und korrigierte Nasen höher im Kurs stehen als überschäumende Lebensfreude. Die hörbaren Stimmen erklären uns, dass Bequemlichkeit wichtig ist. Anstrengungen sollten wir nur trendig gestylt im Sport ausleben, um dem Schlankheitswahn zu genügen. Sport ist gesund – wenn man geflissentlich die Tatsache überhört, dass 70 % der chronischen körperlichen Schäden am Bewegungsapparat darauf zurück zu führen sind, dass man oder frau mal wieder schneller war als die Weisheit. Wenn wir also nicht gerade Joggen, ziehen wir die Promenadenstraße dem Steilhang vor, und wer das nicht tut, ist selber schuld. So lebt man glücklich – naja, sagen wir zufrieden – weil ja alles in Ordnung ist und als Belohnung die Rente winkt. Hauptsache, wir freuen uns darüber, dass wir die vernünftige Wahl getroffen haben … . solange bis irgend etwas passiert, was nicht eingeplant war. Der Bruch in der Lebensgeschichte trifft jeden, der der Meinung war, das Leben sei ein ruhiger Fluss. Der ruhigste Fluss wird von Wasserfällen und Stromschnellen durchzogen, und so geht plötzlich die Frau mit dem besten Freund ins Bett, die Tochter landet wegen Alkoholvergiftung im Krankenhaus, eine Krebserkrankung bricht aus, der Sohn erleidet einen anaphylaktischen Schock, weil er plötzlich auf Erdbeeren allergisch reagiert, die Betablocker halten den Blutdruck nicht mehr unter Kontrolle, Panikzustände machen sich breit, oder eine Finanzkrise walzt unsere Altersvorsorge in den Gulli.

Rechts Abbiegen:

Noch schlimmer ist es allerdings, wenn all dies nicht passiert. Wenn dem Esel zu wohl wird, langweilt er sich nämlich tödlich und geht aufs Eis. Ein Drogenkick kann der unerträglichen Langeweile Einhalt gebieten und als Mutprobe gehandelt werden. Auch der, dem der Stress zu groß wird, biegt unter Umständen „rechts ab“, in die Sucht. Egal ob stofflich oder nichtstofflich, unser Verstand, symbolisiert durch den Reiter, wird zum Schweigen gebracht. Wir stopfen uns das Maul mit Zigaretten, Alkohol, Tabletten, benebeln uns mit Fernsehen, lassen an uns herumschnitzen, vertreiben die Zeit mit Glücksspielen oder Konsum, bis uns der Gaul durchgeht und wir hilflose Opfer unserer Triebe und Fixierungen werden. Dabei wird gerne übersehen, dass es völlig gesund und normal ist, mit Stress auf den Sicherheitswahn zu reagieren, den wir uns hier aus Bequemlichkeit in die Nase stopfen. Es ist ja nicht so, dass nur Mutter Erde in Gefahr ist. Wir leben in einer geistig-seelisch völlig orientierungslosen Welt, die weit davon entfernt ist, uns ein artgerechtes Leben zu gewährleisten. Wir halten völlig kranke Dinge für normal. Wer darauf nicht mit Stress reagiert, der hat entweder eine ernst zu nehmende Wahrnehmungsstörung oder nicht alle Tassen im Schrank – was wiederum völlig normal ist. Aber wie gesagt, anstatt uns als gesund zu erleben, wenn wir Symptome entwickeln, und diese als völlig angemessene Reaktion auf eine Schieflage im Leben zu betrachten, schalten wir die Alarmanlage ab und tun so, als wären keine Einbrecher um Haus. Ungeheurer viele Menschen unserer Gesellschaft wollen vor allem eines: in Ruhe fernsehen. Alles andere ist ärgerlich unbequem.

Mutig vorwärts:

2009-02-Scheideweg4Unbequem zu werden bedeutet geradeaus zu reiten und samt Gaul zu sterben. Klingt das wie eine sinnvolle Alternative? Wenn man annimmt, dass Heilung immer einen zerstörerischen Aspekt in sich trägt, dann ja. Das Neue kann bekanntlich nur geboren werden, wenn das Alte stirbt. Aus einem Asbest verseuchten Gebäude wird niemand ein ökologisches Energiesparhaus machen, ohne die alten Mauern einzureißen und zu entsorgen. Wer bereit ist, sich der Wahrheit zu stellen, muss mit Erschütterung rechnen. Nach jahrelangem Illusionieren, Bagatellisieren, Rationalisieren und Maul stopfen, werden Erkenntnisse über die eigene Wahrheit durchaus manchmal als traumatisch erlebt – etwas was viele Psychotherapeuten zu verhindern suchen. Trauma ist automatisch schlecht, sagen sie. Der Patient darf sich nicht erschrecken, er hat‘s eh so schwer … Ich behaupte, dass jeder Mensch das Recht hat, mit seiner eigenen Wahrheit konfrontiert zu werden, und dass absolut jeder Mensch auch in der Lage ist, seine eigene Realität zu ertragen und zu bewältigen – vorausgesetzt er stellt sich nicht übermäßig quer. Je später im Leben mit der Realitätsprüfung begonnen wird, umso anstrengender mag das werden. Die scheinbar „heile Welt“, die so krank gemacht hat, leistet oft den größten Beitrag, indem sie zusammenbricht.
Aber auch wenn Traumata unangenehm sind, sie bringen uns nicht um, wenn wir das nicht wollen. Wieso heißt es dann, wir müssen sterben, wenn wir geradeaus marschieren? Vor allem das arme Pferd?

Nun, zunächst mal: wer sagt denn, dass Sterben schlimm ist? Wer sagt denn, dass der, der stirbt „arm“ ist? In den Prozessen, die ich begleitet habe, schien das Sterben selber das geringste aller Probleme zu sein. Der Weg dorthin war das Problem. Manchmal erschien es mir, als wäre der Sterbeprozess als solcher ein groß angelegtes Nachsitzen für die, die sich während des Lebens weigerten, ihre Hausaufgaben zu machen. Für manchen schien es einfacher zu sein, zu sterben, als eine Trennung zu vollziehen, erwachsen zu werden oder sich zu emanzipieren. Andere schienen die Hinterbliebenen mit ihrem Ableben bestrafen zu wollen, wieder andere wollten und konnten ihre Sehnsucht nach bereits Verstorbenen nicht überwinden (so als wären die paar Jahrzehnte, bis man sich wieder sieht, ein Drama vor dem Hintergrund der Ewigkeit:-)) und folgten schnurstracks durch den Vorhang. Für eine Patientin war das größte Problem, dass sie nicht wußte, wer sie drüben abholte, und dass sie unendliche Langeweile erwartete. Kaum betrachtete sie die Dinge aus einer anderen Perspektive, ließ sie ihr Umfeld erkennen, wie erleichtert sie war, dieses Leben endlich verlassen zu dürfen. Sterben bedeutet nur, in einen anderen Zustand zu gehen und das bisher gewesene zu beenden. Nicht mehr und nicht weniger.

Wozu dann die Todesangst? Handelt es sich dabei etwa nur um die Angst vor der Veränderung? Wir alle haben Tabu-Bereiche, die unser Erleben einschränken, verbotene Zonen, die mit Minenfeldern unserer Ängste eingezäunt sind, die wir nicht zu durchdringen wagen. Wächter dieser Minenfelder sind die Götter unserer Kindheit: unsere Eltern. Liebesverlust der Eltern-Götter war für uns alle schlimmer als der Tod. Die Angst vor diesem Verlust ist tief in unser Unterbewusstsein eingegraben. Wenn die Elterngötter nicht mehr lieben, geht nicht die Welt unter, denn dann würden wir ja nur sterben – nein, es geht die Sonne aus, das Wasser vertrocknet, die Blumen verblühen, die Welt ist nichts als ein öder Platz und alles ist doof. Biene doof, Blume doof, Freunde doof … wir alle kennen das traurige Schaf, das uns ein deutliches Bild über unsere Befindlichkeit gibt, wenn die Elterngötter aufhören uns zu lieben. Und das tun sie immer dann, wenn wir etwas tun, was nicht opportun ist – denn sie sind nun mal keine Götter, die bedingungslos lieben können, sondern nur Menschen, die wir als Kleine mit Göttern verwechseln. Wenn das Kleine groß wird und die Entwicklung zum Lehrlingsgott antritt, wird die Abhängigkeit von der elterlichen Liebe Stück für Stück überwunden. Mit jedem Schritt der Überwindung stirbt vor allem die Sehnsucht danach, dass das Defizit der Kindheit aufgefüllt werden möge. Fehlt diese Entwicklung, bleibt das Individuum abhängig von der Liebe der Elterngötter, intern dem Eltern-Ich. War man den internalisierten Eltern ungehorsam, oder waren die Eltern sogar lieblose Menschen, folgt das Missempfinden – eine Art Liebeskummer, das schlimmer ist als der Tod und das Leben in eine lebensfeindliche Hölle verwandelt. Wie ein Nichttoter, ein Zombie, wandelt der nicht geliebte Mensch durch die sich endlos dehnende Zeit. Wer nicht bereit ist, dieses Missempfinden durchzustehen und es als Emanzipationsschritt anzusehen, sehnt sich unter Umständen zurück in den Urbauch der Erdenmutter, nach dem Tod. Den Ort wo alles Leben, das sich nicht entwickeln und individualisieren wollte hin zurück kehren darf. Dort ist Ruhe, Geborgenheit und Nichttun. Jeder „rechts abgebogene“ Süchtige versucht diesen Zustand im Rausch zu finden, während die „links Abgebogenen“ es den inneren oder äußeren Eltern recht machen, um deren Liebe nicht zu verlieren.

Der, der mit erhobenem Haupt seinen ureigenen Weg geradeaus geht, lässt sein Kindsein zurück, lässt die Kindheit und die damit verbundene Abhängigkeit sterben, und betritt das unbekannte Universum der neu erworbenen Reife. Das Leiden ist vor diesem Hintergrund nur das trotzige Festhalten am Kind-Zustand – so als würde man auf die Schuhe bestehen, die schon längst 5 Nummern zu klein sind. Vielleicht wird so ein Grundsatz verständlich, der schon von unzähligen Philosophen und Weisen der Weltgeschichte zitiert wurde: wer leben will, muss sterben lernen.

Tina Wiegand

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