Blutegeltherapie
Hp Kurt W. Seifert
Leider bringen die Kollegen die Blutegeltherapie immer weniger zum Einsatz: der Zeitaufwand sei zu groß, die Egel beißen schlecht, der Patient ekle sich davor usw. Das sind die häufigsten Argumente.
Zugegeben: Der therapeutische Zeitaufwand ist größer als bei anderen Behandlungsformen; auch kann es manchmal zu Beißschwierigkeiten kommen. Aber sollte deshalb eine der interessantesten Therapien der Naturheilkunde in Vergessenheit geraten? Dass sich Patienten vor den Tierchen ekeln, habe ich in meiner langjährigen Praxis nur sehr selten erlebt, denn ich habe mir zur Angewohnheit gemacht, die Patienten durch Aufklärung vorzubereiten.
Was den Zeitaufwand betrifft: am besten ist, die Therapie nur an einem Tag in der Woche durchzuführen und für diesen Praxistag die “Egelpatienten” zusammenzufassen. Beißunlustige Tiere kommen vor. Mit der richtigen Technik jedoch ist auch das kein Problem (siehe Abb.).
Die Blutegeltherapie gehört zu den Umstimmungs- und Aus- bzw. Ableitungstherapien. Auch in der Schulmedizin hat der Hirudo medicinalis wieder Einzug gefunden. Allein im Klinikum Steglitz, Berlin, werden monatlich 6000 Egel für Umstimmungstherapien eingesetzt.
Geschichtliches
Die erste bekannte Erwähnung des Egels als Therapeutikum findet man in einer Schrift aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Sie stammt von Themison von Loadica aus Kleinasien. Er beschrieb die Behandlung von Entzündungen und Geschwüren aller Art, Kopfschmerzen, Regelverhaltung (Dysmenorrhoe), anhaltendem Fieber und Gallenkoliken mit Blutegeln.
In Europa erreichte die Egel-Therapie ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert -teilweise unter kuriosen oder gar tragischen Umständen: In Frankreich zum Beispiel wurden 60 bis 80 Egel in einer Sitzung (!) angelegt – ein Aderlass, den nicht jeder Patient heil überstand. Doch die Franzosen waren derart vernarrt in die blutsaugenden Tierchen, dass sogar eine blühende Industrie mit Stoffen entstand, die Egel-Muster in allen Facetten zeigten. Auf vielen historischen Bildern sind diese Stoffe noch heute zu sehen. Sie tragen den Namen “Robe à la Broussailles”.
Der große Rückschlag kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Virchows Organpathologie lehnte die Egel-Therapie ab. Außerdem begann das Chemotherapeutische Zeitalter; die “altmodische” Naturheilkunde wurde zunächst weitgehend verdrängt.
Allerdings: Durch Außenseiter kamen die Blutegel langsam wieder ins Blickfeld der alternativen Medizin. Der deutsche Arzt Bottenberg z.B. schrieb um 1875: “Altes Heilgut muss mit dem Heilgut der neueren Erkenntnisse zum Wohle der Patienten gepaart weren. Das Brauchbare soll vom Unbrauchbaren getrennt werden.”
1894 sprach Prof. Bäumler auf dem internationalen Internistenkongress in Rom über die günstigen Einflüsse der Blutegel in der Behandlung von Thrombosen. Bereits 1884 hatte Prof. Hayercraft von der Universität Birmingham in seinen experimentellen Arbeiten “die Wirksamkeit von Sekreten aus Blutegelextrakten” nachgewiesen. Sein Fazit: es liegt keine Toxizität vor, der Extrakt hat, außer einer Verlängerung der Gerinnungszeit, keinen Einfluss auf die Blutbeschaffenheit. Er wirkt in erster Linie gerinnungshemmend und leicht diuretisch.
Dem deutschen Biologen Friedrich Franz gelang 1903 die chemisch reine Darstellung von Hirudin. Es handelt sich, strukturmäßig, um eine Deuteroalbumose, die den Peptinen nahesteht, ein Antithrombin. Sein Angriffspunkt im Blut ist das Thrombin, an das es sich bindet.
Ein Milligramm Hirudin macht 30 ml Blut 48 Stunden ungerinnbar.
Hirudin wirkt:
- gerinnungshemmend
- beschleunigend auf den Lymphstrom (bei einer i. v. Injektion des Egelextraktes beschleunigt sich der Lymphstrom im Ductus thoracicus um das 7-10 fache!)
- antithrombotisch
- immunisierend (durch Belebung der Leukozyten)
Interessant für uns Behandler sind auch die Arbeiten des Biologen Lindemann in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, die nachweisen, dass nicht nur der Egelextrakt bzw. das Hirudin wirksam sind. Lindemann stellte fest, dass der Biss allein bereits ein therapeutischer Faktor ist, wirkt er doch reizend auf das betreffende Hautareal.
Basierend auf diese Erkenntnis entwickelte ich eine Kombination aus Akupunktur und Egeltherapie: Ich setze Egel auf Akupunkturpunkte an und habe zusätzlich zu den bekannten Phänomenen eine Fernwirkung!
1939 isolierte Lindemann aus dem Kopfextrakt des Egels den Wirkstoff Histamin. Er folgerte daraus – und meine Therapiekombination bestätigt es – dass das therapeutische Phänomen der Blutegeltherapie nicht allein vom Hirudin, sondern von der Verbindung Histamin+ Hirudin herrührt. (Es können zwar, ausgelöst durch das Histamin, in sehr seltenen Fällen allergische Erscheinungen auftreten. Diese Erscheinungen stehen jedoch in keinem Verhältnis zum praktischen Nutzen der Therapie, sie blieben in jedem Fall lokaler Natur und klangen nach wenigen Tagen ohne spezielle Behandlung ab.)
Beschaffung und Technik
Die Egel werden in der Apotheke bestellt, mit der Rezeptur “Rp. Hirudo med. Nr. X”.
Die Apotheken liefern Egel, bei denen bereits eine Darmwäsche vorgenommen wurde. In den meisten Fällen sind die Tiere gesund und vital. Achten Sie darauf, ob die Egel “Einschnürungen” am Leib aufweisen. Solche Tiere eignen sich nämlich nicht zur Behandlung.
Meist werden die Tiere in kleinen Salbendosen geliefert. Da diese Dosen zu klein sind, um die Egel zu entnehmen, ohne sie nervös zu machen, müssen sie zunächst in ein größeres Gefäß mit zimmerwarmem Wasser umgesetzt werden. Dieses Umsetzen muss außerordentlich vorsichtig geschehen, um Verletzungen der Tiere zu vermeiden. Gönnen Sie den Egeln danach eine Ruhepause, damit sie sich von dem Transportstress erholen können. Das größere Gefäß muss dicht abdecken. Ich selbst benutze ein kleines 10-Liter-Zuchtbecken (in jedem Aquariengeschäft erhältlich) und decke es mit einer Glasplatte ab, denn die Egel können ganz schön schnell auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Bereiten Sie das weiter benötigte Material vor: Sterile Mullauflagen, Zellstoff, Leukoplast. Für den Notfall sollten eine Venole oder eine Arteriole vorbereitet sein, muss Eisenchloridwatte bereitgehalten werden!
Einen guten Tip gab mir mein unvergessener Kollege Eugen Kemmerich: er benutzte zum flächigen Abdecken Damenbinden. Ihre außerordentliche Saugkraft gewährleistet einen guten und sauberen Verband, der niemals durchblutet. Denn die (therapeutisch wichtige) Nachblutung beträgt etwa 40-50 ml.
Der Hirudo med. ist empfindlich gegen Chemikalien jeder Art, zudem ist er außerordentlich wetterfühlig (bei einem Gewitter erlebte ich ein wahres Massensterben!). Egel beißen schlecht bei Barometerstürzen und bei Föhn. Man sollte deshalb in Kontakt mit dem Patienten bleiben und bei chronischen Erkrankungen die Behandlung ruhig um einige Tage verschieben. Sollten die Egel bei akuten Fällen gar nicht zum Beißen zu bringen sein, greifen Sie zu anderen geeigneten Therapien (evtl. Aderlass); die Nachbehandlung sollte jedoch, um eventuelle Rezidive zu vermeiden, mit dem Blutegel durchgeführt werden.
Der Patient darf 2-3 Tage vor der Behandlung keine Salben, Tinkturen oder Linimente, kein Parfüm oder Rasierwasser zur Hautpflege benutzen. Er sollte zur Behandlung möglichst ungewaschen kommen, denn auch die Duftstoffe der handelsüblichen Seifen irritieren die Egel sehr.
Zur Reinigung der Haut wird in der Praxis nur heißes Wasser verwandt. Die Haut des Patienten muss nicht mit Alkohol desinfiziert werden. Um die Egel zum Beißen zu reizen, kann auf die betreffende Hautstelle ein heißer Umschlag aufgelegt werden (Hyperämisierung). Weitere Bisserleichterungen sind Milch oder Zuckerwasser. Sehr gut hat sich ein leichtes Einritzen der Haut mit einer sterilen Kanüle oder mit einem sterilen Skalpell bewährt.
Entnehmen Sie die Egel immer nur mit der Hand, niemals mit einer Pinzette. Denn so wird das Tier nicht verletzt und der Patient gewinnt Vertrauen, wenn er sieht, dass der Behandler die Egel ohne jegliche Scheu anfasst.
Zeitsparend ist folgender Trick: Ich schneide von einer 10-ml-Spritze den vorderen Teil glatt ab und schiebe den Kolben bis ca. 2 cm vor die Öffnung. Nun setze ich den Egel vorsichtig hinein. Ich setze die Spritze mit dem Egel auf die zu behandelnde Stelle und sauge mit dem Kolben an. Die Spritze bleibt durch die Saugwirkung an ihrem Platz und der Egel kann nicht entweichen. Er wird mit Sicherheit schnell anbeißen. Nach dem Ansaugen kann ich mich sofort dem nächsten Punkt widmen. Dieser Trick klappt natürlich nur auf viel Muskelgewebe (Rücken, Lebergegend, Oberschenkel, Wadenmuskulatur, alle geeigneten Stellen im Gesicht).
Nach dem Anbeißen müssen die Egel durch Aufträufeln von Wasser feucht gehalten werden. Vorsicht beim Ansetzen in der Nähe der Augen! Auch in der Nähe von Körperöffnungen ist große Vorsicht angezeigt, denn die Tierchen verschwinden allzu gern darin. Ich denke da besonders an den Ansatz bei Hämorrhoiden, wobei der weibliche Patient beim Ansatz am Damm besonders gefährdet ist. (Vagina!) Ausgedehnte Varizen sollte man erst bei absoluter Sicherheit in der Technik angehen. Als gefährlicher Kunstfehler gilt, direkt auf einer Varize anzusetzen: die Nachblutung ist kaum zu stoppen!
Die Saugzeit beträgt 15-30 Minuten. Der Egel saugt dabei etwa zehn Milliliter Blut ein. Je nach klimatischen Bedingungen kann sich die Saugzeit auf 90-120 Minuten verlängern. Sind die Egel vollgesogen, fallen sie von selbst ab.
Einmal verwendete Egel sind nicht wieder zu gebrauchen, weil sie u.a. mit der abgesaugten Blutmenge bis zu drei Jahre “gesättigt” sind. Sie werden in einem Extrabehälter gesammelt und mit Äther schnell und schmerzlos getötet.
Die Nachblutungen aus dem Gewebe dauern ca. 6-10 Stunden und sollen möglichst nicht gestoppt werden, da sonst ein großer Teil der Therapiewirkung verloren geht. Kontrolle durch den Therapeuten (evtl. Hausbesuch) ist unerlässlich.
Hämostyptika zeigen übrigens keine Wirkung, da das gerinnungshemmende Sekret um die Bissstelle gespeichert ist und erst nach 24 Stunden resorbiert wird. Spätestens nach 24 Stunden sollte ein Verbandswechsel folgen.
(Im nächsten Heft: Wirkungen, Indikationen der Blutegeltherapie)
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