Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis: Leider austherapiert!
Patientin
45-jährige ehemalige Hochleistungssportlerin
Erstgespräch
Die Patientin stellt sich in meiner Praxis vor und berichtet davon, dass sie vom 11. bis zum 15. Lebensjahr in der ehemaligen DDR dem Hochleistungskader (Schwimmsport) angehört hat. Sie leide deshalb an diversen Bandscheibenvorfällen und einer Fibromyalgie. In dieser Zeit wurden auch „Versuche“ an ihr vorgenommen. Diese seien mental, physisch und auch medikamentös durchgeführt worden. Im Einzelnen kann und möchte die Patientin keine Angaben machen. Wegen des Rückenleidens könne sie ihren erlernten Beruf als Krankenschwester nicht mehr ausüben. Sie spricht auch über mehrfachen sexuellen Missbrauch und dass sie schon mehrfach in einer psychiatrischen Klinik wegen schweren Depressionen und PTBS verbracht habe. Sie habe oft Gewalt erfahren, auch in der Klinik von Ärzten sowie Krankenschwestern und -pflegern. Als sie 30 Jahre alt war, hat sich ihre Mutter in der eigenen Wohnung suizidiert. Sie selbst sei im Nebenzimmer gewesen, aber die Notärztin, die den Tod festgestellt hat, hätte sie bezichtigt, die Mutter ermordet zu haben.
Sie habe schon mehrere Fehlgeburten hinter sich und eine Interruptio. Oft habe sie Panikattacken und sehe in ihrem Leben eine große Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Keiner wolle ihr mehr helfen. In eine Klinik möchte sie nicht mehr gehen, jetzt gehe sie zu Geistheilern. Sie erlebt einen sozialen Rückzug und bekommt nichts mehr geregelt. Die PTBS ist geprägt durch Nachhallerinnerungen, Flashbacks, das Gefühl, wie betäubt zu sein oder Teilnahmslosigkeit mit erhöhter Schreckhaftigkeit. Oft habe sie einen Kloß im Hals, zittere viel, ihr sei übel und sie erbreche häufig. Hinzu kommen Albträume, Kopfschmerzen und sie könne oft nicht reden.
Sozialanamnese
Sie ist Krankenschwester und hat einen 24-jährigen Bruder, zu dem sie keinen Kontakt hat; der Vater verstarb 50-jährig. Er wäre aber ganz nett gewesen und auch fürsorglich. Er hätte sie aber auch zweimal zusammengeschlagen. Die Patientin ist von ihrer Psychiaterin krankgeschrieben. Sie bekommt Hartz IV, will und kann aber nicht zu Ämtern.
Psychischer Befund
Eine akute Suizidalität ist nicht erkennbar. Sie hat auch keine formalen und inhaltlichen Denkstörungen. Sie wirkt allerdings latent suizidal aufgrund diverser Äußerungen wie „Ich kann nicht mehr, so geht es nicht mehr weiter, alles bricht über mir zusammen …“. Sie springt während des Gesprächs oft im Thema und ich muss oft eingreifen, um Struktur zu bekommen. Sie wirkt sehr theatralisch, besonders in ihrer Gestik und Mimik. Sie vermittelt allerdings auch einen hohen Leidensdruck und weist eine hohe Affektlabilität auf. Sie ist auf die vielen Traumata fixiert, schweift aus und vermittelt ein hohes egozentrisches Auftreten.
Diagnose
F43.1 Schwere Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
F60.4 Histrionische Persönlichkeitsstörung
Z.n. T74.2
Sexueller Missbrauch
DD: F60.31 Borderline Persönlichkeitsstörung
Weiterer Verlauf
Sie stellt klar, dass sie nicht mehr in ein Krankenhaus gehen wird. Sie agiert sehr stark. Ich versuche, sie von einem Krankenhausaufenthalt zu überzeugen, weil dies meines Erachtens medizinisch indiziert ist und ich keine vergleichbare therapeutische Betreuung leisten kann, eine ambulante Therapie oder auch Beratung sind nicht ausreichend. Durch die Besonderheit der Patientin, dass die Täter der Missbrauchserlebnisse das Klinikpersonal waren, ist womöglich ein Kliniksetting sehr schwierig, doch sollte eine Traumatherapie in einer entsprechenden Klinik professionell angeboten und durchgeführt werden.
Die Patientin verließ die Praxis ohne weiteren Kommentar. Ich habe danach ihre Psychiaterin angerufen (ich hatte schon während des Gespräches eine Entbindung von der Schweigepflicht bekommen), die mir mitteilte, dass dies bei ihr normal sei. Weitere Schritte – eine Notfallindikation wegen eventuellen Suizids – wäre nicht gegeben.
Laut den Ärzten der Patientin und dem gutachterlichen Befund sei die Patientin austherapiert. Trotzdem ist es wichtig, die Patientin an einen Facharzt zu verweisen. Dies kann auch eine Klinik sein, die speziell PTBS mit Persönlichkeitsstörungen behandelt. Diese Kliniken arbeiten auch ambulant, sodass ein stationärer Klinikaufenthalt nicht gegeben sein muss. Bei dieser Patientin, die schon einen sehr langen Leidensweg hinter sich hat, sollten nur Fachärzte und speziell ausgebildete Therapeuten die weitere Behandlung durchführen.
Was PTBS bedeutet
Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung können in allen Lebensbereichen beeinträchtigt sein. Dabei sind alle Bereiche gemeint, die das Verhalten und Erleben stark behindern.
Die Erinnerungen treten bei den Betroffenen oft unerwartet auf. Dies können Erinnerungsbruchstücke sein oder auch das gesamte Ereignis. Die Gefühle, die diese Erinnerungen auslösen, wirken oft real. Das heißt, dass die Betroffenen auch die Schmerzen durchaus spüren können. Alles, was an das Ereignis erinnert, wird wieder erlebt: Herzrasen, Übelkeit, Atembeschwerden, Zittern, Schwitzen bis hin zur Todesangst.
Therapiemöglichkeiten
Es gibt diverse Optionen, die sich zur Bearbeitung einer PTBS eignen. Eine mittlerweile sehr bekannte Therapieform ist EMDR (Eye Movement Desensitization und Reprocessing). Weitere Therapieverfahren sind u.a. die kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische Verfahren.
Leider gibt es Betroffene, die so schwer traumatisiert sind – z.B. durch Mehrfachtraumatisierung – dass diese eine Persönlichkeitsstörung entwickeln. Manche Menschen haben viele, wenn nicht alle Therapieformen ausgeschöpft und es kommt zu keiner Besserung.
Iris Gödecker
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Fachberaterin und Autorin mit
Schwerpunkt Psychotraumatologie
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