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Psychotherapie
Lesezeit: 8 Minuten

Schulverweigerung: Ein fast alltägliches Problem

2015-01-Schul1Viele Eltern kennen das: Morgens beim Wecken springen manche Kinder aus dem Bett, freuen sich auf den Tag und nerven bereits am frühen Morgen ihre Eltern mit Singen, Hopsen und einem Übermaß an guter Laune.

Es gibt aber auch die anderen Kinder: Drei-, vier-, fünfmal wecken ist keine Seltenheit. Immer wieder verkriechen sie sich unter die Decke und wollen um keinen Preis der Welt ihr warmes Nest, ihre Höhle, verlassen. Oftmals beklagen sie sich über Kopfweh und Bauchschmerzen oder gar Fieber. Das sind die sogenannten Bauchweh-Kopfweh-Kinder.

Auch wenn ein späterer Arztbesuch kein Ergebnis bringt, denn körperliche Ursachen liegen meist nicht vor, so spüren diese Kinder dennoch diese Schmerzen, messbares Fieber, Übelkeit und Erbrechen sind real. Nur allzu leicht macht man ihnen den Vorwurf der Schulverweigerung und des Schwänzens.

Die Eltern stehen diesem Phänomen meist hilflos gegenüber und jeder Tag beginnt mit einem schier aussichtslosen Kampf. Kommt jedoch das Wochenende oder stehen Ferien an, sind alle Leiden wie weggeblasen.

Es wäre zu einfach und zu leichtfertig, hier Faulheit, Bequemlichkeit oder Leistungsverweigerung zu unterstellen. In manchen Fällen mag es stimmen, es kann aber auch einen ernsten Hintergrund haben.

Ein möglicher Grund kann z.B. ein zu hoher Leistungsdruck sein, dem das Kind ausgesetzt ist. Nur allzu oft legen Eltern ihren Ehrgeiz in wohlmeinender Absicht in ihr Kind, das es einmal besser haben und einen möglichst guten Abschluss erreichen soll. Sie überfordern damit aber womöglich das Kind und treiben es so in diese Verweigerungshaltung. Das Kind lernt als Bewältigungsstrategie, sich durch Verweigerung und Vermeidung einer sicher geglaubten Frustrationserfahrung enthalten zu können. Kurzfristig eine scheinbar erfolgreiche Strategie, denn jede vermiedene schlechte Note ist ja erstmal eine schlechte Erfahrung weniger.

Die Schule als Lebensort kann jedoch auch für gute Schüler kein Paradies oder ein zumindest neutraler Erfahrungsbereich sein, sondern regelrecht zur Hölle werden – nämlich dann, wenn der oder die Teufel in Gestalt der Mitschülerinnen und Mitschüler da sind. Das Stichwort Mobbing kursiert derzeit so oft wie nie zuvor.

Insbesondere sogenannte Orchideen-Kinder mit einer sehr niedrigen Stresstoleranz und hoher Sensibilität leiden bereits unter dem, was andere als Spaß oder Neckerei sehen. Andere Kinder, z.B. die sogenannten Löwenzahn- Kinder, also Kinder mit hoher Widerstandskraft und stark ausgeprägtem Selbstbewusstsein, stecken so etwas ganz leicht weg. Wird also für die Orchideen-Kinder bereits die bloße Anwesenheit in der Schule zur Qual, kommt der Leistungsabfall unweigerlich hinzu und sie geraten in einen Teufelskreis.

Ein dritter Punkt der allgemeinen Überforderung kann der Fall der Parentifizierung sein. In vielen Familien, insbesondere bei Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, übernimmt der oder die Älteste oft Elternaufgaben, da der alleinerziehende Elternteil entweder berufstätig und/oder mit der Situation alleine überfordert ist. Diese doppelt belasteten Kinder kommen morgens in die Schule – manchmal zu spät, weil sie erst noch ihre Geschwister zu versorgen hatten – und können sich nicht entschuldigen, weil sie die häuslichen Verhältnisse nicht preisgeben möchten.

Diese Doppelbelastung halten Kinder und Heranwachsende auf Dauer nicht aus. Und wenn Lehrer und Schulleitung nicht informiert sind, reagieren sie oft falsch: mit Strafmaßnahmen. Sie treiben diese Kinder noch weiter in den Rückzug und die Isolation.

Eine weitere Gruppe von Kindern sind solche mit frühen Anpassungs- und Einfügungsschwierigkeiten, was sich oft schon bereits im Kindergartenalter zeigt. Hier kann es sich unter Umständen um eine Entwicklungsverzögerung handeln. Wenn dieser Verzögerung nicht mit kompensatorischen Fördermaßnahmen gegengesteuert wird, hat das Kind oder der Heranwachsende eine schlechtere Sozialprognose – in vielen Fällen steht sogar Drogenkonsum oder gar Kriminalität am Ende der Entwicklung. Kolleginnen und Kollegen, die wie ich bereits in der ehrenamtlichen Bewährungshilfe tätig waren, werden dies bestätigen. Die meisten der jugendlichen Straftäter waren bereits in ihrer Kindheit, Schulzeit und über die Pubertät hinaus auffällig.

Nun kommen wir zu einer weiteren Gruppe von Schulverweigerern: Kinder und Jugendliche, die im Verlauf der Pubertät ihre Orientierung verlieren, auf die schiefe Bahn geraten, aus welchen Gründen auch immer, und dadurch sozial verwahrlosen. Dies kann sowohl die äußere Verwahrlosung sein, bei der die Heranwachsenden z.B. auf der Straße leben, oder auch die Wohlstandsverwahrlosung derer aus „gutem“ oder reichem Elternhaus.

In einem Fall in meiner Praxis geht es um ein junges Mädchen, das mit Erlaubnis der Eltern in eine andere Stadt ziehen durfte, weil es zu Hause nur noch Stress und Streit gab. Ihre Eltern finanzieren die Wohnung und das Mädchen kann den Tag gestalten, wie es ihr gerade gefällt. Es gibt keine Grenzen, keine Kontrolle, keine Struktur. Der Verdacht auf eine Borderline-Störung oder PTBS liegt nahe, aber jedes Mal, wenn wir uns dem möglichen Kern eines Problems nähern, verschließt sie sich, bricht die Sitzung ab und lässt einige der Folgesitzungen ausfallen. Auch hier wird die Schule, die einen festen Stunden- und Arbeitsplan vorlegt, als Belastung und Überforderung empfunden.

Eine letzte Gruppe sind Schülerinnen und Schüler mit einer Schulphobie. Schulphobie lässt sich in die Gruppe der Angststörung und -erkrankung einordnen. Äußerliche Anzeichen sind u.a. große Zurückhaltung, steigende Isolierung durch häufige Krankheit und dadurch Leistungsrückstand, was wiederum das Selbstwertgefühl der Betroffenen vermindert, weshalb sie sich gegenüber anderen wenig behaupten oder durchsetzen können. Sie werden zu Außenseitern, da die Mitschüler bei Gruppen- oder Partnerarbeiten glauben, wenig von ihnen erwarten zu dürfen. Somit geraten sie in einen Teufelskreis. Kommt dann noch Schulversagen im Sinne von Sitzenbleiben hinzu oder gar ein Wechsel in einen niedrigeren Schulzweig, wird auch dies noch als soziale Abstufung empfunden – so zumindest meine Erfahrung aus mehr als 40-jähriger Tätigkeit als Lehrer.

Auch zuhause setzen die Betroffenen ihr Verhalten fort, sie ziehen sich in ihr Zimmer zurück, erscheinen manchmal nur noch zu den Mahlzeiten am gemeinsamen Tisch und bauen sich in ihrer „Höhle“, in ihrer Komfortzone, eine Traumwelt auf, in der sie Sicherheit, Orientierung und Kontrolle finden. Oft hilft der PC auf der Flucht in eine virtuelle Welt.

Manchmal ist die Ursache eine Sozialphobie oder eine Trennungsangst. Manche der Betroffenen wurden in ihrer frühen Kindheit traumatisiert durch Abwesenheit der Mutter, Vernachlässigung oder Missbrauch. Oder sie leiden vielleicht unter einer Entwicklungs- und Reifeverzögerung in der Form, dass sie ihre Kindheit nicht verlassen möchten und sich weigern, erwachsen zu werden. Dies kann ebenfalls durch eine Vernachlässigung in der frühen Kindheit hervorgerufen werden, durch Trennungserfahrung der Eltern oder ein Übermaß an Fürsorge durch die Eltern. Dies käme ebenfalls einem Missbrauch gleich, denn die Kinder werden bewusst abhängig gehalten – zum Wohl der Pflegeperson. Nicht die Kinder brauchen die Pflegeperson, sondern die Pflegeperson braucht und missbraucht die Kinder zu ihrem individuellen Wohlergehen. Das Kind wird zum Objekt und Instrument der Bedürfnisbefriedigung reduziert.

Bei allem Verständnis für die möglichen Gründe einer Schulverweigerung eines Kindes muss jedoch beachtet werden, dass bei einem Übermaß an Nachgeben und falschem Verständnis eine Chronifizierung eintreten kann, sowohl was die Verweigerung des Unterrichtsbesuchs betrifft als auch das Auftreten von Krankheiten. Fühlen sich die Betroffenen in ihren Höhlen, Komfortzonen und virtuellen Welten erst einmal sicher, ist es schwer und langwierig, ihr Verhalten zu ändern.

Wenn Überredungs- und Überzeugungsversuche nicht helfen und die Schulleitung sich an das Jugendamt oder die Polizei wendet, kann der Prozess zu einem Familiendrama eskalieren.

In einem mir bekannten Fall ging es sogar so weit, dass sich die Eltern in ihrer Hilflosigkeit an das Familiengericht wandten und eine Einweisung ihres Sohnes in eine psychiatrische Klinik erreichten. Diese Zwangseinweisung erfolgte zunächst über sechs Wochen und wurde dann auf Antrag der Eltern noch einmal um sechs Wochen verlängert. Die Therapie in der Klinik (kognitive Verhaltenstherapie) verlief in dem Sinne erfolgreich, dass ihr Sohn nun wieder regelmäßig die Schule besucht und recht befriedigende Leistungen zeigt.

In einem Fall aus meiner Praxis ließ sich auch eine Angststörung vermuten, die ich durch Aufstellen einer Angsthierarchie und einer sich schrittweise steigernden Konfrontationstherapie behandelte.

Am Ende stellte der Jugendliche die Forderung, dass ich ihn wie bei den vorangegangenen Therapieschritten auch zur Schule begleiten sollte. Es war eine schwierige Entscheidung für mich, da ich mich in dieser Situation in sein Privatleben einmischte und die therapeutische Distanz sehr stark verringern würde. Zwei Kollegen rieten mir nachdrücklich ab, wobei ein Argument das der „Allmacht des Therapeuten“ war, der möglicherweise den Klienten in Abhängigkeit bringen würde. Schließlich soll der Therapeut eher die Funktion eines Wegweisers, Beraters, im besten Fall eines Begleiters übernehmen, nicht aber die Aufgabe eines Betreuers oder gar eines Vormundes. Er hätte ebenso gut fordern können, dass ich ihn in den Klassensaal oder gar den Unterricht hätte begleiten sollen.

Trotz aller Bedenken entschloss ich mich, diesen Schritt zu unternehmen und definierte die Maßnahme als Instrument eines Coachings, was ich so auch versuchte, (mit wenig Erfolg) dem Klienten zu vermitteln. Doch ich zog eine Grenze: Ich brachte ihn zwar mit dem Auto zur Schule, setzte ihn aber vor der Schule ab und wartete auf dem Schulparkplatz bis zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn.

Die Maßnahme gab mir Recht: Die Zeit verstrich und ich konnte alleine zurückfahren. Der Junge rief mich am Nachmittag an und berichtete stolz, dass er trotz einigem Verlangen, die Schule verlassen zu wollen, ausgehalten habe. Er wollte mir am nächsten Morgen mitteilen, ob ich ihn wieder zur Schule bringen solle. Er rief an, ich holte ihn ab, sagte ihm aber, dass ich dieses Mal nicht warten werde, womit er auch einverstanden war. Am Nachmittag rief er an, um zu berichten und mir mitzuteilen, dass er es am nächsten Tag alleine versuchen wolle.

Es folgten noch 12 Sitzungen, die ersten fünf wöchentlich, die restlichen nach Vereinbarung. So, wie es im Augenblick aussieht, ist die Versetzung zu den Sommerferien nicht mehr gefährdet.

Rückblickend ist klar, dass es eine Gratwanderung war: Es hätte auch anders ausgehen können. Das Schicksal des Jungen im erstgeschilderten Fall aber wollte ich meinem Klienten ersparen, denn eine Zwangseinweisung ist in jedem Fall eine belastende Erfahrung für beide, Eltern und Kind, und sollte immer das letzte Mittel der Wahl sein.

Walter Lenz Walter Lenz
Heilpraktiker für Psychotherapie

praxis@walterlenzruesselsheim.de

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