Traditionelle Heilsysteme Asiens
Ein kurzer Vergleich der Traditionellen Tibetischen Medizin mit der Traditionellen Chinesischen Medizin anhand einiger ausgewählter Medizinalsubstanzen.
Die buddhistische Medizin hat eine insgesamt fast 2500-jährige Tradition und wird in Tibet seit über 1300 Jahren gepflegt und erweitert. Auch die chinesische Medizin weist einen mindestens ebenso lange zurückliegenden Ursprungszeitpunkt auf. Auch die relative Nähe der beiden Regionen bringt manche Übereinstimmung bezüglich der generellen Sichtweise sowie auch in einigen spezifischen Anteilen beider Medizinsysteme. Da man die Tibetische Medizin aber fälschlicherweise häufig mit der Chinesischen Medizin gleichsetzt (insbesondere im modernen China), sollen in diesem Artikel einige der Unterschiede aufgezeigt werden.
Durch den regen Austausch innerhalb beider Kulturen (z.B. durch die Handelsrouten) würde man erwarten, auch eine ähnliche pharmakologische Betrachtungsweise bzw. ähnliche Arzneivermischungen zu finden. Aber schon bei der Verarbeitung der Substanzen treten in beiden Medizinsystemen deutliche Unterschiede zutage. Insbesondere bei Mineralien und metallischen Substanzen werden unterschiedliche alchemistische Systeme zur Entgiftung und Aufschließung angewendet. Zudem scheint es auch so zu sein, dass beide Substanzklassen in der Tibetischen Medizin mehr zum Tragen kommen. Dies führt in der Folge auch zu Unterschieden in den Arzneivermischungen sowie auch einer unterschiedlichen Anwendung und Verabreichung derselben. Auch werden bei den Kräuter- und Baumarzneien teilweise unterschiedliche Anteile angewendet, und auch die Indikationen stimmen nicht unbedingt überein.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin werden die Abkochungen, Pillen, medizinischen Weine etc. hauptsächlich oral verabreicht. In der Traditionellen Tibetischen Medizin kommt zusätzlich noch die Verabreichung durch die Nase, die Ohren, die Augen und den Anus zum Tragen. Die einzelnen Vermischungen unterscheiden sich aufgrund der unterschiedlichen Klassifizierungen der Krankheiten innerhalb der beiden Systeme stark voneinander. Zudem werden bestimmte Qualitäten der verschiedenen Geschmacksrichtungen in den beiden Systemen unterschiedlich bewertet. So wird z.B. die Geschmacksrichtung „salzig“ in der Tibetischen Medizin als erhitzend und in der Chinesischen Medizin als kühlend betrachtet. Allerdings sieht man bei genauerer Betrachtung, dass sich erhitzend auf die sofortige Wirkung und kühlend auf die spätere Wirkung bezieht (also eher als Wirkkraft betrachtet wird). Die Chinesische Medizin kennt im Gegensatz zur Tibetischen Medizin auch kein Prinzip des sogenannten Nach-Verdauungs-Geschmacks. Dieses Prinzip beschreibt die Veränderung der Elementzusammensetzung der einzelnen Geschmacksrichtungen während des Verdauungsprozesses. Ganz generell kennt die Chinesische Medizin zudem keine Grundeinteilung der verschiedenen Konstitutionstypen (mit zugehörigen Pulsqualitäten, Symptomen, Qualitäten des Harns zur Diagnose usw.), wie sie in der Tibetischen Medizin Grundlage ist.
Es könnten hier noch weitere Beispiele unterschiedlicher bzw. gleicher Auffassungen der beiden Medizinsysteme aufgezählt werden. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes sollen deshalb im Folgenden einige Arzneisubstanzen näher beschrieben werden:
Terminalia chebula (Rispiger Myrobalanen-Baum)
ist eines der höchsten Heilmittel der Tibetischen Medizin. Dies zeigt sich u.a. darin, dass der tibetische Medizinbuddha Sangye Menla eine Myrobalanen-Blüte als Attribut für höchste Heilkraft in seiner rechten Hand hält. Der Baum weist fünf von sechs Geschmacksrichtungen auf und gilt als überaus ausgleichend auf die Elemente. Zudem wird er als nährend, lebensverlängernd und die Verdauungshitze entfachend angesehen. Üblicherweise werden die Früchte verwendet. Da es verschiedene Unterarten gibt, finden diese auch spezifische Verwendung, z.B. bei Verdauungsstörungen, Erkrankungen der Gallenblase und des Hitzesystems, Augenerkrankungen, Wundheilungsstörungen und vielem mehr. In der Tibetischen Medizin werden zudem noch die Myrobalanen-Arten Myrobalan bellerica und Emblica officinalis sowie deren Unterarten angewendet.
Im Gegensatz zur Tibetischen Medizin hat der Myrobalanen-Baum in der Chinesischen Medizin keinen besonderen Stellenwert. Der Baum wird erst ab dem sechsten Jahrhundert in den medizinischen Abhandlungen erwähnt. Er wächst heute vor allem in Südwest-China (z.B. Yünnan). Die typischen Einsatzgebiete in der TCM sind Husten, Asthma und chronischer Durchfall.
Zingiber officinale (Ingwer)
Die Pflanze (insbesondere die Wurzel) hat in der TCM eine lange Tradition. Ingwer wird als wärmend und stärkend betrachtet und vor allem bei Verdauungsstörungen, bei kalten Gliedmaßen (Zirkulationsstörungen), zum Ausleiten von Giften (insbesondere von Eisenhut und von Pilzgiften) sowie bei kalten Erkrankungen allgemein angewendet. In der Tibetischen Medizin ist die Sichtweise sehr ähnlich. Die Geschmacksrichtungen werden als süß und scharf, die Wirkkräfte als heiß und rau angegeben. Die Pflanze gilt als blutverdünnend und stark erwärmend, d.h., sie wird vor allem bei kalten Erkrankungen (Übermaß von Peken-Schleim und/oder Lung-Wind), zur Erwärmung des gesamten Körpers sowie zur Stärkung der Verdauungshitze angewendet. In beiden Medizinsystemen wird zwischen der Wirkung von frischem Ingwer und getrocknetem Ingwer unterschieden.
Cannabis sative (Hanf)
Die Pflanze fällt in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz. Sowohl in der Tibetischen Medizin als auch in der Chinesischen Medizin werden meist die Hanfsamen verwendet. Beide Traditionen beschreiben den Geschmack als süß, die tibetische Medizin zusätzlich noch als zusammenziehend (herb). In der tibetischen Tradition gilt Hanf als Aphrodisiakum, also u.a. als Nieren stärkend. Aphrodisiaka sind in der Tibetischen Medizin Substanzen, die dazu führen, dass die einzelnen Prozesse und Phasen des Stoffwechsels schneller ausgeführt werden und hierdurch auch die verschiedenen Körpersubstanzen in den verschiedenen Körperebenen schneller gebildet werden. Zudem gelten alle die Nieren wärmenden und stärkenden Substanzen als Aphrodisiaka. Sie sind reinigend für die Lymphe (z.B. bei Hautunreinheiten, Pickeln etc.), förderlich bei Erkrankungen der Augen sowie günstig bei Durchfall. Die Chinesische Medizin beschreibt Hanf als wärmend und verwendet die Pflanze hauptsächlich zur „Schmierung“ (Befeuchtung) der inneren Organe sowie zum Sammeln von Giften (insbesondere Eisenhut).
Zinnober
Eine außerordentlich toxische Substanz, die erst über komplexe alchemistische Verfahren aufgeschlossen und entgiftet werden muss, bevor sie zur Anwendung gelangt. In der heutigen Zeit wird Zinnober in beiden Medizinsystemen üblicherweise nicht mehr verwendet. Die Traditionelle Chinesische Medizin verwendet Zinnober, um den Geist zu beruhigen (z.B. bei Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Schwindelanfällen) sowie bei Infektionen der Haut und bei bestimmten Vergiftungen; die taoistische Medizin sieht Zinnober als wichtige Substanz zur Gewinnung der Lebensflüssigkeit. In der Traditionellen Tibetischen Medizin wird Zinnober als ausgesprochen förderlich zur Erhaltung der Kanäle betrachtet. Unter Kanälen versteht man alles, worin sich Lung (Wind) und/oder Blut bewegt, d.h. Arterien, Venen und Nerven. Es wird also auch hier als förderlich für das Geistprinzip sowie das Lebensprinzip betrachtet. Zudem verwendet man es traditionell bei bestimmten Hitze- und Fieberzuständen.
Piper longum (Langer Pfeffer)
Wird in der Chinesischen Medizin als scharf im Geschmack und erwärmend für die Bauchorgane (insbesondere Magen und Dünndarm) und die Gebärmutter beschrieben und entsprechend zur Vertreibung von Kälte angewendet. Die Tibetische Medizin hat hier die gleiche Sichtweise bezüglich der wärmenden Wirkung auf die Bauchorgane (insbesondere die Milz), erweitert dieses Spektrum aber durch die zusätzliche Beschreibung der Substanz als „süß“ im Geschmack und „ölig“ und „rau“ in der Wirkkraft. Hierdurch erweitert sich auch das Indikationsspektrum bezüglich des Einsatzes bei erhöhtem Lung (Wind).
Sowohl die Traditionelle Tibetische Medizin als auch die Traditionelle Chinesische Medizin sind lebendige, eigenständige Heilsysteme mit großem Wert. Die beiden Medizinsysteme überlappen sich in manchen Sichtweisen und sind in anderen Sichtweisen wieder stark voneinander abweichend. Die TCM hat im Westen in den vergangenen Jahrzehnten einen enormen Aufschwung erlebt, und die Hinwendung vieler Menschen in Richtung natürlicher Quellen der Gesundheit wird auch dazu führen, dass sich noch mehr Menschen näher mit der Tibetischen Medizin beschäftigen werden. Bestimmte Anteile der Tibetischen Medizin können dann jederzeit in der westlichen Praxis angewendet werden, und es ist davon auszugehen, dass die Tibetische Medizin in nicht allzu ferner Zukunft eine ähnliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren wird.
Thomas Dunkenberger
Heilpraktiker mit Schwerpunkt Energetischer Medizin
östlicher Prägung
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