Chikungunya – Ein Virus aus der Südsee
Wie ich auf diesen Titel gekommen bin, ist ganz einfach zu erklären und der folgende Artikel wird auch genau davon handeln, wie es kommt, dass eine Deutsche einen Artikel über eine auf Tahiti ausgebrochene Epidemie schreibt.
Ich lebe seit 1994 mit meinem polynesischen Mann auf Tahiti (Französisch Polynesien). Als meine Kinder flügge wurden, beschloss ich, für zwei Jahre nach Deutschland zurückzukehren und mich an der Aachener Paracelsus Schule zur Psychologischen Beraterin ausbilden zu lassen. 2013 kehrte ich nach dem Abschluss zurück nach Tahiti, wo ich meine eigene Praxis eröffnete. Meine begleitende Arbeit mit Menschen ist systemisch und körperorientiert, zudem biete ich neben Einzelbegleitung auch Gruppenarbeit (Progressive Muskelentspannung und sensitives Tanzen) an.
Im Oktober 2014 brach die durch den Chikungunya- Virus verursachte Epidemie auf Tahiti aus; inzwischen wird auch in Europa von einigen Erkrankten berichtet.
Was ist das Chikungunya-Fieber?
Das Chikungunya-Fieber ist eine durch das Chikungunya-Virus (CHIKV) ausgelöste, mit Fieber und Gelenkbeschwerden einhergehende tropische Infektionskrankheit, die durch die Tiger-Stechmücke (Aedes albopictus aus Süd-Ost-Asien) übertragen wird.
Das Wort „Chikungunya“ stammt ursprünglich aus der Sprache der Makonde und bedeutet wortwörtlich „der gekrümmt Gehende“. Im Deutschen wird die Krankheit auch „Gebeugter Mann“ genannt. Die exakte Diagnose kann nur durch Blutuntersuchungen gestellt werden.1
Das Interessante an dieser Angabe ist „der gekrümmt Gehende“. Dieser Ausdruck ist sehr zutreffend. Tatsächlich ist die Krankheit von sehr starken Schmerzen begleitet, die ein aufrechtes Gehen fast unmöglich machen. Während der Epidemie konnte man leicht die erkrankten Menschen erkennen an ihrer schleppenden, langsamen Gangart und Problemen mit der Feinmotorik.
Epidemiologie
„Die erste Epidemie des Chikungunya-Fiebers wurde 1952 in Tansania beobachtet. Es breitete sich über Asien, vor allem im Indischen Ozean aus, wo 2005 über 1/3 der Bevölkerung der Insel der Réunion erkrankt war. 2007 hat das Fieber zum ersten Mal Europa erreicht. Im Nordosten Italiens waren ca. 300 Personen betroffen. 2010 waren die ersten beiden Fälle im Süden Frankreichs beobachtet worden. Das Risiko der Ausbreitung von Dengue-Fieber und Chikungunya- Fieber in Südeuropa war damit verstärkt, und um eine bessere Beobachtung zu gewährleisten wurden beide Infektionen auf die Liste der meldepflichtigen Infektionskrankheiten aufgenommen.“2
Im Juli 2014 wurden in der Schweiz 15 Fälle des Chikungunya-Fiebers gezählt, wovon die meisten Fälle bei Reisenden aus der Karibik beobachtet wurden. Weitere Fälle wurden ebenfalls aus den Niederlanden und Deutschland von Karibik-Reisenden gemeldet.3
Die Chikungunya-Epidemie auf Tahiti
Im Mai 2014 wurde erstmals eine Frau mit verdächtigen Symptomen ins Krankenhaus eingewiesen. Es ergab sich, dass sie von der Insel Guadeloupe zurückkam, wo sie sich infiziert hatte. Trotz einer prompten und sehr ernst genommenen Desinfektionsaktion in ihrem Wohngebiet kam es danach zu mehreren Fällen. Ab Oktober wurde in Tahiti das Fieber als Epidemie erklärt. Da Tahiti eine relativ kleine Insel ist und im Oktober bereits die Regenzeit angefangen hatte, breitete sich der Virus sehr schnell aus. Zwischen Oktober 2014 und März 2015 wurden insgesamt 69000 Fälle durch Blutuntersuchung offiziell bestätig, davon wurden 15 Todesfälle dem Fieber zugeschrieben. Dadurch, dass außer Bettruhe und Paracetamol (gegen Fieber und Schmerzen) nichts weiter unternommen werden kann, sind viele Betroffene nicht zum Arzt gegangen. Das Polynesische Gesundheitsministerium geht von einer Dunkelziffer von ca. 70% der Bevölkerung aus. Um diese Dunkelziffer zu überprüfen und Genaueres über den Verlauf des Fiebers zu erfahren, laufen seit dem 18. Mai 2015 zwei parallele Untersuchungen in der polynesischen Bevölkerung. Die eine befasst sich damit, offiziell betroffene Patienten nach den verschiedenen Rückschlägen und Symptomen zu befragen, und in der anderen Untersuchung wird versucht herauszufinden, wie viele Personen die Symptome hatten, ohne zum Arzt zu gehen.4
Meine persönlichen Beobachtungen mit dem Chikungunya-Virus
Als im Oktober die Epidemie ausbrach, war noch keinem bewusst, was auf die Bevölkerung zukommen würde. Anfang November 2014, als die Epidemie bereits ihren Höhepunkt erreichte, wurden Tausende von Menschen von heute auf morgen arbeitsunfähig. Auf einmal gab es nur noch ein Gesprächsthema auf Tahiti. Chikungunya wurde nun allgemein „Chik“ genannt.
Das Interessante am Chikungunya ist, dass es so vielseitige Symptome hat. Kein Fall ist gleich, jeder Mensch ist anders betroffen. Und auch im Anhalten der Symptome gibt es große Unterschiede: von drei Tagen bis zu drei Monaten. Die Symptome reichen von Gelenkschmerzen, Stechen in den Fußsohlen, von durch Schmerz erstarrte Finger bis hin zu Zahnfleischschwund mit Ausfall der Zähne. Da ich sehr am Körper und dessen Ausdruck interessiert bin, las ich alles über diesen Virus, was sich nur finden ließ. Bei einer hiesigen Fernsehsendung erfuhr ich, dass die Schmerzen zumeist an alten Verletzungen wie Knochenbrüchen, Gelenkproblemen oder Narben auftreten. Diese Information lies mich sehr aufhorchen, da meine Arbeit mit den Klienten ganzheitlich ausgerichtet ist.
Die meisten Klienten in meinen Einzelsitzungen waren vom Chik betroffen. Ich werde im Folgenden von einem Fall berichten, um aufzuzeigen, wie der Virus uns Beratern helfen kann, aufgrund der Symptome schneller die Problematik des Patienten zu begreifen.
Fallbericht
Frau M.: Die Kindheit von Frau M., an die sie sich bis dato kaum erinnern kann, wurde von einem sehr autoritären Vater überschattet. Wir kamen nur langsam und zäh voran. Als sie wieder zu einer Sitzung kam, hatte sie das Chik-Fieber und es ging ihr sehr schlecht. Sie klagte trotz Paracetamol über starke Schmerzen in den Gelenken und vor allem in den Kiefergelenken. Diese Gegend des Schmerzes lies mich aufhorchen und ich fragte sie gleich, ob sie irgendwann einmal Probleme mit dem Kiefer gehabt hätte. Sie verneinte und verbrachte die Sitzung damit, ihre vielen verschiedenen Symptome auszumalen, was ihr sehr entsprach, da ich sie schon vorher als ein Wesen mit einem sehr starken Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden, kennengelernt hatte. So war es, als ob ihr Körperschmerz ihr nun die Berechtigung gab, sich offen auszudrücken. Dabei erfuhr ich sehr viel über sie. Aber ich blieb an dem von ihr geschilderten Symptom der Kieferschmerzen hängen und schlug ihr vor, ihren Kiefer von einem Zahnarzt untersuchen zu lassen.
Bei unserem nächsten Treffen eine Woche später erzählte sie mir aufgeregt, dass sie einen Zahnarzt aufgesucht hatte, der ein Panorama- Röntgenbild ihres Kiefers anfertigte. Dabei stellte sich heraus, dass sie als Kind einen Kieferbruch erlitten hatte. Sie konnte sich daran nicht erinnern, obwohl der Zahnarzt betonte, dass ein solcher Bruch mit starken Schmerzen verbunden sei. In unserer Sitzung sprach ich sie darauf an, ob sie nicht doch irgendetwas in ihrer Kindheitserinnerung mit diesem Kieferbruch in Verbindung bringen könne. Auf einmal wurden ihre Augen ganz groß und sie erzählte mir, dass sie sich nun erinnere, dass sie als 4-jähriges Mädchen einmal von der Rutschbahn gefallen sei. Dies war an einem Wochenende, als ihre Eltern weggefahren waren und ihre Tante auf sie aufpasste. Bei dem Sturz fiel sie auf den Kopf und blutete stark aus der Nase, was die Tante ziemlich in Panik versetzte. Wie sich später herausstellte, hatte die Tante furchtbare Angst vor der Reaktion des Vaters von Frau M. Sie erinnerte sich nun, dass auch für sie damals die Angst vor der Reaktion ihres Vaters stärker war als der Schmerz. Sie sagte also ihrer Tante nichts von dem starken Schmerz im Kiefer, musste allerdings aufgrund der starken Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Da die Blutungen bald nachließen, wurden nur oberflächliche Untersuchungen durchgeführt und die benachrichtigten Eltern kamen bald darauf ins Krankenhaus, um ihre Tochter wieder mitzunehmen. Der Vater reagierte relativ sanft auf die Tante. Frau M. erinnerte sich an die Heimfahrt im Auto, wo ihr Vater ihr selbst die Verantwortung für den Unfall gab, sie als Trottel und unfähig beschimpfte. Er war furchtbar wütend, aus dem gemeinsamen Wochenende mit seiner Frau herausgeholt worden zu sein.
Nach und nach kamen viele Erinnerungen zurück. Wir konnten daraufhin in zwei weiteren Sitzungen, auch mittels einer Aufstellung auf dem Systembrett, ihr tief sitzendes und bisher so unbegreifliches Schuldgefühl aufarbeiten. Sie besucht nun meine wöchentlich angebotene Muskelentspannungsgruppe, um die restlichen von Zeit zu Zeit wieder aufflammenden Schmerzen in den Beinen zu lindern. Das Kiefergelenk spürt sie seit den Einzelsitzungen nicht mehr, jedoch werden wir in den nächsten Sitzungen ihre recht hartnäckigen Beinschmerzen näher betrachten.
Der mit Frau M. erlebte Fall wiederholte sich dann des Öfteren mit verschiedenen anderen Klienten in Einzelsitzungen. Von körperlichen Schmerzen zu berichten fällt den meisten Menschen leichter als von psychischen Schmerzen. Und so benutzte ich also den Virus, um mit seiner Hilfe den Menschen vor mir ins kleinste Detail seiner Schmerzen zu führen. Nach und nach führte das Erzählen seines Körperempfindens an den Ursprung seiner früheren Verletzungen und Narben, und so konnten wir dort direkt mit alten Wunden arbeiten. Eine sehr befreiende Arbeit, die ohne das Chikungunya sicherlich mehr Sitzungen gebraucht hätte.
Tanzen trotz oder mit Chikungunya
Ganz Polynesien wartete auf das Abklingen der Epidemie, aber Mitte Januar passierte etwas Unerwartetes: Viele Menschen, die gleich zu Beginn der Epidemie im Oktober/ November erkrankt waren, bekamen nun heftige Rückschläge. Zwar ohne Fieber, aber die Schmerzen wurden wieder stärker, und je mehr Menschen davon betroffen waren, umso mehr machte sich in Tahiti eine Art von Depression mit großer Frustration breit. Es war richtiggehend zu spüren und zu hören, wie sehr die Menschen litten. Erstaunlich war jedoch, dass die Erkrankten, die nur wenige Tage lang Symptome hatten bei der Akut-Erkrankung, keine Rückschläge erfuhren. Hingegen die Menschen, die relativ viele frühe Verletzungen hatten, auch heftiger und langanhaltender von den Rückschlägen betroffen waren.
Diese große Welle der Frustration, die hauptsächlich auf die Bewegungsunfähigkeit zurückzuführen war, wollte ich ausnutzen und bot einen Tanzworkshop für die Chikungunya- Kranken an. Bei diesem Tanzangebot lag der Schwerpunkt darin, die Aufmerksamkeit auf das kleine Potential der derzeit möglichen Bewegung zu legen. Die Gefahr bei Schmerzen ist ja grundsätzlich, dass man sich in Schonhaltung bringt und sich gar nicht mehr bewegt. Ich hatte aber in meiner Muskelentspannungs- Gruppe erlebt, dass eine sanfte Bewegung beim „Chik“ eher schmerzlindernd ist. Ich wollte die betroffenen Menschen durch sanftes Tanzen an die Bewegung heranbringen, die trotz Chikungunya möglich war, und diesen Bewegungsspielraum dann so gut wie möglich ohne Schmerzen ausschöpfen. Mit sanfter Musik und achtsamen Bewegungen, teilweise im Liegen und im Sitzen, konnten sie so ihren Körper behutsam bis zur Schmerzgrenze hin erfahren. Sie lernten dadurch, dass es ein Zwischenstadium mit Spielraum gibt: Körper ohne Schmerz bis hin zum Schmerz. Das half ihnen dabei, in sanfte Bewegung zu kommen und ihren Körper achtsamer wahrzunehmen. Im Nachhinein war dieses Tanz- oder besser gesagt Bewegungserlebnis des Körpers für die Teilnehmer sehr heilsam.
Schlussfolgerung
Aus meiner heutigen Sicht und Erfahrung würde ich sagen: Chikungunya ist da, um jedem einzelnen Betroffenen die Möglichkeit zu geben, alte Wunden anzuschauen, zu verarbeiten und im Tanz und in Bewegung seinen Körper neu oder anders wahrzunehmen.
Ich wünsche mir, dass die Menschen bei dieser Achtsamkeit ihres Körpers bleiben und weiterhin aufmerksam mit ihm umgehen.
Sabine Quiatol
Psychologische Beraterin
Quellenangaben
1 https://fr.wikipedia.org/wiki/Chikungunya
2 www.pasteur.fr/fr/institut-pasteur/presse/fiches-info/chikungunya, Juin 2014
3 www.chikungunya.net, Publié le: 01/06/2015 à 12:00 | MAJ le: 08/06/2015 à 23:00
4 www.ladepeche.pf/Lancement-de-deux-enquetes-epidemiologiques-sur-le-Chikungunya_a5370.html | 15/05/2015 | Actualité de Tahiti et ses îles
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