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Naturheilkunde
Lesezeit: 5 Minuten

Lyrischer Spaziergang durch einen klösterlichen Kräutergarten

r9803_kg1“…Was für ein Land du immer besitzt, und wo es sich finde,
Sei’s, daß auf sandigem Strich nur totes Geschiebe verwittert,
Oder es bringe aus fetter Feuchte gewichtige Früchte,
Liegend auf ragenden Hügeln erhöht oder günstig in weiten
Ebenen Feld oder lagernd geschmiegt an die Lehne des Tales,
Nirgends weigert es sich, die ihm eignen Gewächse zu zeugen,
Wenn deine Pflege nur nicht ermattet in lähmender Trägheit,
Nicht sich gewöhnt zu verachten den vielfachen Beistand des Gärtners…”

Im Jahre 809 wird Walahfried “am schwäbischen Meer”, dem Bodensee, geboren. Schon in früher Kindheit führt sein Vater, der freie Alemanne Ruadhelm, seinen Sohn dem Benediktinerkloster auf der Rheininsel Reichenau zu. Mit sechzehn Jahren wird er 825 als Mönch aufgenommen. Wegen eines Augenfehlers nennt man ihn den “Schielen”, was mit an seinen Namen angehängt wurde, so daß seine literarische Erwähnung Walahfried von der Reichenau oder Walahfried Strabo ist. Er hat unter der Gunst des kaiserlichen Pfalzkapellans Grimalt die einmalige Möglichkeit, neben der klassischen, strengen Klosterausbildung, sich mit den medizinischen Werken der Griechen und Römer auseinanderzusetzten. Außerdem erhält er die Gelegenheit, Wanderjahre nach Fulda, Aachen und ins restliche Reich zu unternehmen.
Im Jahre 838, noch nicht einmal dreißigjährig, wird er vom Kaiser zum Abt seines Klosters auf der Reichenau ernannt. Sein Gönner Grimalt hat den Abtstab derzeitig in St. Gallen inne und so werden die beiden Klöster durch deren Führungsfreundschaft zum Zusammenwuchs veranlaßt.
Am 18. August 849 fällt Walahfried bei einer Reise im Auftrag seines Kaisers nach Tours beim Überschreiten der Loire einem Unglücksfall zum Opfer. Seit 860 ist sein Todestag als Gedenktag aller Äbte des Benediktinerklosters auf der Reichenau eingesetzt.

Walahfried,der begnadete Poet (Strabi/Galli poetae et theologi doctissimi), ist mit seinem Werk “Liber de cultura hortorum”, oder kurz “Hortulus” genannt, in die Geschichte eingegangen. Es handelt sich um eine der frühesten Darstellungen deutscher Kräuterkultivierungen, nur dem”Capitulare de villis imperialibus” vergleichbar,das um 800 geschrieben wurde. Dieses vor dem “Hortulus” abgefaßte Werk gibt die Gartenpflanzenliste der Karolingerzeit wieder.

Walahfried zeigt in Versform dreiundzwanzig Heilpflanzen auf, welche bis auf “ambrosia” unschwer zu identifizieren sind: 

  • salvia (Salbei, Salvia officinalis)
  • ruta (Raute, Ruta graveolens)
  • abrotanum (Eberreis, Artemisia abrotanum)
  • cucurbita (Flaschenkürbis, Lagnaria vulgaris)
  • pepones (Melone, Cucurbita melo)
  • r9803_kg2absinthium (Wermut, Artemisia absinthium)
  • marrubium (Andorn, Marrubium vulgare)
  • feniculum (Fenchel, Foeniculum capillaceum)
  • gladiola (Deutsche Schwertlilie, Iris germanica)
  • libysticum (Liebstöckel, Levisticum officinale )
  • cerefolium (Gartenkerbel, Anthriscus cerefolium)
  • lilium (Lilie, Lilium candidum)
  • papaver (Schlafmohn, Papaver somniferum )
  • sclarea (Muskateller-Salbei, Salvia sclarea )
  • mentha (Minze, Mentha viridis )
  • pulegium (Poleiminze, Mentha pulegium)
  • apium (Sellerie, Apium graveolens)
  • betonica (Betonie, Betonie officinalis)
  • agrimonia (Odermennig,Agrimonia eupatoria)
  • ambrosia (nicht genau identifizierbar)
  • nepeta (Katzenminze, Nepeta cataria )
  • raphanus (Rettich, Raphanus sativus )v
  • rosa (Gartenrose, Rosa gallica )

Die meisten Gewächse stammen aus dem Süden, “germanische” Heilpflanzen, abgesehen vom Wermuth, der Betonie und dem Odermennig, sind keine zu, finden. Mehr als die Hälfte der Kräuter sind starkaromatisch riechende Pflanzenvorzüglich aus der Familie der Lippen-, Korb- und Doldenblüter.

Zu den bekanntesten und häufigsten Gartenpflanzen zu Strabos Zeitgehören die Minzen. Diese werden auch überschwenglich in seinen Versen dargestellt. So schreibt er beispielsweise zur Poleiminze: “Nicht erlaubt des Gedichtes Kürze, die Tugend alle / Dieser Minze Polei in eilendem Vers zu erfassen, / Soviel soll bei den kundigen Ärzten der Inder sie gelten, / Wie bei den Galliern wert ist ein ganzer Vorrat des schwarzen Indischen Pfeffers.”
Fast 350 Jahre später schreibt Hildegard von Bingen in ihrer “Physica” genauso überschwenglich über diese, im Mittelalter sehr beliebte Minzart:
“De Poleya, Cap. 1-126
Die Polei hat angenehme Wärme, und ist trotzdem feucht, und von folgenden fünfzehn Kräutern hat sie eine Kraft in sich, nämlich Zitwer, Gewürznelken, Galgant, Ingwer, Basilienkraut, Beinwell, Lungenkraut, Osterluzei, Schafgarbe, Eberraute, Engelsüß, Odermennig, Stur, Storchenschnabel, Bachminze.”

Wenn aus den Walahfriedschen Versreihen beispielsweise der Fenchel herausgenommen wird, so lobt er diesen vor allem wegen seiner carminativen Wirkung:
“Auch die Ehre des Fenchels sei hier nicht verschwiegen: er hebt sich
Kräftig im Sproß, und er streckt zur Seite die Arme der Zweige.
Ziemlich süß von Geschmack und süßen Geruchs des gleichen.
Nützlich sein soll er den Augen, wenn Schatten sie trübend befallen.
Und sein Same, mit Milch einer Mutterziege getrunken,
Lockere, so sagt man, die Blähung des Magens und fördere lösend
Als bald den zeudernden Gang der lange verstopften Verdauung.
Ferner vertreibt die Wurzel des Fenchels, vermischt mit dem Weine,
Trank des Lenaeus, und so genossen, den keuchenden Husten.”

Um “ambrosia” gibt es viele Spekulationen. Es wird sich sicherlich nicht um Ambrosia maritima L. handeln, denn diese Standardpflanze der Mittelmeerländer ist nie in Gärten angebaut worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um die krausblättrige Form des Rainfams (Tanacetum vulgare f. crispum):
“Nahe erhebt sich der Rainfarn, Ambrosia, wie er gewöhnlich
Heißet. Man lobt ihn zwar sehr: aber manche bezweifeln doch, ob es
Jene Ambrosia sei, die die Bücher der Alten so häufig nennen.
Gleichwohl verwenden in ihrem Beruf die Ärzte
Ihn als Arznei: er entzieht, als Mittel getrunken, dem Körper
So viel Blut, wie er Säfte ihm heilsam wiedrum zuführt.”

In Wien wird 1510 von dem namhaften St. Gallener ärztlichen Humanisten und späteren Staatsmann Joachim von Watt (1484-1551) der “Hortulus” verlegt. Das Werk erscheint in einer neuen wiederentstandenen karolingischen Schrift, einer feinen Antiqua. Autor und Verleger, beide vom “schwäbischen Meer’, reichen sich so nach beinahe siebenhundert Jahren die Hand.

Literatur: K. Sudhoff/E. Weil/H. Marzell: Hortulus
Hildegard von Bingen: Physica

Peter Germann, Köln-Berliner-Str. 9,44271 Dortmund

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