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Psychotherapie
Lesezeit: 10 Minuten

Die Krux mit der Lust

© Andrey Popov - Fotolia.comIn fast allen längerfristigen monogamen Liebesbeziehungen kommt es früher oder später zu der Feststellung, dass einer der beiden Partner ein stärkeres sexuelles Verlangen hat als der andere. Der eine will und der andere hat nicht so recht Lust. Wer setzt sich durch? Klar, Sie wissen es.

Da „stärker“ meist als „besser“ oder gar „gesünder“ gewertet wird, erscheint es nur naheliegend, dass demjenigen mit dem schwächeren sexuellen Verlangen eine Behandlungsnotwendigkeit unterstellt wird. Meist soll es ja an den Hormonen liegen: Von Helen Fisher wissen wir ja, dass ein zu hoher Serotoninspiegel nicht gut ist für die Lust, aber etwas mehr Dopamin befeuert die testosterone Wirkung auf die Libido – und man(n) will dann wieder. Frau hoffentlich auch. Wenn es denn so einfach wäre.

Ein solcher Ansatz ist jedoch leider weit gefehlt! Denn ein schwächeres sexuelles Verlangen ist keineswegs eine Fehlfunktion, sondern lediglich eine Normalfunktion im Beziehungssystem zweier Liebender, die beschlossen haben, zusammenzubleiben.

Das höhere oder niedrigere sexuelle Verlangen ist Ausdruck der Positionen, welche die beiden Partner zueinander bezogen haben.

Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Nennen wir sie Ken und Barbie. Sie sind bereits seit 25 Jahren verheiratet und haben drei erwachsene Kinder. Beide beteuerten immer noch ihre Liebe zueinander, als sie vor einigen Monaten in unsere Praxis kamen. Nur das mit dem Sex klappte kaum noch. Am Anfang ihrer Beziehung konnten sie – wie fast alle Frischverliebten – kaum die Finger voneinander lassen. Doch schon seit vielen Jahren ist das anders. Barbie wirkt auf Ken eher lustlos und desinteressiert an Sex. Immer hat sie in dem großen Haus etwas zu tun und beschäftigt sich gerne so lange, bis sie nur noch müde in ihr Kissen sinkt. Zum Verkehr kommt es meist nur dann, wenn Ken „drum bettelt“, wie er sich ausdrückt oder sie mit einer Litanei an Vorwürfen emotional-moralisch „weich kocht“, wie sie es beschreibt. Ken meint, dass es dann aber auch eher langweilig ist – und eintönig, soll heißen immer dasselbe – und er sich das Feuer des Anfangs zurückwünschen würde, als Barbie schwanger werden wollte. Da konnte sie so richtig heiß abgehen.

Ken ist aber nicht minder beschäftigt. Als Projektleiter arbeitet er oft mehr als 10 Stunden am Tag. Für seine Familie hat er ein sehr großes, renovierungsbedürftiges altes Haus gekauft, in das er seither viel Arbeit steckt, mit der Perspektive, dass es eventuell in 10 Jahren fertig ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass beide zu beschäftigt seien, um Sex zu haben. Und wir fragen uns, wie viele Paare das wohl noch von sich denken mögen. Aber so könnte es zumindest einen Sinn ergeben.

© Gina Sanders - Fotolia.comJedes Wochenende wieder versucht Ken, bei Barbie das sexuelle Verlangen zu entfachen. Weil die aber eher introvertiert ist, fühlt sie sich dann unter Druck gesetzt. Wirkliches sexuelles Verlangen kann so nicht recht aufkommen. Und selbst wenn sie es zulässt, kann sie den Sex nicht wirklich genießen. Es entsteht für sie eher eine zusätzliche Belastung – aber auch bei Ken. Der fühlt sich nämlich in solchen Momenten unerwünscht, unattraktiv und ungeliebt. Und er befürchtet, dass ihm dieses Gefühl nur noch eine andere Partnerin wieder nehmen kann, wenn es so weitergeht. Das macht Barbie natürlich Angst. Aber eigentlich will Ken das auch nicht. Er will aber, dass der Sex mit Barbie wieder funktioniert – „und dazu muss sich bei ihr etwas ändern“, stellt er abschließend fest.

Hinzu kommt noch: Was Ken eigentlich als „Hilfestellung für Barbies schwache Libido“ gedacht hatte, nämlich sie verbal sexuell zu „inspirieren“, indem er ihr sagt, was sie denn so machen könnte und sollte (mal mit unter die Dusche gehen, erotische Massagen, Dessous und Strapse anziehen usw.), kommt bei ihr arrogant und herablassend an. Und so beginnt das „Vorhaben Sex“ meist mit versteckten Vorwürfen und sie gerät in eine Abwehrhaltung. Auf seine Angriffe folgt ihre Verteidigung und es endet schließlich nach vermehrtem Rückzug in einem emotionalen Zustand der Tiefkühlung!

Erstaunlich ist, dass es Barbie, obwohl eingeschüchtert von den vielen Vorwürfen, immer noch gelingt, in ihrer mittlerweile defensiven Grundhaltung äußerlich freundlich und zugewandt zu bleiben. Er hingegen wird umso nachdrücklicher, je mehr er sich abgewehrt fühlt und erscheint Barbie dann wie „rasend zum Sex“.

Manchmal kommt es in so einer Situation dann doch noch irgendwie zum Sex. Aber dann heftet Ken sich das wie eine Auszeichnung an seine Brust. So kommt es Barbie zumindest vor. Zuletzt hatte sie nur noch das Gefühl, dass es in diesem Bereich für sie nichts mehr zu gewinnen gibt. Aus früherer Motivation entstand über die Jahre eine besondere Art der inneren Rebellion bzw. passiven Aggression.

Wie zu sehen, ist ein niedrigeres sexuelles Verlangen also weder ein schlechter Charakterzug noch eine behandlungsbedürftige Fehlfunktion, sondern lediglich ein Ausdruck der unterlegenen Position des einen Partner zum anderen. Allerdings ist diese Position relativ und veränderbar. Wenn z.B. Ken einmal in der Woche Sex haben möchte und Barbie nur einmal im Monat, dann wäre in dieser Konstellation Barbie die Verlangensschwächere. Aber wenn eine solche Frau mit einem unserer anderen männlichen Klienten in den Fourties und Fifties zusammen wäre, dann wäre es höchstwahrscheinlich andersrum. So sieht es leider aus zwischen den Laken der 1960er- und 1970er-Generation.

Hier nun kommt die gute Nachricht: Probleme mit dem sexuellen Verlangen markieren keineswegs das sich anbahnende Ende einer langfristigen Liebesbeziehung – auch wenn es sich so anfühlt. Und ganz viele Paare diagnostizieren dies leider vorzeitig und schlecht beraten als das Ende der Liebe und reichen die Scheidung ein. Aber Probleme mit dem sexuellen Verlangen sind nicht das Ende, sondern das Zentrum, die Mitte einer langfristigen monogamen Paarbeziehung. Hier entscheidet sich, was aus der Liebe werden soll – und aus den Liebenden.

Sie erinnern sich? Anfänglich genügte das Tosen der Hormone. Im mittleren Alter aber ist das sexuelle Verlangen verwobener geworden: In das, wie wir uns selbst sehen und vom Partner wahrgenommen und behandelt werden. Wer kennt das nicht: Eine unbedacht geäußerte herabsetzende Bemerkung reicht, um die aufkommende Lust im Keim zu ersticken. Sich in solchen Situationen dann nicht defensiv oder reaktiv zu verhalten, ist fast unmöglich, noch dazu, wenn man beständig als sexuell unzulänglich oder gar sexfeindlich eingestuft bzw. runter gestuft wird.

Unser Selbstempfinden, also das, was ich von mir selbst annehme, soll unser sexuelles Verlangen mehr beeinflussen als Wollust, Romantik und durch Oxytocin hervorgerufen Bindungsgefühle? Ja, genau! Jeder kann das leicht für sich selbst klären: Sind Sie mit sich selbst im Reinen? Fühlen Sie sich in Ihrer persönlichen Entwicklung da, wo Sie gern sein wollen oder gar sein sollten? Sind Sie bereits die gereifte Person, die es gilt zu sein, um das Beziehungs- und Liebesleben erfolgreich zu bestehen? Sind Sie mit sich selbst versöhnt? Und mit dem Partner auch? Oder hegen Sie etwa noch Groll? Kommt das innere Selbstgespräch nicht zur Ruhe? Da kann einem schon mal die Lust vergehen, oder etwa nicht?

In so einem Fall versagen einem die animalische Anziehung und Geilheit sowie die Wirkung von Dopamin, Testosteron und Östrogen ihre Dienste. Vorbei die Tage, wo man sagte: „Ich will jetzt Sex mit dir, weil ich geil auf dich bin!“ Vorbei die Romantik des „Ich liebe dich und mag jetzt gern Sex mit dir haben“. Was als letzte Bastion bleibt, ist die Bindungsliebe einer langfristigen Partner- und Elternschaft unter der Wirkung von Oxytocin und Vasopressin. Und wenn wir dann immer noch Sex haben wollen?

Viele Ehe- und Paarberater geben in solchen Konstellationen den wohlgemeinten Rat: „Just do it!“ Aber ohne Rücksicht auf das Selbstempfinden funktioniert das nicht. Denn wenn ich mit mir selbst nicht im Reinen bin, kann ich auch nur schwerlich Sex mit dem Partner haben. Wenn man in sich selbst immer wieder die Worte hört: „Das bin ich nicht.“ Niemand sollte nie die innere Triebkraft eines Menschen unterschätzen, der um seine seelische Eigenständigkeit und Integrität ringt. Dies zeigt sich oft in Kämpfen in der Partnerschaft um Identität, Autonomie, aber auch Zusammengehörigkeit. Erschreckenderweise wirken die Waffen dieses Kampfes negativ auf das sexuelle Verlangen. Es versagt schlicht seine Funktion. „Just do it“ geht darum nicht. Es provoziert lediglich zu der Reaktion: „Sag mir nicht, was ich zu tun habe!“

Im Beziehungssystem einer Liebespartnerschaft, fand Dr. David Schnarch in seiner langjährigen Praxisarbeit als Sexualtherapeut heraus, treten immer zwei Regeln auf:

  1. Es gibt immer einen Partner mit einem niedrigeren sexuellen Verlangen, ebenso wie es immer einen Partner mit einem stärkeren gibt.
  2. Der Partner mit dem schwächeren Verlangen aber hat die Kontrolle über den Sex – ob er will oder nicht. (Das gilt übrigens nicht nur im sexuellen Bereich, sondern überall da, wo ein Partner etwas nicht allein erledigen kann oder will. Bereiche wie Haushalt oder Verwandte, Hobbys oder Freunde. Derjenige, der weniger Lust darauf hat, boykottiert das Ganze und hat somit die Kontrolle darüber.)

Kommen wir nun noch einmal zurück zu Ken und Barbie. In deren Beziehungssystem erhält sie beständig zwei vollkommen widersprüchliche Botschaften. Einerseits hört sie: Du bist unzulänglich, weil du als meine Partnerin sexuell nichts leistest. Andererseits nimmt sie auf: Nur du, meine Schatz, kannst meine körperlichen und emotionalen Bedürfnissen erfüllen – und solltest mir diese Befriedigung nicht vorenthalten.

Das ist die Krux in Beziehungen: Dass man vom anderen etwas bezieht.

Ken bezieht von Barbie sein Selbst-Gefühl, attraktiv, begehrt, erwünscht und geliebt zu sein. Leider gibt sie ihm dieses Gefühl nicht so, wie er es gerne hätte und er ist nicht erwachsen genug, um sich das selbst geben und beibehalten zu können. Denn das ginge durchaus. Es gibt nämlich tatsächlich diese erwachsenen Männer, die sich zwar darüber freuen, wenn ihnen ihre Frauen so ein Gefühl geben, attraktiv, begehrt, erwünscht und geliebt zu sein. Aber wenn das nicht so in dem gewünschten Maß geschieht, dann bleiben sie dennoch bei sich und in ihrem Selbst-Gefühl stabil; sie haben gelernt, sich selbst Halt zu geben. Und das halten nicht nur Frauen für durchaus sexy.

Für Ken, der sich betont als selbstsicheren Mann gab, war das zunächst schwierig zu erkennen und sich selbst einzugestehen, dass er in seinem Selbstwertgefühl von seiner Frau abhängig war. Echte Liebe funktioniert nur in den Dimensionen der Anhänglichkeit – nicht Abhängigkeit! Das verwechseln leider sehr viele Paare und leiden unnötig darunter.

Einen Tag später schon – es war in der vierten Sitzung unserer Intensivberatung – wurden wir Zeugen, wie Ken die bittere Pille der Wahrheit schluckte. Er sagte: „Jetzt bin ich 49 Jahre alt und Vater von drei erwachsenen Kindern. Aber immer noch bin ich nicht in der Lage, mir selbst ein gutes und sicheres Gefühl zu geben. Seit ich denken kann, bin ich auf der Suche nach jemandem, der sich dafür zuständig machen lässt. In meiner Frau hatte ich schließlich so jemanden gefunden. Aber anstatt endlich satt zu sein und stark zu werden, habe ich Barbie bis zum letzten Tropfen ausgesaugt. Bis sie mir nichts mehr geben konnte. Als sie dann leer war, überkam mich die Angst: Ich könnte sie verlieren. Und ich dachte mit Schrecken daran, dass ich dann niemanden mehr hätte, der mir diese Gefühle geben würde. Ich habe ihr deswegen schlimme Vorwürfe gemacht. Das tut mir wirklich sehr leid. Höchste Zeit, endlich erwachsen zu werden!“

Auch wenn Ken deutlich daran zu kauen hatte, zeigte er Verantwortung für seine Fehler und Schwächen. Sichtlich enttäuscht über sich selbst, ließ er sich aber dennoch nicht hängen. Er durchlebte ein ganzes Spektrum von Gefühlsreaktionen. Man sah ihm an, wie niedergeschlagen er war und wie er mit sich kämpfte. Immer noch erschüttert trat er aber schließlich entschlossen aus dieser Situation hervor. Er hatte seine Gefühle nicht verleugnet und war zu seinen Bedürfnissen und Ängsten gestanden. Und er hatte eine Entscheidung getroffen: Endlich erwachsen zu werden und sich selbst ein gutes Selbst-Gefühl zu geben, das stark, stabil und fest genug ist, ohne gleich arrogant zu werden. Er hatte sich durchgerungen, sich künftig selbst Halt und Haltung zu geben und die Last von seiner Frau zu nehmen. Es war, als stünde die Zeit still und Barbie war sichtlich beeindruckt. Nicht nur sie.

In jener Nacht ergriff Barbie die Initiative. Das Erwachsen-Werden ihres Mannes hatte ihr Lust gemacht. Diesen ganzen Kerl wollte sie – und sie „nahm“ ihn, wie sie uns später am Telefon ganz begeistert mitteilte.

Gisela und Herbert Ruffer Gisela und Herbert Ruffer
HeilpraktikerIn für Psychotherapie

praxis@g-r-i-p-s.de

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