Fallstudie aus der psychologischen Praxis: Sprachlosigkeit
Patientin: 25-jährige Frau
Ich lerne die Klientin in einer von mir moderierten virtuellen Selbsthilfegruppe für Menschen mit Borderline-Syndrom kennen. Trotz des anonymen Gruppenchats kommuniziert sie hauptsächlich mit Symbolen und ganz wenig Worten. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich heraus, dass sie gerne fotografiert. Deshalb bitte ich sie, mir einige ihrer Fotos zu senden, was sie bereitwillig mit folgenden Fragen zu den Bildern macht: „Hier sind meine aktuellen Fotos. Was sagst Du dazu? Was sagen sie Dir?“
Ich sehe mir die Bilder an und bleibe an der Aufnahme mit der auffälligen Werbung (s. Abb.) hängen. Nach meinem Empfinden ist dies das deutlichste Foto, das auch ausdrucksstark ihre Gefühle symbolisiert.
Das Gebäude, das hier im Vordergrund steht, ist verhüllt, z.T. mit einer hässlichen Plane. Auffallend ist die große „schreiende“ Werbung. Ich schreibe meiner Klientin, dass das verhüllte Haus für mich ihr Innerstes symbolisiert, was sie in diesem Fall mit einer dunklen, fast undurchsichtigen Plane verdeckt, und schreit auf eine andere Art und Weise um Hilfe, hier symbolisiert durch die auffällige Werbung. Sie steht inmitten von anderen, die offen ihre Gefühle zeigen, symbolisiert durch die Nachbarhäuser, die durch keine Plane verhüllt sind. Diese Nachbarhäuser haben einen Schutz, ihre Mauern. Aber sie sind auch offen und lassen sowohl ein wenig ihres Innersten nach außen, wie sie auch einen Einblick in ihr Innerstes gewähren. Das wird durch die Fenster verdeutlicht.
Als ich meiner Klientin diese Interpretation schicke, gibt sie mir nach einer längeren Zeit folgende Antwort: „Woher weißt Du das?“ Das ist der Beginn unserer Kommunikation – ausgelöst durch Fotos.
Im Laufe der Kommunikation stellt sich heraus, das die junge Frau diese Fotos unter dem Motto „Orte, an denen ich mich umbringen würde“ aufgenommen hat. Sie nutzt die Fotografie als einen Skill, um sich abzulenken. Ihrer Beschreibung nach drückt sie unbewusst auf den Auslöser.
Auf ihren Wunsch hin schicke ich ihr auch ein Foto, das ich extra für sie geknipst habe.
Darauf ist der Rhein bei Kaiserswerth zu sehen. Sie interpretiert es so, dass ich mich ständig in Bewegung und Weiterentwicklung befinde. Die Schiffe, die auf dem Foto zu sehen sind, sind in ihrer Interpretation die Projekte und die Menschen, die ich betreue. Diesen Menschen biete ich Schutz, der für sie durch die Ufer des Rheins ausgedrückt wird. Für sie bedeuten die Ufer auch einen Ruhepunkt für mich, wenn ich mal ausruhen oder verweilen will. Es ist ein Foto, das bei Sonnenschein im Sommer mit einem normalen Pegelstand des Rheins aufgenommen wurde und das wirklich Ruhe und Sicherheit ausstrahlt.
Ihre Interpretation berührt mich sehr und ich freue mich, dass sie nach und nach immer mehr Vertrauen zu mir fasst. Auch ihre Mails werden wortreicher. Nach drei Monaten intensivem E-Mail-Kontakt ist es soweit, wir vereinbaren das erste Telefonat – es dauert zwei Stunden. Es ist ein sehr intensives Gespräch, bei dem sie mir ihre Geschichte erzählt.
Meine Klientin hat eine lehrbuchhafte Borderline-Entwicklung hinter sich: Als Kleinkind wurde sie mehrfach missbraucht und ihre Mutter war alleinerziehend und damit überfordert. Im weiteren Gespräch berichtet sie mir, dass sie sich für den Tod einer Nachbarin verantwortlich macht. Als ca. fünfjähriges Kind spielte sie in ihrem Zimmer und hörte einen lautstarken Streit der Nachbarn in der Wohnung eine Etage über ihr. Aufgrund der Geräuschkulisse nimmt sie heute als erwachsene Frau an, dass es wohl auch eine körperliche Auseinandersetzung war. Sie hörte auch die Hilfeschreie der Nachbarin, doch solche Geräusche waren ihr vertraut und sie spielte weiter. Irgendwann hörte die Klientin einen dumpfen Aufschlag. Sie beschrieb es so, als sei eine Ladung nasse Wäsche auf den Boden aufgeklatscht. Einige Zeit später sah sie dann das Blaulicht und hörte Stimmen auf der Straße. Aus ihrer Erinnerung heraus schildert sie, dass die Nachbarin aus dem Fenster gestoßen worden sei und mit dem Kopf zuerst auf dem Asphalt gefallen sei. Sie macht sich dafür verantwortlich. Auf meine Frage, wieso sie das glaube, antwortet sie: „Ich hätte ihr helfen müssen. Irgendwie. Doch ich habe mir die Ohren zugehalten.“ Als ich intensiver nachfrage, wie sie ihr Verhalten heute aus der Sicht der Erwachsenen einschätze, antwortet sie mir, sie sei immer noch der Überzeugung, dass sie hätte helfen müssen.
Für eine weitere schlimme Erfahrung, die Vergewaltigung als Achtjährige durch Fremde, fühlt sie sich auch verantwortlich. Sie habe sich eben zu aufreizend gekleidet. Meine Frage, wie man sich in diesem Alter aufreizend kleiden könne, kann sie mir nicht detailliert beschreiben.
Heutzutage liegen ihre Selbstverletzungen mehr im Bereich der emotionalen Verletzungen. Sie hat „Freunde“, die sie ausnutzen oder Sex mit Männern, mit denen sie eigentlich keinen Kontakt haben will – alles aus der Angst heraus, verlassen zu werden und weil sie glaubt, dass sie nichts anderes verdient hat.
Wir kommunizieren nur noch selten über Fotos, denn sie hat ihre Sprache wieder gefunden. Mittlerweile wirkt die Klientin auf andere Menschen wie ein lebensfroher Mensch und ist sehr erfolgreich in ihrem Beruf. Wir haben eine Abmachung getroffen: Wenn es ihr schlecht geht, ruft sie mich an. Oder sie sendet mir Bilder, wenn sie „mundtot“ ist.
Sabine Thiel
Psychologische Beraterin (VFP) und erste
Vorsitzende des Vereins Grenzgänger e.V.
info@beraterin-thiel.de
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