„Da bin ich allergisch gegen!“
Ernährungsexpertin Konstanze Moos berichtet über die große Palette der Nahrungsmittel- Allergien und stellt fest, dass viele Therapiewege nach Rom führen können. Von besonderer Bedeutung ist auch ihr Schlusswort „Gute Tischsitten trotz Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten“, ein Beitrag zur friedlichen Tischrunde.
Es gibt wohl kaum einen zweiten medizinischen Bereich, in dem so munter herumdiagnostiziert und -fabuliert wird wie bei Allergien. Besonders unübersichtlich wird es bei den Nahrungsmittel-Allergien und -Unverträglichkeiten. Da gibt es eine bunte Palette, von postnatal geprägter Abneigung gegen Spinat bis hin zur ausgewachsenen Zöliakie, von der Pustel am Mund bis zum anaphylaktischen Schock. Mittlerweile findet kaum noch ein Essen mit mehreren Personen am Tisch statt, ohne dass mindestens einer sagt:„Ich vertrage aber kein …!”
Egal ob es um Enzymmangel, eine schulmedizinisch diagnostizierte ImmunglobulinE (IgE) vermittelte Allergie oder um Intoleranzen geht, für die Betroffenen ist es eine ernste und unangenehme Sache, die nur durch effektive Therapieansätze und eine gute Zusammenarbeit zwischen Patient und Therapeut in den Griff bekommen werden kann.
Ab in die richtige Schublade
Die Schulmedizin pocht auf ihre klaren Definitionen, während die alternative Medizin über die begriffliche Bagatellisierung jenseits der „echten“ Allergien grantelt. Aber jeder, der sich – beruflich oder weil er selbst betroffen ist – mit Allergien und Unverträglichkeiten auseinandersetzt, weiß um die Komplexität des Themas und die Schwierigkeiten einer zweifelsfreien Diagnose, von der passenden Therapie noch gar nicht gesprochen.
Was heißt schon „zweifelsfreie Diagnose“? Die Übergänge sind fließend. Es gibt IgE vermittelte Allergien, Pseudoallergien mit direkter Histaminausschüttung, Unverträglichkeiten aufgrund fehlender Enzyme, toxische und auch psychische Ursachen.
Bei der Ursachensuche der Allergien stochert die Wissenschaft im Nebel, genauso wie bei den Autoimmunkrankheiten, u.a. weil es eine alleinige Ursache gar nicht gibt. Als Ursachen kommen in Frage: die genetische Disposition, die Veränderung der Natur durch Umweltnoxen, gesteigerte Hygienemaßnahmen, Veränderungen der Darmflora, der Lebensführung etc. Interessant ist auch der Ansatz, dass die durch den Rückgang parasitärer Krankheiten arbeitslos gewordenen IgEs nun wahllos neue Feinde suchen. Es gibt viele logische Erklärungsmodelle, die aber dem Einzelnen in seiner Not nicht weiterhelfen. Hier haben wir tendenziell eher ein ökologisch-politisches Thema vor uns, das wir angehen müssen.
Während die primären Nahrungsmittel-Allergien meistens vorübergehend bei Kindern auftreten, sind es im Erwachsenenalter hauptsächlich die sekundären Nahrungsmittel-Allergien, die sogenannten „Kreuzallergien“. Hier erfolgt zunächst eine Sensibilisierung durch den Erstkontakt über die Inhalation eines Allergens. Dann werden – durch die ähnliche Beschaffenheit eines Allergens aus der Nahrung – ebenfalls allergische Symptome hervorgerufen.
Man geht davon aus, dass eine primäre oder sekundäre Nahrungsmittel-Allergie bei Erwachsenen immer noch relativ selten ist. Erst eine gründliche Untersuchung, bestehend aus Anamnese, Pricktest und In-vitro- Bestimmung spezifischer IgEs (eventuell auch Provokationstests), sollte eine Grundlage für Auslassdiäten sein. Karenzdiäten auf Verdacht über längere Zeit sind fahrlässig und führen zu unnützen Einbußen der Lebensqualität und Nährstoffmangel. Richtig unklar und zum Teil leider auch unseriös wird es in der Grauzone, jenseits dieser Allergien.
Von Wissen und Weisheit
Das Dilemma hat folgende Ursache: Der Mensch will Ordnung, in seinen Gedanken und im Leben, er will Einteilung und Zuordnung. Schließlich ist das seit Jahrtausenden eine wichtige Komponente unserer Überlebensstrategie. Gerade in einer Welt, die durch wachsendes Wissen immer komplexer wird, wächst die Tendenz zur Vereinfachung praktischerweise mit. Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Je mehr wir wissen, desto mehr sollten wir durchschauen, dass wir mit allgemein gültigen Einordnungen und Definitionen sehr vorsichtig sein müssen.
Schon Sokrates sagte: „Wir müssten wissen, dass wir eigentlich verdammt wenig wissen.“ Das ist lange her. Und heutzutage soll das Wissen auf einmal ausreichen? Ist Wissen eine endliche Menge und wir haben schon 80% erreicht? Höchst unwahrscheinlich. Schließlich potenzieren sich hinter jeder aufgeschlossenen (Wissens-)Tür die Möglichkeiten. Und wie das mit den Potenzen funktioniert, wissen wir spätestens seit der Geschichte mit dem Schachbrett und dem Reiskorn. Was zeigt uns das? Zumindest, dass Wissen und Weisheit in der Praxis leider gar nichts miteinander zu tun haben.
Zurück zu unseren Unverträglichkeiten: Hier wird auch gerne mit viel Wissen und wenig Weisheit schematisiert, polarisiert und plakatiert, ein jeder in seiner kleinen Fachwelt.
Experten im Gesundheitsroulette
Wenn die Medizin bezüglich allgemein funktionierender Therapien „gegen“ Nahrungsmittel- Unverträglichkeiten im Nebel stochert, sich mit Anerkennung und Einteilung schwertut, wenn die Bandbreite der Therapien von Desensibilisierung bis zur Darmsanierung, von Antihistaminika über Karenzdiäten bis zur Reikibehandlung reichen, wenn sie dem Einen helfen und dem Anderen nicht, dann spricht alles dafür, die Herangehensweise grundsätzlich zu überdenken.
Der Heilpraktiker mit Schwerpunkt Akupunktur wird natürlich energetische Blockaden feststellen und entsprechende Punkte bearbeiten, der Schulmediziner wird so lange untersuchen, bis er einen Pschyrembel-tauglichen Begriff dafür hat, der Ernährungsberater wird den Speiseplan durchforsten, der Allergologe eventuell nach unzähligen negativen Testergebnissen mit den Schultern zucken und der Psychiater führt eine Konfrontationstherapie gegen die Muschelphobie durch. Sehen Sie das Problem? Ein Fleischer wird seinen Kunden kaum zu einer vegetarischen Lebensweise raten.
Doch in unserer komplizierten Welt sind wir auf Experten angewiesen, schließlich bereichern sie uns um viele Möglichkeiten. Aber jeder Betroffene muss selbst entscheiden, wer aus diesem immer größer werdenden Expertenpool ihm bei seinem speziellen Anliegen helfen kann. Empfehlungen sind nicht immer verlässlich, denn wenn Frau Lakta ihre Beschwerden durch eine ayurvedische Kur losgeworden ist, ist dies noch lange kein Garant dafür, dass Herr Laktus ebenfalls darauf anspricht. Die Expertensuche gerät also mehr oder weniger zu einem Gesundheitsroulette.
Experte seines eigenen Körpers
Nun kann und muss deshalb nicht jeder Einzelne zum Experten auf allen Fachgebieten werden, also schlauer sein als alle Experten zusammen. Er sollte lediglich anstreben, Experte seiner eigenen Bedürfnisse, seines Körpers und seiner Psyche zu werden. Ich spreche von Eigenverantwortlichkeit und der Fähigkeit, die Signale des eigenen Körpers zu bemerken und entsprechend zu handeln. Es gibt zum Beispiel für uns alle viele Lebensmittel, die wir meiden sollten, weil sie uns nicht guttun, zum Beispiel Produkte mit vielen Zusatzstoffen, Light-Produkte und ähnliches Überflüssiges. Wir bezahlen bereitwillig viel Geld für solche Produkte, die uns in die Dickleibigkeit führen und krank machen.
Viel effektiver und gesünder ist es, sich grundsätzlich damit auseinanderzusetzen, was wir jeden Tag essen. Was ist mit unserer Lebensführung, unserem Konsum, Stress und unseren Gedanken? Gut, bei dieser Einsicht angelangt stehen wir unweigerlich vor einer Entscheidung, die uns kein Experte abnehmen kann. Jetzt müssen wir etwas verändern oder eben nicht. Und da wir nun mal reptiliengehirnmäßig an unseren Gewohnheiten hängen, es am liebsten angenehm und unkompliziert mögen, zählt diese Methode nicht gerade zu den beliebtesten. Sie zu umgehen lassen wir uns einiges kosten – und wenn es Lebensjahre sind.
Ein naheliegender Gedanke
Ist es nicht zielführender, beim ersten Aufkommen einer Überempfindlichkeits- oder Unverträglichkeitsreaktion zunächst in Kontakt mit dem Körper zu gehen? Schließlich ist das seine Art, mit uns zu kommunizieren. Unser Körper macht viele Phasen im Laufe seines Lebens durch. Zu jeder Lebens- und Jahreszeit reagiert er anders, bevorzugt andere Nährstoffe, Vitamine, andere Pflanzenstoffe oder energetische Information von Nahrung.
Auch für uns Ernährungsberater und Therapeuten ist es befriedigender, zusammen mit dem Ratsuchenden seine Fähigkeit der Körperwahrnehmung und die Eigenverantwortlichkeit zu fördern und entsprechende Wege für Verhaltensänderungen aufzuzeigen, anstatt gleich Karenzlisten und Wundermittel zu verteilen. Wir sollten uns darin üben, zuerst vorurteilsfrei hinzuschauen, dann Hilfe zur Selbsthilfe geben, bevor wir unsere Therapie-Schatzkiste öffnen. Mit„vorurteilsfrei“ meine ich, ohne im Geiste bereits die für eine bestimmte Diagnose benötigten Symptome vor Augen zu haben.
Erst genau hinschauen, was ist, so wie es vorbildlich in der klassischen Homöopathie vorgeschrieben ist. Ich weiß, das ist schwierig, denn auch das ist Teil unserer Überlebensstrategie: Immer nach Bestätigungen unserer Theorien, nach bekannten Komponenten suchen, um sie möglichst schnell einsortieren zu können.
Immerhin, unser Therapieansatz ist einer von vielen, und verantwortliches Handeln erfordert auch einen wohlwollenden Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, mit der dazugehörigen Konsequenz, den immer wichtiger werdenden Kooperations- und Netzwerkgedanken auch zu leben. Das heißt, zum Wohle des Patienten auch gerne mal andere Experten hinzu zu ziehen oder weiter empfehlen.
Gute Tischsitten trotz Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten
An den zunehmenden Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten leidet auch das Umfeld mit, zum Beispiel an ausufernden Ausführungen der „Ich vertrage nicht“ und „Ich bin allergisch gegen”-Mitspeisenden.
Gibt es an einem schön gedeckten Tisch, in gemütlicher Runde und mit Liebe gekochtem Essen auf dem Teller nicht schönere Gesprächsthemen? Wer möchte schon so genau wissen, welche Quaddeln sich wo beim Genuss von Schalentieren bilden? Erhöht eine detaillierte Beschreibung der Auswirkungen von Milchkonsum bei Laktoseunverträglichkeit den allgemeinen Genuss an der Mascarpone-Creme? Nein, ebenso wenig, wie der missionarische Eifer eines Vegetariers bei Tisch das Schwein im Bräter wieder lebendig macht. Dafür schafft er es oft, allen anderen den Appetit zu verderben, warum dieses Tier erst recht vergeblich gestorben ist. So ein Verhalten traumatisiert eher jeden Fleischesser gegen eine vegetarische Ernährung, als dass es ihn bekehrt. Für diejenigen, die sich einen geringeren Fleischkonsum auf Erden wünschen, sei gesagt: Es gibt wesentlich bessere Momente, darüber zu reden, als bei Tisch.
Fassen wir zusammen: Tischgespräche sollten wertschätzend sein, jeder sollte die Möglichkeit haben, sein Essen mit allen Sinnen zu genießen und sich an der Gesellschaft zu erfreuen (und was er nicht essen mag oder kann, lässt er liegen).
Appell an junge Mütter
Sie haben es noch in der Hand, geben Sie Ihren Kindern eine Chance! Nein, Sie müssen Ihre Kinder, sobald sie zugefüttert werden, NICHT die ersten Jahre von allem fernhalten, von dem Sie mal gelesen haben, dass es Allergien verursacht. Machen Sie genau das Gegenteil, bieten Sie Ihren Kindern eine abwechslungsreiche, breite Auswahl an natürlichen Nahrungsmitteln! Wenn Kinder bis zum 6. Lebensjahr mit möglichst vielen natürlichen Nahrungsmitteln in Berührung gekommen sind, sind sie nicht nur weniger mäkelig später, sondern auch genussfähiger, und die Neigungen zum Übergewicht und zu Unverträglichkeiten sind ebenfalls herabgesetzt. Gerade der junge Körper, das unprogrammierte Immunsystem, muss die Chance bekommen, zu lernen, was alles genießbar ist und was ihm guttut.
Konstanze Moos
Ernährungs- und Diätberaterin mit
Schwerpunkten Ernährungsumstellung und Gewichtsreduzierung
konstanze.moos@dein-kurs.de
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Naturheilkunde