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Naturheilkunde
Lesezeit: 10 Minuten

Kampf der Fatigue

Vitamin B12 bei Multipler Sklerose (MS)

© Eléonore H - Fotolia.comDie Multiple Sklerose, auch bekannt als die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“, kann mit einer Vielzahl von Symptomen einhergehen. Eines der häufigsten und auch für den Patienten unangenehmsten ist die Erschöpfung oder Fatigue.

Die Multiple Sklerose ist die häufigste Ursache einer Behinderung im jungen Erwachsenenalter, die nicht-traumatischer Genese ist. [13, S. 33] Diese chronische Entzündung des zentralen Nervensystems, deren Ursache bis heute noch immer nicht bekannt ist, verläuft zu Beginn meist schubförmig, kann aber im späteren Verlauf eine chronische Progredienz entwickeln. Die Entzündungen führen zu Schäden an der Myelinschicht, die die Nerven umgibt, sie können aber auch einen direkten Verlust an Nervengewebe zur Folge haben. Dies geht mit den unterschiedlichsten Symptomen wie Seh- und Sensibilitätsstörungen oder motorischen Beeinträchtigungen einher. [2] Eines der möglichen Symptome ist die Erschöpfung, auch als Fatigue bezeichnet. Nahezu 80 % aller MS-Betroffenen leiden darunter. [1] Viele fühlen sich in ihrem privaten und beruflichen Alltag stark eingeschränkt, manchmal stärker als durch die direkten körperlichen Handicaps. Trotz der Häufigkeit und der Auswirkungen, die dieses Symptom auf das Leben der Betroffenen hat, wird ihm in der Praxis noch zu wenig Beachtung geschenkt.

Ein Symptom: Die Fatigue

Jeder Mensch wird müde. Das ist auch notwendig, denn Körper und Geist brauchen Auszeiten, um die Energiereserven wieder aufzufüllen und die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten. Das ist normal und muss so sein. Doch von Multipler Sklerose Betroffene machen im Verlauf ihrer Erkrankung oft Bekanntschaft mit einer ganz anderen Art der Müdigkeit, jenseits der Normalität. Wer nicht an MS leidet, kann sich oft nicht vorstellen, dass die Fatigue eines der unangenehmsten Symptome dieser Krankheit ist. [12] Sie lässt, selbst bei sonst geringer körperlicher Behinderung, das gewohnte Leben Geschichte werden. Dabei ist Erschöpfung aber nicht gleich Erschöpfung.

Müdigkeit der Muskeln

Durch die Demyelinisierung und die dadurch gestörte Weiterleitung der Nervenimpulse können Muskeln ihre alte Stärke verlieren. Bei größerer oder längerer Beanspruchung beginnen sie immer mehr zu schwächeln. Gönnt man ihnen Ruhe, erholen sie sich wieder und finden, zumindest zeitweise, wieder zu ihrer Ausgangsleistung zurück. Die Muskelschwäche aber verleitet natürlich zu Inaktivität. Diese aber bedingt einen weiteren Abbau der Muskelmasse und der Kondition. Fehlt aber Kondition, ermüdet der Körper wiederum schneller. Der Teufelskreis ist perfekt. [12]

Depressionen

Die Erschöpfung kann aber auch genauso gut ein Zeichen eines depressiven Geschehens sein. Allgemeine Niedergeschlagenheit und Schlafstörungen sind bei MS keine Seltenheit. [12]

Trägheit

Die häufigste Form der Fatigue ist die Trägheit. Sie ist die vielleicht am schwersten zu ertragende Variante der Erschöpfung, da sie, selbst bei sonst geringer körperlicher Beeinträchtigung den Betroffenen, wie ein ständig erhobener Zeigefinger an seine Erkrankung erinnert – vor allem daran, dass sein Leben nicht mehr sein gewohntes ist. Die Trägheit ist verbunden mit einer überwältigenden Schläfrigkeit, die zu jeder Tageszeit, oft ohne Vorwarnung, auftreten kann. [12] Sie ist es auch, eher noch als die muskuläre Schwäche oder andere Symptome, die die Betroffenen aus dem normalen Alltag und dem Arbeitsalltag drängt. Nicht gerade ein Segen für das eigene Selbstwertgefühl, vor allem dann, wenn die Umwelt noch mit Unverständnis reagiert. Meist steht die Fatigue in keiner Relation zu dem, was der Betroffene vorher geleistet hat. [1] So können sich Schuldgefühle einstellen. Man selbst wirft sich fehlende Motivation und Willensschwäche vor, von der Umwelt wird man oft genug für faul gehalten. Viele MSPatienten sind dabei auch wenig nachsichtig mit sich selbst. Eine hohe Priorität in ihrem Leben hat vielfach die Erfüllung der eigenen oder der an sie gestellten Ansprüche. [5, S. 388; 14, S. 43] „Man muss sich nur am Riemen reißen …“ – doch der Versuch, die Müdigkeit einfach zu ignorieren, schlägt fehl.

Die gängige Behandlung

Je nach ihrem Ursprung existieren die unterschiedlichsten Behandlungsansätze der Fatigue. Etwa regelmäßige, auf die Leistungsfähigkeit abgestimmte Bewegung zur Verbesserung der muskulären Ausdauer. Ein gutes Energiemanagement, eine strukturierte, nicht überlastende Lebensführung sowie eine ausgewogene Ernährung, um nur einige Möglichkeiten zu nennen, können die Fatigue lindern. [1, 12] Doch oft wird auch in die pharmazeutische Trickkiste gegriffen. Gerade bei ausgeprägter Trägheit kommen z.B. Antidepressiva wie Fluoxetin oder Paroxetin, aber auch das Narkolepsiemittel Modafinil oder in sehr schweren Fällen sogar Amphetamine wie Methylphenidat zum Einsatz. [12, S. 36]

Doch müssen diese schweren Geschütze nicht immer sein. Manchmal fehlt dem Körper einfach nur eine kleine Zutat, die Linderung bringen kann. Ein kleines Vitamin des B-Komplexes, dem meist nur wenig Beachtung geschenkt wird: Vitamin B12.

Vitamin B12

© Petr Ciz - Fotolia.comAuch wenn wir das Vitamin B12 in nur relativ kleinen Mengen brauchen (täglicher Bedarf rund 4 μg [4, S. 32]), ist es als Coenzym für viele biochemische Prozesse in unserem Körper wichtig und somit für uns Menschen wie auch für alle anderen höheren Tiere lebensnotwendig. Gerade Gewebe mit einer hohen Teilungsrate, wie z. B. Schleimhäute und Nervengewebe sowie das Knochenmark, haben einen hohen Bedarf an Vitamin B12. [4] Auch ist es notwendig, um eine gesunde Myelinschicht zu bilden bzw. zu erhalten. [7] Fehlt das Vitamin, nimmt die Myelinschicht mit der Zeit Schaden. Für Menschen, die von Multipler Sklerose betroffen sind, ist dies natürlich fatal. Die bereits durch die MS bedrohten Nerven bekommen einen weiteren Gegner – den Vitamin B12-Mangel. [4]

Einfluss von Vitamin B12

  • Energiegewinnung in den Zellen
  • Körperliche Leistungskraft und Ausdauer
  • Konzentrationsvermögen
  • Bildung von Blutkörperchen und -plättchen
  • Bildung und Regeneration der Myelinummantelung der Nervenfasern
  • Funktion des Nervensystems
  • Bildung von Neurotransmittern
  • Zellentgiftung
  • u.v.m. [4, S. 24]

Nur Mikroorganismen können Vitamin B12 bilden, Pflanzen und Tiere sind dazu nicht in der Lage. Höhere Tiere aber, zu denen auch wir Menschen zählen, haben im Laufe ihrer Evolution die verschiedensten Mechanismen entwickelt, um an die von ihnen benötigte Menge zu kommen. Wiederkäuer etwa produzieren Coenzym B12 mithilfe von Bakterien in ihrem Verdauungstrakt und nehmen es beim Wiederkäuen auf, Fleischfresser decken ihren Bedarf durch die Innereien ihrer Beutetiere. Besonders die Leber, in der bis zu einem Drittel des körpereigenen Vitamins B12 gespeichert ist, und der Verdauungstrakt sind dabei gute Lieferanten. Der Mensch ist ebenfalls auf die Zufuhr über die Nahrung angewiesen. Wir bilden zwar im Dickdarm, unterstützt von Bakterien, selbst Vitamin B12, können es aber zu diesem späten Zeitpunkt der Verdauung nicht mehr für uns selbst nutzen. [4, S. 25 ff]

Da das Cobalaminmolekül, welches das Coenzym B12 bildet, recht groß ist, ist der Mensch bei der Bereitstellung für den Körper auf die Mitarbeit des sogenannten Intrinsischen Faktors (IF) angewiesen, der von der Magenschleimhaut ausgeschüttet wird, sowie auf eine gute Rezeptordichte für den B12-IFKomplex im Krummdarm. Mangelt es auch nur an einem von beidem, kann nicht genügend Vitamin B12 aufgenommen werden. Hat es das Molekül bis ins Blut geschafft, heißt das aber noch lange nicht, dass es auch von den Zellen entsprechend resorbiert wird. Es existieren z.B. Analoga, die zwar die entsprechenden Rezeptoren an den Zellen besetzen, letztlich aber biochemisch unwirksam bleiben – ein zellulärer Vitamin B12-Mangel ist die Folge. [4, S. 16] Der triviale Auslöser eines Coenzym B12- Mangels aber ist sicherlich die ungenügende Zufuhr, z.B. durch unzureichende oder rein vegane Ernährung ohne ausreichende Substitution. [4]

Mögliche Symptome eines Vitamin B12-Mangels

  • Muskelschwäche, körperliche Schwäche
  • Dauernde Müdigkeit, schnelle Erschöpfung
  • Antriebsschwäche
  • Kurzatmigkeit
  • Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Nachlassen der geistigen Fähigkeiten
  • Niedergeschlagenheit
  • Missempfindungen, Taubheitsgefühl
  • Muskelzittern, schleppender Gang
  • Nervenschäden am Sehnerv
  • Störungen der Feinmotorik, spastische Störungen
  • u.v.m. [4, S. 100 f]

Ob ein Vitamin B12-Mangel vorliegt, kann durch unterschiedliche Testverfahren ermittelt werden. Die Bestimmung über das Blutserum gehört dabei zum Standard der Labormedizin. Etwas seltener sind dagegen der HoloTC-Test oder die Bestimmung des Methylmalonsäure- Spiegels (MMA-Test). Sehr aufschlussreich, aber leider mit einer nicht unerheblichen Strahlenbelastung verbunden, ist der Schillingtest. Durch ihn kann zwischen einer schlechten zellulären Aufnahme und einem Mangel an Intrinsichem Faktor gut differenziert werden. Die Untersuchung des Blutbildes hilft beim Ausschluss einer perniziösen Anämie. [4] Manchmal kann bereits eine Umstellung der Ernährung den Vitamin B12-Spiegel verbessern. Leber, Fisch und Fleisch haben einen hohen Vitamin B12-Gehalt. [4] In manchen Fällen aber kann auch eine ausgewogene Ernährung nicht die Notwendigkeit der Substitution des Vitamins verhindern. Ist der Intrinsische Faktor in ausreichender Menge vorhanden und funktionstüchtig, kann eine orale Gabe von Vitamin B12 erfolgen, etwa als Tablette oder Tropfen. Ist die Aufnahme aber gestört, ist die Zuführung via Injektion angebracht. [4, S. 67 ff]

Vitamin B12 und Multiple Sklerose

Dass ein Zusammenhang zwischen Multipler Sklerose und Coenzym B12 besteht, ist seit Langem bekannt. Bereits in den 1990er Jahren wurde in mehreren Studien, wie etwa von Sandyk und Awerbuch [11] oder Kira et al. [3], gezeigt, dass Multiple Sklerose häufig mit einem verminderten oder sogar extrem erniedrigten Vitamin B12-Spiegel einhergeht. Neuere Arbeiten wie z.B. von Miller et al. [7], Kocer et al. [6] oder Reynolds [9] nehmen diese Aspekte heute wieder auf, doch schlagen sich ihre Erkenntnisse bisher noch immer kaum in der Diagnostik bzw. Behandlung MS-Betroffener nieder. Andere Mikronährstoffe wie z.B. das Vitamin D (vgl. z.B. Runia et al. [10], Munger et al. [8]) haben das Vitamin B12 aus der Diskussion nahezu verdrängt.

Fazit

Vergleicht man die möglichen Symptome eines Vitamin B12-Mangels mit denen, die häufig bei der Multiplen Sklerose zu finden sind, lassen sich viele Parallelen erkennen. Vor allem aber die Aspekte Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebsschwäche, eben die Kennzeichen einer Fatigue, erscheinen besonders relevant, auch in Hinblick auf den beobachteten verminderten Vitamin B12-Spiegel vieler MS-Betroffener. Gerade vor diesem Hintergrund ist es nur schwer nachvollziehbar, dass die regelmäßige Kontrolle des Vitamin B12-Spiegels nicht längst zum Standardrepertoire bei der labordiagnostischen Betreuung von MS-Patienten gehört.

Sicherlich ist Vitamin B12 kein Allheilmittel, und auf keinen Fall kann es eine gezielte MS-Therapie ersetzen. Skeptisch mag man auch durchaus bezüglich eines direkten Einflusses des Coenzyms B12 auf die MS an sich sein, bezogen aber auf das Symptom Fatigue kann ein ausgeglichener Vitamin B12-Spiegel über das Wohl und Weh eines Patienten entscheiden. Ein kleines kostengünstiges Vitamin, das letztlich dazu beitragen kann, die körperliche und geistige Fitness der Betroffenen zu erhalten bzw. zu verbessern und ihnen eine rege und aktive Teilnahme am alltäglichen Leben (wieder) zu ermöglichen.

Dr. phil. Bettina Jungkunz Dr. phil. Bettina Jungkunz
Heilpraktikerin für Psychotherapie

info@jungkunz.net

Literaturhinweise

[1] Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e. V., Fatigue Energie Manager, 2006, DMSG, Hannover

[2] J. Haas, J., Multiple Sklerose, 1 ed., 2009, Arcis, München

[3] J. Kira, S. Tobimatsu: Goto, Vitamin B12 metabolism and massive-dose methyl vitamin B12 therapy in japanese Patients with multiple sclerosis. Internal Medicine, 1994, 33(2), p. 82-86

[4] T. Klein: Volkskrankheit Vitamin B12- Mangel, 4 ed. 2013, Hygeia, Dresden

[5] R. Klußmann, M. Nickel: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 6 ed. 2009, Springer, Wien

[6] B. Kocer et al.: Serum vitamin B12, folate, and homocysteine levels and their association with clinical and electrophysiological parameters in multiple sclerosis. Journal of clinical Neuroscience, 2008, 16(3), p. 399-403

[7] A. Miller et al.: Vitamin B12, demyelination, remyelination and repair in multiple sclerosis, Journal of Neurological Sciences, 2005, 233(1-2), p. 93-97

[8] K. L. Munger, S. M. Zhang, E. O´Reilly: Vitamin D intake and incidence of multiple sclerosis, Neurology, 2004, 62(1), p. 60-65

[9] E. Reynolds: Vitamin B12, folic acid, and the nervous system. The Lancet Neurology, 2006, 5(11), p. 949-960

[10] T. F. Runia, W. C. J. Hop, Y. B. de Rijke: Lower serum vitamin D levels are associated with a higher relapse risk in multiple sclerosis. Neurology, 2012, 79(261), p. 261-266

[11] R. G. Sandyk, I. Awerbuch: Vitamin B12 and it´s Relationship to age of onset of multiple sclerosis. International Journal of Neuroscience, 1993. 71(1-4), p. 93-99

[12] R. T. Schapiro: Multiple Sklerose: Symptome aktiv lindern, 1 ed. 2004, Trias, Stuttgart

[13] R. M. Schmidt, F. A. Hoffmann: Multiple Sklerose, 4 ed. 2006, Elsevier, München

[14] B. Zaruba, S. Wierk: Dem Leben wiedergegeben, 4 ed. 2009, Herbig, München

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