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Psychotherapie
Lesezeit: 5 Minuten

Grenzgänger – (M)ein Leben mit Borderlinern

Mein Sohn ist 21 Jahre alt und Borderliner. Diese Diagnose erhielt er im Oktober 2008. „Borderline“ war mir ein Begriff, ich hatte schon davon gehört, dass sich viele Betroffene ritzen. Doch bei meinem Sohn trat dieses Ritzen nicht auf – damals jedenfalls noch nicht.

Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich schon in der Ausbildung zur Psychologischen Beraterin. Ich fing also an, mich mit dem Begriff und der wissenschaftlichen Definition der „Borderline- Störung“ auseinanderzusetzen. Dabei fielen mir sofort die vielen Widersprüche, Annahmen und Unsicherheiten auf, die diese Begriffsdefinition mit sich brachte. Das Einzige, was sicher schien, war, dass es wohl grundlegende Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Borderlinern gibt.

Und in den neun beschriebenen Symptomen, von denen mindestens fünf gleichzeitig und ein halbes Jahr durchgehend auftreten müssen, fand ich das Verhalten meines Sohnes beschrieben.

Folgende Symptome sind typisch für einen Borderliner:

  • Verzweifeltes Bemühen, ein reales oder imaginäres Alleinsein zu verhindern
  • Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet
  • Identitätsstörung: eine ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder des Gefühls für sich selbst
  • Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z.B. Geldausgeben, Sex, Substanzmittelmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle etc.)
  • Wiederkehrende Suiziddrohungen
  • Affektive Instabilität, gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Orientierung an der aktuellen Stimmung, z.B. starke episodische Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit oder Angst
  • Chronisches Gefühl der Leere
  • Unangemessene starke Wut (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernder Ärger, wiederholte Prügeleien)
  • Vorübergehende, stressabhängige paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome

Was mich allerdings schockte, war die Begründung der Diagnose durch den Psychiater: „Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgrund dysfunktionaler Familienstruktur mit Gewalterfahrung.“

Nur lebten mein Sohn und ich zu dieser Zeit schon seit 7 Jahren alleine, und er mit seiner Körpergröße von 1,95 Metern ließ sich bestimmt nicht von mir (1,60 Meter) körperlich züchtigen. Auch verbale Gewalt herrschte bei uns nicht. Natürlich überprüfte ich mein Verhalten ihm gegenüber noch intensiver, wurde noch vorsichtiger als vorher schon und ließ mich von ihm noch mehr manipulieren. Kurz gesagt: Ich wurde co-abhängig.

Durch meine Ausbildung und meine Recherchen zum Thema „Borderline-Angehörige“ wurde mir dies ganz deutlich bewusst. Ich versuchte, alleine diese Co-Abhängigkeit zu durchbrechen, denn Termine bei Therapeuten waren frühestens, „mit ganz viel Glück und nach einer kurzen Wartezeit“, ein halbes Jahr später frei. Als mein Hausarzt Anfang 2009 bei mir eine leichte Depression diagnostizierte, war mir klar, wie ernst die Lage war. Ich suchte und suchte, doch Borderline-Selbsthilfegruppen oder ähnliche Angebote von Therapeuten gab es nicht. So beschloss ich, mich selbst in der Psychologischen Beratung auf „Borderline- Angehörige“ zu spezialisieren.

Ich gründete die Borderline-Angehörigen- Selbsthilfegruppe „Grenzgänger“. Das erste Treffen der Gruppe war für mich emotional sehr anstrengend. Dort saßen Menschen, die mich verstanden, die dasselbe erlebten wie ich. Uns Angehörige verbinden das Gefühl sozialer Isolation, Schuldvorwürfe und Überforderung. Wie sollten wir auch nicht überfordert sein, wenn sogar die Fachleute keine eindeutige, allgemeingültige Definition zur Borderline-Persönlichkeitsstörung finden.

Im Laufe meiner Ausbildung – besonders beim Thema „Persönlichkeitsentwicklung“ – wurde mir klar, weshalb es keine eindeutige Definition geben kann: Es gibt auch keine eindeutige, allgemeingültige Definition für den Begriff „Persönlichkeit“. Wenn wir daran denken, wie schwer es uns manchmal fällt, die Persönlichkeit eines uns bekannten Menschen einem anderen zu beschreiben, der diesen Menschen nicht kennt, können wir uns vielleicht annähernd vorstellen, wie schwierig eine allgemeine Definition für die „Borderline- Persönlichkeitsstörung“ ist. Diese Störung ist genauso einzigartig wie die Persönlichkeit jedes Menschen.

Die Gruppe der Borderline-Angehörigen muss in zwei Untergruppen aufgeteilt werden, die sich untereinander oftmals auch in einem Konflikt befinden: den Eltern und den Partnern/ Ex-Partnern von Borderlinern. Auch diese beiden Gruppen machen sich untereinander Schuldzuweisungen und Vorwürfe.

Mittlerweile habe ich meine Ausbildung zur Psychologischen Beraterin abgeschlossen und bin durch den VFP zertifiziert. Mein Schwerpunkt in der Beratung sind immer noch Borderline- Angehörige, bei denen oft Coaching, Aufklärung und regelmäßiges „Skills-Training“ (Achtsamkeits- und Aufmerksamkeitsübungen) hilft, eine Co-Abhängigkeit zu vermeiden oder zu durchbrechen.

Wichtig für die Angehörigen ist das Gefühl, nicht alleine zu sein.

Meinem tapferen Sohn, der sich im Oktober 2009 einem offenen und ehrlichen Interview der „Lokalzeit Ruhr“ stellte, verdanke ich es, den Mut gefunden zu haben, mit unserer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Weitere Lokalzeitungen wie auch Fernsehen berichteten über uns. Mein Ziel ist es, Borderline-Angehörigen zu helfen und anderen Menschen dieses Krankheitsbild näherzubringen. Im letzten Jahr habe ich eine zweite Borderline-Selbsthilfegruppe sowie ein Borderline-Netzwerk gegründet. Zu unseren Netzwerkpartnern gehören neben der Caritas Kliniken und Vereine, wie z.B. Wir Tun Was e.V. oder Mensch und Leben e.V., mit denen wir gemeinsame Projekte entwickeln und durchführen. Dennoch: Es ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig.

Sabine Thiel

Sabine Thiel
Psychologische Beraterin mit Arbeitsschwerpunkt Borderline-Störung
Sabine_Thiel@t-online.de

 


Die Situation der Angehörigen
Borderline ist eine vielschichtige, mehrere Faktoren umfassende Persönlichkeitsstörung. Durch diese Vielschichtigkeit sind auch die Angehörigen (das komplette soziale Umfeld, Familie wie auch Freunde und Bekannte) stark betroffen. Sie leiden häufig unter Burnout-Symptomen, Depressionen, Selbstvorwürfen oder starker psychischer Belastung. Vor allem das äußere Umfeld tritt oft mit Vorwürfen und unerfüllbaren Forderungen an die Angehörigen heran. Einer der üblichen Vorwürfe: Borderline ist eine Modekrankheit. Oder: Du (Mutter oder Vater) bist alleine schuld. Diese Vorwürfe werden von den betroffenen Angehörigen selbst sehr stark übernommen.

Neue Studien haben ergeben, dass die Borderline-Störung kein Hinweis auf eine Problemfamilie ist!
Diese Aussage ist vor allem für die Familie sehr wichtig und bedeutet, dass niemals zwingend ein Bezug zwischen dem „Bordie“ und einer gewalttätigen Familie, die sexuellen Missbrauch durchgeführt oder zugelassen hat, besteht. Auch ganz „normale und fürsorgliche“ Familien können betroffen sein. Bordies sind nicht die nächsten Attentäter oder Amokläufer! Sie verletzen sich selbst oder Personen, die sie lieben! Borderline wird häufig in der Öffentlichkeit mit Selbstverletzung (Ritzen) und Suizidgefahr gleichgesetzt. Dass Borderliner Meister der Manipulation sind und sich tagtäglich, manchmal sogar sekündlich in unterschiedlichen, teilweise psychotischen Zuständen befinden, ist entweder nicht bekannt oder wird unterschätzt. Das macht Borderliner zu so schwierigen Mitmenschen.

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