Glosse: E-N-T-S-C-H-L-E-U-N-I-G-E-N …mein Unwort des Jahres
Es ist Jahresende. Und wie immer: Draußen ist das Wetter trist und grau – und die Stimmung auch. Die Menschen rennen von A nach B über C, um irgendwelche Erledigungen zu machen. Für Leute, die sie gar nicht mögen. Um die Feiertage zu planen, die sie dann mit Menschen verbringen, obwohl sie eigentlich meinen: Das muss nicht sein! In den Geschäften wird krampfhaft nach einem passenden Geschenk gesucht, nur um irgendwas in der Hand zu haben und weil man das eben so macht. Am Ende sind die Geschenke zweitrangig und werden nach den Feiertagen eh wieder bei Ebay verkauft. Statt in der Karibik ein paar erholsame Tage zu genießen, wird die Vorweihnachtszeit genutzt, um auch die letzten Reserven der eigenen Kraft und Geduld endgültig zu verbrauchen.
In dieser Stresszeit, wenn wir uns wegen der Besorgungen abhetzen, wenn die Firmen ihren Geschäftsjahresabschluss mit schwarzen Zahlen wollen, die Wohnung glänzen soll wie Schloss Neuschwanstein (weil sich sonst irgendwer über Ihre Fähigkeiten zur Haushaltsführung mokieren könnte), kommt sicher irgendjemand mit diesem Wort daher. Einem Wort, das in dieser Zeit so oft genutzt wird wie Sonnencreme im Sommer: Entschleunigen. Ganz ehrlich: Ich mag dieses Wort nicht! E-N-T-S-C-H-L-E-U-N-I-G-E-N: Heißt das, dass wir sonst nur beschleunigen? Oder dass wir sonst schleunigst schnell unsere Arbeit machen sollen? Zügig durch den Alltag kommen, ohne anzuecken? Dass wir in Gesprächen das Miteinander vernachlässigen sollen, damit diese kurz gehalten werden und wir uns nicht zu sehr menschlich zeigen? Dass auf diesem Weg Konflikte klein gehalten werden? Und dass die eigenen Bedürfnisse erst gar nicht zum Tragen kommen?
Oder ist es eine Ableitung von „schlauchen“? Nach dem Motto: Ich bin erschöpft und platt wie ein Schlauch …
Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, dieses Entschleunigen! Überall trifft man Leute, die sagen: „Ich mag die Weihnachtszeit, da entschleunigt man so!“ Frage: An welcher Stelle, bitteschön? Gerade der Dezember, gerade das Jahresende ist die Zeit, in der die meisten Menschen krank werden, die Suizidrate am höchsten ist, die meisten Konflikte in den Familien entstehen oder eskalieren! Weil der Anspruch an das Fest der Liebe hoch ist und dem Ganzen eine schöne und gemütliche Adventszeit vorausgehen soll. In der Firma muss alles zum besten Abschluss gebracht werden. In den Schulen werden schriftliche und mündliche Leistungsabfragen durchgeführt, als hätten die Pädagogen eben erst erkannt, dass das erste Halbjahr sich dem Ende zuneigt. Zu Hause werden Plätzchen gebacken, als würde ein ungeschriebenes Gesetz existieren, in dem steht: Mindestens 2 Kilo, sonst erscheint der Weihnachtsmann nicht. Und dann kommt da einer, der sagt: „Ich mag die Zeit, weil man da so schön entschleunigen kann!“
Wenn ich das höre, dann habe ich folgende Fragen an diesen „Entschleuniger“:
1) Wann genau entschleunigen Sie denn? Gibt es einen Entschleunigungsmoment? Und wie nehme ich diesen wahr? Wird mir da ein großes Schild vor die Nase gehalten, das mich an diesen besonderen Moment erinnert?
2) Warum soll ich nur im Dezember entschleunigen? Kann ich mir nicht einen anderen Monat zum Entschleunigen aussuchen? Schließlich bietet mir das Jahr 12 Monate an.
3) Im Stress zu entschleunigen ist doch am Ende eine Farce. Oder meinen Sie mit Entschleunigen die Weihnachtsmarktbesuche, wenn wir von einem Glühweinstand zum nächsten hetzen, um uns dann am Folgetag über den Kater zu wundern?
Entschleunigen − was für ein Wort. Heißt das im Umkehrschluss, dass wir das ganze Jahr über nicht entschleunigen? Bedeutet das, dass wir nur 4 Wochen im Jahr Zeit haben dafür? Was ist denn mit dem Sommer? Die Jahreszeit, die wir zum Urlaub machen nutzen. In der wir die Seele baumeln lassen, Sonne tanken und einfach nur entspannt unser Dasein genießen? Bedeutet das, dass diese Auszeit keine Entschleunigungszeit ist? Sondern eine Bespaßungszeit? Oder was ist mit den Monaten im Frühjahr? Wenn die Tage endlich wieder länger und wärmer werden. Wenn die Knospen aufblühen und die Welt uns bunt zu Füßen liegt. Oder der goldene Oktober – was ist mit ihm?
Und was ist mit den ganz kleinen Momenten im Alltag? Die 10-Minuten-Meditation am Morgen, die Laufrunde am Abend, die Tasse Kaffee mit der besten Freundin? Sind diese Augenblicke nicht wesentlich wertvoller für die Gesundheit, da wir sie in unseren Tagesrhythmus integriert haben? Durch regelmäßige Auszeiten unterstützen wir unsere körperliche und geistige Gesundheit. Feste Rituale geben uns im Alltag Stabilität und Sicherheit. Rituale schaffen Raum für Neues, da wir uns nicht ständig neu organisieren müssen. Das wiederum nimmt uns Stress und Hektik. Das Hamsterrad kommt in diesem Moment zum Stehen und lässt uns durchatmen. Und trotz diesem Wissen wird im Dezember vom Entschleunigen gesprochen.
Laut Nachschlagewerk ist die Bedeutung für Entschleunigen folgende: „Zurückkehren zur Langsamkeit. Aktiv dafür sorgen, dass der Alltag nicht an uns vorbeirauscht und wir am Abend mit Drehwurm im Bett liegen.“ Klingt erstmal logisch und erstrebenswert. Warum allerdings dafür nur die letzten vier Wochen im Jahr verwenden? Warum in einem der hektischsten Zeitfenster, die das Jahr hergibt? Wenn es um die Besinnung auf die Langsamkeit geht, dann müssten doch alle tiefenentspannt sein. Stattdessen laufen die Menschen eilig und angespannt durch die Gegend auf der Suche nach Entschleunigung.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Weihnachtszeit, mit Menschen, die Sie gern haben; in einem Zustand, der Ihnen gut tut; mit Geschenken, über die Sie sich wirklich freuen − weil sie von Herzen kommen. Mit einem schönen Rückblick auf die Dinge und die Momente, die 2016 waren, und mit schönen Aussichten auf das, was 2017 vor Ihnen liegt. Damit Sie dann 2017 nicht nur 4 Wochen Zeit zum Entschleunigen haben, sondern sich das ganze Jahr mit sich und Ihrer Gesundheit beschäftigen können. Stets dafür sorgen, dass es Ihnen gut geht, Sie glücklich und fit sind. Dass Sie das ganze Jahr nutzen, um zu entschleunigen. Dass Sie in sich reinhören, was Ihnen wirklich gut tut. Sich kleine Auszeiten vom Alltag in Ihre Routine einbauen, um den Moment zu genießen. Dinge ausprobieren, bei denen Sie Ihre Komfortzone erweitern dürfen, um zu erfahren, wie stark und mutig Sie sind. Ich wünsche Ihnen eine erholsame Zeit, damit Sie Ende 2017 vielleicht, so wie ich heute, sagen: Entschleunigen − was für ein Unwort!
Jana Ludolf
Geprüfte Psychologische Beraterin (VFP),
Mediatorin und Familiencoach in Bad Blankenburg
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Psychotherapie