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Psychotherapie
Lesezeit: 5 Minuten

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis: Vorsicht, Spiegel! Psychotherapie bei Anorexie

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis

Vorstellungsgrund

Die 25-jährige J., sie ist Tattoo-Model, kommt an einem Sommertag leicht bekleidet zum Erstgespräch und stellt sich mit ihrem Vornamen vor. J. berichtet von einer Anorexie, die im Alter von elf Jahren begonnen habe. Zwei mehrmonatige stationäre Aufenthalte als Jugendliche hätten sie auf ihr Normalgewicht gebracht, psychisch habe sich bei ihr aber nie etwas verändert. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,55 m, kann dieses Gewicht seit Jahren halten, obwohl es immer wieder ein Kampf sei, genug zu essen. Ihre Laborwerte seien aber gut. Sie habe aus der Not eine Tugend machen können und habe im Alter von 17 Jahren zu modeln begonnen; nun sei sie international auf Tattoo Conventions unterwegs. Damit sei sie sehr zufrieden und verdiene gutes Geld. Das größere Problem sei für sie, permanent vor Spiegeln ausweichen zu müssen, da diese ihr das „Leben madig machen“. Sie könne ihr Leben nur genießen, wenn sie sich nicht anschauen müsse. Dann aber fühle sie sich meist gut. „Das ist doch merkwürdig, oder?“, schaute J. mich fragend an.

Psychodynamik

Es erscheint mir zunächst, als ob sie sich eine Mode-Diagnose gegeben hätte. Sie ist sehr zierlich, wirkt aber nicht krank. Im Verlauf wird dann aber deutlich, dass die typischen Merkmale der anorektischen Dynamik zutreffen oder zutrafen: Der Kampf gegen Nahrungsaufnahme und das Nicht-wirklich-erwachsen-werden-Wollen haben ihr Leben sehr geprägt, und auch die klinischen Merkmale der Anorexie spielen auch heute noch eine Rolle (vgl. Schirmohammadi, 2013). Gleichzeitig wird auch deutlich, dass sie eine äußerst willensstarke Person ist, die, nachdem sie als Teenager viel Verhaltenstherapie durchlaufen hat, gelernt hat, die Anorexie eisern im Griff zu haben. Es überrascht nicht, dass diese intelligente junge Frau viele Strategien entwickeln konnte, ihr anorektisches Erleben im Zaum zu halten und somit ihr Überleben zu sichern. Ebenso ist es nicht überraschend, dass neue Symptome auftauchten, da in der Verhaltenstherapie neu erlerntes Verhalten zu Symptomverschiebungen führen kann. Davon ausgehend, dass der Mensch als Trieb- und Konfliktwesen mit widersprüchlichen inneren Strebungen behaftet ist, werden z.B. Trieb-Abwehr-Konflikte (wie Erwachsenwerden-Wollen gegenüber Kind-bleiben-Wollen) nicht selten in neue Konfliktformationen verwandelt, wenn in der Verhaltenstherapie lediglich krankes Verhalten verlernt wird. J. war als Teenager „extrem“, wie sie sagt, sodass jedoch gut verständlich ist, dass die Therapeuten sie vor allem stabilisieren mussten. Ihre private Krankenversicherung bewilligt 2 x 30 Sitzungen, sodass die Therapie über zwei Jahre läuft.

Familiengeschichte

Ihre Mutter hat gerade ihren 40. Geburtstag gefeiert; sie ist im Alter von 14 mit J. schwanger geworden. Als Musikerin und Mitglied einer national bekannten Band ist ihre Mutter bereits als Teenager herumgereist, dauernd unterwegs gewesen. J. ist hauptsächlich bei der Oma aufgewachsen, einer „eigentlich liebevollen, aber überforderten Frau“, die als Sängerin noch dazu immer nach Höchstleistungen strebte. Männer hätten in der Familie nur als Trottel oder als Liebhaber eine Rolle gespielt; im Grunde seien sie alle „einsame Solistinnen“, die unverbunden nebeneinander her leben.

Therapieverlauf

Obwohl wir keine Psychoanalyse machen, möchte sich J. zur Therapie auf die Couch legen und sich ihren Gedanken überlassen. Sie erklärt dies damit, dass sie das Gefühl habe, dass ich sie durchschauen könne, ich sozusagen selbst eine Art Spiegel für sie sei, etwas, das sie so sonst nicht kenne und das sie nur schwer aushalten könne. Es bietet sich an, ihre Furcht vor Spiegeln als eine Symbolisierung der Furcht vor dem Blick des Anderen zu verstehen. Die Abwesenheit männlicher Bezugspersonen, wie Vater, Opa oder Onkel ist sehr auffällig, sodass der gefürchtete Blick in den Spiegel einerseits den Blick auf die ganz reale Person J. darstellen mag, andererseits auf die Angst vor dem – biologisch angelegten – ödipalen Dreieck (Vater-Mutter-Kind) hinweist, das sie so nie erlebt hat. Der Blick des Anderen, den der Spiegel zurückwirft, könnte der Blick des kritischen, aber auch ermunternden Vaters sein, den sie nie kennengelernt hat. Der Vater als bedeutungsvoller Dritter kann ein entscheidender Faktor für die spätere Beziehungsgestaltung sein (vgl. Lang, 2011), noch dazu scheinen in heutigen Umbruchzeiten weibliche Essstörungen vermehrt mit gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen einherzugehen (vgl. Egloff, 2013). Die Mutter war gewiss auch abwesend, sie ist aber wie die Oma als inneres Objekt in J. repräsentiert, während männliche Objekte innerlich kaum abgebildet erscheinen. Für die besondere Bedeutung der Spiegel-Vater-Thematik spricht auch, dass sie beim Sex noch nie einen Orgasmus erlebt habe. Sie könne sich weder mit einem Mann noch mit einer Frau fallen lassen, sodass sie sich umso mehr bemühe, es dem Partner recht zu machen. Letztlich heißt dies, dass, egal welches Geschlecht ihr Partner hat, in der Anwesenheit einer anderen Person ein Ganz-sie-selbst-Sein für sie nicht möglich ist.

Ergebnis und Prognose

Die Therapie drehte sich um diese Spiegel-Vater-Thematik, die J. einleuchtete, sie aber auch ängstigte. Nach einem Jahr konnte sie einen langen Blick in den Spiegel wagen; einige Monate später konnte sie es sogar etwas genießen. Der Kampf mit dem Essen wurde etwas milder, da mehr Selbstakzeptanz entstanden war.

Wir ergänzten nach dem ersten halben Jahr die Psychotherapie um eine knapp einjährige Lichttherapie, die ihre gelegentlich auftretenden Stimmungsschwankungen gut auffingen. Die chronobiologische Komponente im Blick zu behalten erscheint hier sehr wichtig (vgl. Egloff, 2012; Wirz-Justice et al., 2013). Entscheidend für die Therapie war jedoch, den Blick in den Spiegel als Blick auf den Blick des Anderen, des Vaters, des Therapeuten, der Gesellschaft zu erkunden, gemeinsam Zusammenhänge zu verstehen und differenzieren zu lernen, ob eine Furcht davor wirklich gerechtfertigt ist. J. verließ mit gutem Gefühl die Therapie, die anorektische Dynamik jedoch wird sie wohl nicht komplett verlassen.

Literaturhinweise

  • G. Egloff, Angst und Depression. Licht als adjuvante Therapie bei Anorexia nervosa. Report Naturheilkunde, 1, Bd. 16, S. 18-19, 2012
  • G. Egloff, Alterations in Postmodernity. Setting up Bulimia nervosa. The Brain – The Body – The Society. Book of Abstracts of the 17. International Congress of the International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology (ISPOG), Berlin, 2013
  • H. Lang, Die strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen, Klett-Cotta, Stuttgart, 2011
  • A. Schirmohammadi, Gestörtes Essverhalten, S. 10-13, Paracelsus, 01/2013
  • A. et al. Wirz-Justice, Chronotherapeutics for Affective Disorders, Karger, Basel 2013

Götz Egloff, M.A. Götz Egloff, M.A.
ehem. Forschungstherapeut Bulimie, Psychoanalytiker, Psychotherapie HPG – Systemtherapie SG

g.egloff.medpsych.ma@email.de

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