Ganzheitliche Stressprävention nach Kneipp
Stress
Darunter können sich alle etwas vorstellen. Ob bei der Arbeit, in der Schule, in der Freizeit oder im Straßenverkehr, in unserem Alltag gibt es kaum einen Bereich, der davon verschont geblieben ist. Doch was genau versteht man eigentlich darunter? Der Begriff „Stress“ stammt ursprünglich aus der Materialforschung und bezeichnete das Ergebnis einer Einwirkung auf einen Gegenstand. Heute versteht man unter Stress die Reaktion des Organismus auf einen Reiz (Stressor), das heißt auf eine Situation, die wir als sehr belastend empfinden.
Geprägt wurde der Begriff von dem Mediziner Hans Selye (1907-1982), als er in den 1930er- Jahren die Auswirkungen belastender Einflüsse auf den Menschen untersuchte. Auch Sebastian Kneipp hat bereits vor mehr als 100 Jahren den Einfluss von seelischen und körperlichen Belastungen auf die Gesundheit erkannt. Seine Worte hierzu sind heute aktueller denn je: „Kaum irgendein Umstand kann schädlicher auf die Gesundheit wirken als die Lebensweise unserer Tage: ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampfe um Erwerb und sichere Existenz.“ [1]
Steigender Leistungsdruck, mehr Verantwortung, ständige Erreichbarkeit – in unserer schnelllebigen Gesellschaft werden immer höhere Anforderungen an den Einzelnen gestellt. Die Folge ist Stress. Nach einer aktuellen Studie [2] empfinden acht von zehn Deutschen ihr Leben als stressig, jeder Dritte fühlt sich permanent unter Druck gesetzt. 2010 gab es deutschlandweit 53,5 Millionen Fehltage wegen psychischer Störungen. Dies entspricht 13,1% aller Arbeitsunfähigkeitstage. Wie Abb. 1 zeigt, kann z.B. der beruflich bedingte Stress durch verschiedene Auslöser entstehen.
Kommen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten aus dem Gleichgewicht, so reagiert der Körper mit Stresssymptomen. Dabei sind die Auswirkungen einer solchen Situation auf jeden Einzelnen unterschiedlich. Was der eine noch als sportliche Herausforderung betrachtet, kann vom anderen schon als unangenehm, belastend oder gar gefährlich empfunden werden. Entscheidend ist die innere Bewertung des Stressors und der vorhandenen Ressourcen, um der Situation zu begegnen (Abb. 2).
Was passiert nun bei Stress?
Zu Beginn der menschlichen Entwicklungsgeschichte musste um zu überleben oft blitzschnell Energie bereitgestellt werden, etwa um einen Feind zu bekämpfen oder zu fliehen. Wird eine Situation als bedrohlich angesehen, so werden über die Nebennierenrinde bzw. das Nebennierenmark Stresshormone ausgeschüttet. Diese bewirken zum einen die Bereitstellung von Energie, zum anderen werden nicht lebensnotwendige Körperfunktionen, wie z.B. die Magen- und Darmtätigkeit, abgesenkt. Bei einer vollständigen Stressreaktion folgt in einer zweiten Phase Angriff bzw. Flucht und in einer dritten Phase schließlich die Erholung. Vielfach ist es heute jedoch so, dass wir einer belastenden Situation nicht mit Angriff oder Flucht begegnen können, etwa wenn wir mit dem Auto in einem Stau stehen und einen dringenden Termin haben. Auch bei einer schwierigen Besprechung mit dem Chef wären Angriff oder Flucht nicht die geeigneten Mittel. Die Stressreaktion kann daher nicht vollständig ablaufen. Anstelle der Aktivität verharren wir im Stress und haben oft keine ausreichende Erholungsphase. Die bereitgestellten Energiereserven werden nicht abgerufen und belasten den Organismus. Es können sich krankheitsfördernde Stoffe bilden.
Bei länger anhaltendem Stress zeigen sich die Auswirkungen sowohl auf körperlicher, als auch auf seelischer und geistiger Ebene. Zudem können Betroffene auch mit Verhaltensänderungen reagieren, z.B. Rückzug oder Aggressivität.
Mit den fünf Wirkprinzipien der ganzheitlichen Kneipp-Therapie bieten sich gute Möglichkeiten, um die Auswirkungen belastender Situation abzumildern und der Stressfalle zu entgehen.
1. Wasseranwendungen
Durch warme oder kalte Wasseranwendungen wird ein Reiz auf unseren Körper ausgeübt und das vegetative Nervensystem beeinflusst. Warmanwendungen haben vor allem eine beruhigende Wirkung. Die Blutgefäße erweitern sich, der Blutdruck sinkt und es tritt eine Entspannung ein. Als warme Anwendungen bieten sich z.B. Dreiviertelbäder an. Sie helfen bei Nervosität und Unruhe und wirken sich wohltuend bei körperlichen und seelischen An- und Verspannungen aus. Dabei sollte die Temperatur bei etwa 36 bis 38 Grad liegen und eine Zeitdauer von ca. 20 Minuten nicht überschritten werden. Badezusätze wie Lavendel oder Melisse verstärken die Wirkung.
Bei kalten Wasseranwendungen wird der Körper zunächst je nach Anwendung mehr oder weniger unter Stress gesetzt. Durch den Kaltreiz ziehen sich die Blutgefäße zusammen und der Blutdruck steigt. Gleichzeitig versucht der Körper über das Thermoregulationssystem gegenzusteuern, indem warmes Blut aus den inneren Körperschichten an die kalten Stellen geleitet wird. Hierdurch wird die Durchblutung verbessert und die kalten Stellen erwärmen sich wieder. Der Körper lernt dadurch, seinen Wärmehaushalt besser zu regulieren und seine Anpassungsfähigkeit zu verbessern. Dies wirkt sich langfristig auch positiv bei Stressbelastungen aus. Bei regelmäßiger Anwendung werden die Gefäße trainiert, sodass in Stresssituationen Blutdruckschwankungen ausgeglichen werden können. Als kalte Anwendungen eignen sich Waschungen, Wassertreten sowie Knie- oder Armgüsse. Anstelle koffeinhaltiger Getränke sollte zur Anregung einmal ein kaltes Armbad genommen werden.
2. Bewegung
Bei Stress ist die Muskulatur einer ständigen Anspannung ausgesetzt. Dabei werden die Blutgefäße zusammengedrückt. Die Durchblutung und damit die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen wird geringer. Abfallstoffe können schlechter abtransportiert werden, die Muskulatur beginnt zu übersäuern. Verspannungen, Schmerzen und Fehlhaltungen können die Folge sein. Nach dem Muster unserer Vorfahren wäre Bewegung die richtige Antwort auf eine stressige Situation. Durch sportliche Betätigung insbesondere in frischer Luft wird der gesamte Organismus gestärkt und die Durchblutung der inneren Organe gefördert. Blutzucker und Blutfettwerte normalisieren sich. Durch regelmäßige Bewegung werden die Stresshormone Adrenalin und Cortisol abgebaut. Gleichzeitig wird die Lebensfreude geweckt, indem der bei Betroffenen zu niedrige Spiegel des „Glückshormons“ Serotonin angehoben wird. Damit sportliche Betätigung nicht als zusätzliche Belastung empfunden wird, sollten moderate Sportarten wie Schwimmen, Walken, Radfahren usw. bevorzugt werden.
3. Ernährung
Unsere Vorfahren ernährten sich hauptsächlich von pflanzlichen Nahrungsmitteln. Dazu zählten Beeren und Obst, Nüsse, Samen, Wurzeln und Getreide. Die Nahrung war damit wesentlich reicher an Vitaminen, Mineral- und Pflanzenstoffen als heute. Bei Stress fehlt oft die Zeit für eine vernünftige Ernährung. Häufig wird zu Fastfood gegriffen mit einem hohen Anteil an Kohlehydraten, tierischen Fetten, Salz, raffiniertem Zucker und Lebensmittelzusätzen. Diese Lebensmittel belasten unseren Körper zusätzlich. Gleiches gilt für Genussmittel wie Alkohol, Tabak und Koffein. Hinzu kommt, dass sich bei länger anhaltendem Stress der Cortisolspiegel erhöht und dadurch das Bedürfnis der Nahrungsaufnahme noch gesteigert wird.
Gerade in stressigen Situationen sollte man sich ausgewogen ernähren, eine natürliche, ballaststoffreiche, vollwertige und salzarme Ernährung bevorzugen und viel trinken. Hierdurch wird eine ausreichende Versorgung mit Vitaminen des B-Komplexes sowie basischen Elektrolyten wie Kalium und Magnesium sichergestellt. Der Organismus wird dadurch widerstandsfähiger gegen Stress.
4. Heilkräuter
Auch wenn Heilpflanzen nicht die Ursachen von Stress beseitigen, so können sie doch die Auswirkungen mildern und dazu beitragen, wieder ruhiger und gelassener zu werden. Die Natur bietet einige Pflanzen an, die ohne Nebenwirkungen bei Stress helfen können. Hierzu gehören Melisse, Hopfen, Lavendel und natürlich Baldrian. Gegen Stimmungstiefs und leichte Depressionen hilft das Johanniskraut. Bei Erschöpfung kann Ginseng hilfreich sein. Die Kräuter können auf verschiedene Formen, z.B. als Tees, Kapseln oder Badezusätze, verwendet werden.
5. Lebensordnung
Das Ziel der Lebensgestaltung ergibt sich eigentlich von selbst: Persönliche Stressfaktoren sollten erkannt und – soweit es möglich ist – reduziert oder beseitigt werden. Wie lassen sich belastende Situationen verändern? Können Aufgaben delegiert werden? Was ist im Moment wirklich dringend? Was kann entfallen oder verschoben werden? Welche zusätzliche Unterstützung kann ich bekommen? Fragen dieser Art setzen direkt beim Stressor an und können erste Schritte zu einer Normalisierung und Harmonisierung unseres Alltags sein.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, an der mentalen Einstellung zu arbeiten. Schätze ich die Lage schlimmer ein als sie vielleicht ist? Kann ich der Situation etwas Positives abgewinnen? Gespräche mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen können zu einer veränderten Sichtweise und Bewertung führen. Die Stressreaktion unseres Körpers kann sich dadurch deutlich vermindern. In besonders schwierigen Lebenssituationen sollte ggf. therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen werden.
Auch das Erlernen von Entspannungstechniken wie Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung oder Yoga kann dazu beitragen, Auswirkungen von Stress positiv zu verändern. Darüber hinaus ist es wichtig, in seinen Tagesablauf ausreichende Ruhe- und Erholungspausen einzuplanen, in denen man nicht ständig erreichbar ist.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Stress nicht völlig aus unserem Leben verbannt werden kann. Bei einem ausgewogenen Verhältnis von Anspannung und Entspannung ergeben sich durchaus positive Aspekte für unseren Lebensalltag, z.B. durch gesteigerte Aktivität, erhöhte Aufmerksamkeit oder schnellere Reaktionsfähigkeit. Kritisch wird es, wenn das Verhältnis zulasten der Anspannung deutlich und auf Dauer überwiegt. Hier kann das auf den fünf Wirkprinzipien basierende ganzheitliche Konzept von Sebastian Kneipp eine Fülle von Möglichkeiten anbieten, aktiv gegen den Stress vorzugehen. Ein nachhaltiger Erfolg wird sich allerdings nur einstellen, wenn die Anwendungen auch regelmäßig ausgeführt werden. Wie Kneipp schon sagte: „Wer nicht jeden Tag etwas Zeit für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für die Krankheit opfern!“ [3]
Joachim Scharenberg
Kneipp-Gesundheitstrainer und Stressmanagement-Trainer
Quellenangabe
[1] G. Riedel, Worte: Sebastian Kneipp, S. 78
[2] Studie der
Technikerkrankenkasse: Deutschland im Stress
[3] Zitate aus kneipp-meilen.ch oder Mörtenhummer: Zitate im
Management, S. 66
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