Tinnitus – ein komplexes und weitverbreitetes Symptom
Chamäleon Tinnitus
Tinnitus leitet sich vom lateinischen Verb „tinnire“ ab, es bedeutet „klingeln, klimpern“. Ein Tinnitus tritt jedoch nicht nur in Form von Klingeln/Klimpern auf, er kann in jeglicher Geräusch- oder Tonart vorkommen. Es gibt Formen, die sich als Rauschen, Rumpeln, Rasseln, Zirpen, Sausen oder in Mischformen bemerkbar machen. Auch lokalisiert ihn jeder Betroffene woanders: Mal ertönt ein Tinnitus nur rechts oder links, mal beidseitig, er kann auch wechselseitig vorkommen oder als subjektive Ortung z.B. mittig im hinteren Schädelbereich, also weit von den Ohren entfernt.
Tinnitus – ein reines Ohrenthema?
Diagnostisch wird der Tinnitus aurium den Krankheiten des Ohres zugeordnet. Dies könnte den Gedanken nahelegen, die Erforschung der Ursachen und damit auch die Behandlung des Tinnitus sei denjenigen Fachgebieten vorbehalten, deren Vertreter sich mit den Ohren befassen, also in erster Linie der HNO-Fachärzteschaft. Die Ohrgeräusche an sich sind jedoch nur Symptome einer andernorts angesiedelten Ursache, die eben in den seltensten Fällen auf die Ohren zurückgeht. Das ist wichtig. Denn nur, wenn ich den Tinnitus als ein Krankheitszeichen anerkenne, wird deutlich, dass ich mich auf die Suche nach den meist andernorts gelegenen Ursachen machen muss, die dieses Symptom hervorrufen. Genau hierin besteht die Schwierigkeit bei der Behandlung von Tinnitus.
Suche nach DEM Heilmittel
Einige HNO-Ärzte schwören auf die Wirkung von Kortison. Die dreimalige intravenöse Gabe von hochdosiertem Prednisolon in Kochsalzlösung gilt bei vielen als das einzig wirksame Medikament. Doch eine Studie zeigt, dass es keinen signifikanten Unterschied macht, ob man Kochsalzlösung mit oder ohne Kortisonpräparat injiziert. Dessen Gabe wurde daraufhin aus den medizinischen Leitlinien zur Tinnitus-Behandlung wieder herausgenommen.
Leider existieren bei Behandlungen mit akustischer Neuromodulation oder hyperbarem Sauerstoff keine Studien, die Anlass zu großem Optimismus geben. Bei Arzneimitteln aus der Gruppe der verschreibungspflichtigen Medikamente, wie Antiemetika, Antidepressiva oder Anxiolytika, konnte ebenfalls kein therapeutischer Effekt nachgewiesen werden. Umstritten ist auch, ob Tinnitus durch Probleme der Halswirbelsäule, Nacken- und Halsmuskulatur oder des Kiefergelenkes hervorgerufen wird. Fazit: Es existiert nach aktuellem Stand kein Medikament oder sonstiges Hilfsmittel, das eine Erfolgsgarantie im Kampf gegen Tinnitus gewährleisten könnte.
Lösungssuche
Wir sind daran gewöhnt, in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken. Wenn wir ein unerwünschtes Symptom oder Krankheitszeichen an uns wahrnehmen, suchen wir nach dem Auslöser, der Ursache. Dahinter steckt die Überzeugung: Wenn ich die Ursache beseitige, dann verschwindet auch das Symptom. Allerdings reicht das Eliminieren von Auslösern nicht immer aus: Oft liegen die ursächlichen Bedingungen Jahre zurück, die Lebensumstände haben sich verändert, doch das Ohrgeräusch quält noch immer. Aber da kein pathologischer Befund vorliegt, wird dem Betroffenen nicht mehr ausreichend geholfen. Dadurch kann sich ein Nocebo-Effekt einstellen.
Counselling
Ein wichtiges Element in der Tinnitus-Behandlung ist eine objektive Beratung über den Umgang mit Tinnitus: über Heilungs- und Selbsthilfechancen sowie Problemlösungsstrategie, damit auch die Vermittlung und Begünstigung von Hoffnung. Das ist ein wichtiger positiver Wirkfaktor in der Behandlung. Das nennt man Counselling. Nicht ohne Grund wird dies in den offiziellen Leitlinien zur Behandlung von Tinnitus als wirkungsvolle Maßnahme neben der Kognitiven Verhaltenstherapie empfohlen.
Tinnitus als Symptom
Kein Tinnitus ist wie der andere. Das ist auch der Grund, warum Standard-Therapieverfahren nicht immer funktionieren und noch keine wirksame allgemeingültige Behandlung nachgewiesen werden konnte. Hauptverantwortlich für den Teufelskreis, der den Tinnitus auslöst und nährt, sind die vier Faktoren Stress, Fokussierung, Bewertung und Anspannung. Es gibt grundsätzlich zwei Ursachen für Tinnitus: Entweder kann eine Veränderung in der Hörwahrnehmung zu einem Tinnitus-Leiden führen, oder die sonst schützenden „Hörfilter“ sind stressbedingt geschwächt und wir haben zu viel „um die Ohren“.
Die Existenz innerer Stille
Die Geräusche, die ein Embryo im Mutterleib hört, bezeichnet man als Grundrauschen. Mit diesem kommen wir auf die Welt. Nach der Geburt gesellt sich eine Vielzahl unterschiedlichster Geräusche hinzu und unser Grundrauschen tritt in den Hintergrund der Wahrnehmung. Wir deklarieren das bloße Grundrauschen als „Ruhe“. Demnach haben alle Menschen quasi einen „Tinnitus“, nur wird dieser meist nicht beachtet. Ein Geräusch, das man nur selbst hören kann, jedoch nicht wahrnimmt, das ist nun mal nicht vorhanden, bis es sich verändert und in unser Bewusstsein tritt.
Erhöhte Aufmerksamkeit durch Stille
Häufig versuchen Betroffene, den Alltagsgeräuschen zu entfliehen und sich in möglichst ruhige Umgebung zu begeben. Allerdings ist es wichtig, dass ein Patient Stille vermeidet. Jeder Höreindruck verhindert, dass das Tinnitus-Geräusch isoliert ertönt. Ein hoher Triangel-Ton für sich genommen stört eher – aber im Einklang mit einem Orchester verschmilzt er zu einem harmonischen Wohlklang. Genauso verhält es sich mit unseren belastenden Ohrgeräuschen: Allein für sich stresst er und fordert unsere Aufmerksamkeit. Im Zusammenklang mit Umweltgeräuschen geht er leichter unter. Eine Gewöhnung (Habituation) ist deshalb einfacher und geht schneller vonstatten.
Keine Durchblutungsstörung bei chronischem Tinnitus
Nach aktuellem Wissensstand ist bei chronischem Tinnitus die Durchblutung Richtung Kopf und Ohren normal. Das gilt auch für einen akuten Tinnitus ohne Hörverschlechterung. Deshalb sind therapeutische Maßnahmen zur Durchblutungsförderung nicht nötig. Im Gegenteil: Durch die damit vielleicht verbundene Erwartung einer Heilung kann sich die Konzentration auf den Tinnitus erhöhen und damit die gesamte Stressreaktion aufschaukeln.
Fokussierung und Aufmerksamkeit
Tinnitus ist ein On-Off-Phänomen: Entweder man hat Tinnitus oder nicht. Die wahrgenommenen Ohrgeräusche werden im Laufe der Zeit nicht lauter, wie häufig gedacht, sondern eher immer leiser bzw. weniger deutlich wahrgenommen. Tinnitus macht verständlicherweise Angst, jedoch nicht er selbst beunruhigt die Betroffenen, sondern die Furcht vor seinen Folgen. Der Tinnitus ist keine schwerwiegende fortschreitende Störung – entscheidend ist, wie Betroffene mit ihm umgehen: Empfinden sie den Ton als bedrohlich und verzweifeln daran, oder lernen sie, ihn aus dem Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu nehmen und sich so an ihn zu gewöhnen? Wenn jemand an Tinnitus leidet und von Ängsten bzgl. dessen Verschlechterung geplagt wird, so achtet er klarerweise umso gewissenhafter auf den Verlauf seines Tinnitus (dessen Bedeutung dadurch wächst). Je intensiver er darauf lauscht, umso lauter erscheint ihm der Tinnitus. Es ist also (wieder) ein Problem der Aufmerksamkeit. Die Lösung? Der Tinnitus ist irgendwann gekommen, ergo ist es genauso wahrscheinlich, dass er irgendwann wieder verschwindet.
Da Tinnitus keine Ursache, sondern ein Krankheitszeichen ist, kann er auch nicht die Ursache einer Hörverschlechterung sein. Bei eintretender Schwerhörigkeit aber kann ein vorhandener Tinnitus durchaus lauter erscheinen. Sollte das Hörvermögen nachlassen, empfehle ich, in Absprache mit einem HNO-Arzt frühzeitig auf ein Hörgerät zurückzugreifen, um Hörminderungen auszugleichen. Durch das verbesserte Hören der Außengeräusche geht das Tinnitus-Geräusch in vielen Fällen in der allgemeinen Geräuschkulisse unter oder wird sogar davon übertönt.
Beginnender Teufelskreis
Dass Tinnitus durch Stress ausgelöst werden kann, wird nicht überraschen. Umgekehrt verursacht Tinnitus Stress. Dabei ist das Henne-Ei-Problem nicht immer leicht auszumachen. In beiden Fällen folgt aus der Belastung eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das Ohrgeräusch. Die Angst, dass das Geräusch nicht mehr aufhört, spielt dabei eine zentrale Rolle, und Folgeängste entstehen, z.B. die, dass das Geräusch immer lauter und störender wird. Somit wird der Tinnitus zu einer subjektiv empfundenen Gefahr. Auf Bedrohungen dieser Art reagieren wir mit erhöhter Aufmerksamkeit. Doch je mehr wir auf die Gefahr achten, desto stärker nehmen wir sie wahr. Das Ohrgeräusch erscheint uns dadurch noch lauter. Eine fatale Folge.
Entspannung als Gegenmaßnahme
Wir können lernen, unseren Fokus auf den Tinnitus zu reduzieren und diesen Kreislauf zurückdrehen, wenn da nicht die Angst vor den Folgen eines chronischen Tinnitus wäre. Diese Befürchtungen verstärken die Symptomatik. Sie führen zudem zu einer gesteigerten Anspannung, denn unter Stress befindet sich unser Nervensystem in erhöhter Alarmbereitschaft. Im Kampf- oder Fluchtmodus macht sich unser Körper bereit und erhöht den Muskeltonus. Folgen der erhöhten muskulären Anspannung sind in vielen Fällen schmerzhafte Verspannungen, meist im Schulter- und Nackenbereich. Es ist nicht einfach, unter diesen Bedingungen zu entspannen. Aber genau dies wäre die adäquate Gegenmaßnahme. Die passende Frage dazu ist: Wie können Sie lernen, sich körperlich und psychisch wieder zu entspannen?
FALLSTUDIE Tinnitus als Folge chronischer Überlastung
Ein 55-jähriger verheirateter Familienvater sucht mich in meiner Praxis auf und klagt über einen Tinnitus sowie Beschwerden aufgrund chronischer Überlastung. Vor mir sitzt scheinbar der typische Gewinner: Als Geschäftsführer einer Firma kann er bei großen Belangen entscheiden und sich alles leisten, was er sich wünscht. In den letzten Jahren ist er allerdings immer unterwegs gewesen, viele Geschäftsreisen und Hotelübernachtungen waren unvermeidbar. So bleiben der Haushalt und die Unterstützung des gemeinsamen Sohnes, der Schwierigkeiten in der Schule hat, an seiner Frau hängen. Gleichzeitig entfernt sich mein Klient immer weiter von seiner Familie und nimmt die Probleme in der Firma mit nach Hause. Schließlich lernt er bei einem Meeting eine Kollegin kennen – 15 Jahre jünger als er – und beginnt eine Affäre. Ein Teufelskreis aus beruflichem Stress, Aufbau von Distanz zu Hause und Heimlichkeiten ist die Folge. Die Affäre zieht sich über Jahre hin, bis die Kollegin in ihre Heimatstadt zurückkehrt und meinen Klienten zu Besuchen auffordert. Lügen, Stress und Risiken nehmen durch die neuen „Geschäftsreisen“ zu.
Warnsignale des Körpers
Schließlich äußern sich erstmals auch körperliche Symptome: HWS-Beschwerden, schwitzige Hände, Magen- und Verdauungsprobleme werden häufiger. Auf dem Weg zum Flughafen kommt es zur ersten Panikattacke. Der ganze Körper ist angespannt, und da nimmt er ihn erstmals wahr: Der Tinnitus kommt urplötzlich wie der Knall eines Sektkorkens, und er hört nicht wieder auf. Es handelt sich dabei um einen „Warnschuss“ am Ende einer langen Reaktionskette:
- Die chronische Anspannung führt zur permanenten Überbelastung.
- Die Überbelastung mündet in muskulären Verspannungen.
- Der Tinnitus ist nun die Warnlampe, um den Körper vor dem kompletten Zusammenbruch zu schützen.
Mit Eigeninitiative zu einem neuen Lebensgefühl
Zum Glück hört mein Klient auf dieses Signal seines Körpers und kann in einer gemeinsamen Psychotherapie die Mechanismen seiner Dauerüberlastung unter die Lupe nehmen und die Zusammenhänge erkennen. Schließlich liegt es an ihm, sein Leben zu ändern und gesund zu werden. Also beendet er die Affäre und sucht wieder einen emotionalen Zugang zu seiner Frau. Auch mit seinem Sohn unternimmt er wieder mehr, und die Anspannung löst sich nach und nach. Das tut meinem Klienten sehr gut und eröffnet ihm neue Perspektiven.
Fazit
Tinnitus ist ein Thema, das immer häufiger in Praxen jeglicher Art auftaucht. Der Zugang ist oft für Betroffene und Fachpersonal schwierig, hat dieses Erscheinungsbild doch viele Gesichter und Auswirkungen. Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es sich beim Tinnitus um ein Symptom handelt, wodurch der Körper auf eine gänzlich andere Ursache aufmerksam machen möchte. Wenngleich die Gabe von Medikamenten, der Einsatz verschiedenster Therapieverfahren und eine erfolgversprechende Lösungssuche nur bedingt optimistisch stimmt, so kann es für Betroffene einen heilsamen Zugang darstellen, einen objektiven Umgang mit Tinnitus zu erlernen. Es gilt, zu verstehen, wie der eigene Lebensstil zu diesem Symptom beiträgt, und in einen bewussten Umgang mit Entspannung zu investieren.
Buch-Tipp
Markus Schwabbaur
Die Tinnitus-Lösung
Südwest Verlag
Markus
Schwabbaur
Dipl.-Psychologe und Psychotherapeut in eigener Praxis, Tätigkeit in mehreren Fachkliniken
mit Schwerpunkten Tinnitus und Hörstörungen
kontakt@praxis-englischer-garten.de
Fotos: ©Pixel-Shot / adobe.stock.com, © Axel Kock / adobe.stock.com
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