Multiple Persönlichkeitsstörung, Traumabearbeitung, Traumasynthese
Teil 4
Während und durch die Traumabearbeitung wird das Trauma zum ersten Mal bewußt in seiner Gesamtheit wahrgenommen, als ein zeitlich begrenztes Ereignis, das die Gesamtpersönlichkeit überlebt hat und nun integrieren kann. Traumaexploration: d.h. eruieren, mit welchem Trauma begonnen werden soll, welches Trauma entscheidend ist. Alle am Trauma beteiligten Innenpersonen müssen das Trauma miteinander und mit mindestens einem erwachsenen Persönlichkeitsanteil teilen. Dazu muß die vollständige Geschichte des Traumas erarbeitet und aufgeschrieben werden, von
T 0 = was unmittelbar vorher geschah, bis T 10 = was unmittelbar nach Beendigung des Traumas geschah.
Es ist ratsam, das Trauma in zehn Schritte aufzuteilen, von T 0 bis T 10. Nach Abklärung der o.g. Punkte kommen alle am Trauma beteiligten und die “mittragenden” Innenpersonen zusammen, konzentrieren sich, unterstützen sich und erklären sich bereit, möglichst zu hundert Prozent ihre Erfahrungen miteinander zu teilen und in einer begrenzten Zeit (z.B. während die Therapeutin von 1 bis 10 zählt und dabei jeweils ein Stichwort zu der entsprechenden Phase des Traumas nennt) zu durchleben. Unterbrechungen sind natürlich möglich, es muß geklärt sein, welche Person dann wieder die Kontrolle über den Körper bekommt und sich in Raum und Zeit orientiert.
Das BASK – Modell von Braun hilft, alle Bestandteile der traumatischen Erinnerung in die Bearbeitung einzubeziehen:
B = Behavior (Verhalten)
A = Affect (Affekt, beteiligte Gefühle)
S = Sensation (Körperempfindungen)
K = Knowledge (Gedanken und Wissen um das Traumageschehen)
Durch das Zählen von 1 bis 10 entsteht eine zeitliche Begrenzung. Falls es der Klientin zuviel ist, alle Traumabestandteile auf einmal zu durchleben, kann auch eine fraktionierte Traumasynthese vorgenommen werden. Dabei wird das Trauma zunächst auf einer Leinwand angesehen, ohne Gefühle bzw. Körperempfindungen. Dann wird z.B. ein Gefühl nach dem anderen hinzugenommen:
- Angst,
- Trauer,
- Wut,
- Schmerzen,
- Lustgefühle,
- Schuld- und Schamgefühle etc.
Oder es wird nur jeweils ein “Buchstabe” des BASK-Modells behandelt oder nur ein Teil des gesamten Traumas. Nach jedem Durchgang der Traumasynthese wird abgeklärt, zu wieviel Prozent das Trauma (bzw. die jeweiligen Traumabestandteile) miteinander geteilt werden konnte. Wurden noch keine 100 Prozent erreicht (z.B. fehlte noch das Durchleben der Todesangst), wird ein neuer “Durchgang” vorgenommen. Wenn alle Empfindungen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Trauma zu 100% durchlebt wurden, neutralisiert sich das Trauma, d.h. es verliert seine aktuelle Brisanz und kann im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Während bzw. nach der Bearbeitung eines Traumas kann es zur Integration der am Trauma beteiligten Innenpersonen kommen, in der Regel verbessert sich auf jeden Fall die interne Kooperation. Die Traumasynthesesitzung wird mit einer positiven Imagination, z.B. alle Innenpersonen versammeln sich im Innern und werden in ein warmes, helles Licht getaucht, das alle Schmerzen, Qualen und Ängste auflöst bzw. mildert, beendet.
Auswirkungen erfolgreicher Traumabearbeitung:
- Symptomreduzierung
- Verbesserte interne Kooperation
- Integration von Persönlichkeitsanteilen
- Beendigung von Zwangshandlungen
- Lösung der existentiellen Krise, die mit diesem Trauma verbunden war
- Neue Möglichkeit, das Ereignis in die Lebensgeschichte einzuordnen
- Positives Selbstwertgefühl und ICH-Stärkung
- Positive Verhaltensänderungen, die von außen beobachtbar sind
- Nachintegrative Arbeit
Der erwachsene Persönlichkeitsanteil bzw. die Gesamtpersönlichkeit erkennt an, was geschehen ist und kann darüber in einem umgrenzten Zeitraum und mit bewältigbaren Affekten sprechen und sich dann anderen (Alltags-) Aktivitäten widmen. Vorübergehende Überblendungen und Integrationen zu dauerhafter Fusion von Persönlichkeitsanteilen und – wenn möglich – der Gesamtpersönlichkeit anbieten. Bearbeitung kognitiver Irrtümer und Verzerrungen (“So etwas passiert nur mir”, “Das ist mir nicht passiert”, “Ich bin selbst schuld” etc.)
Trauerarbeit
- Erarbeitung alternativer Konfliktlösungsmöglichkeiten
- Erarbeitung realistischer (Lebens-) Ziele und Unterstützung beim Anstreben derselben.
Durch die Bearbeitung der Traumata, in deren Verlauf “Personen” abgespalten werden, kann die durch Traumata entstandene Abspaltung rückgängig gemacht werden. Außerdem können die im Trauma abgespaltenen “Personen” in die “Gastgeberin” integriert werden.
Im Laufe der Integration ihrer traumatisierten “Personen” müssen Multiple vor allem eines durchmachen: einen Prozeß des Trauerns. Van der Hart et al. (1993) haben dies anschaulich beschrieben: “Die Klientin muß lernen, zutiefst um die verlorene Kindheit zu trauern, die sie nie “wiedergutmachen” kann; um die Einsamkeit und den Schmerz, die da waren und dauerhaft ertragen werden müssen; um verlorene Zeit, Geld, Ausbildung, Jobs, Beziehungen und die Energie, die sie damit zubringen mußte, das Trauma zu verdrängen oder mit seinen Auswirkungen zu kämpfen; und schließlich um die schreckliche Tatsache, daß sie dies den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen muß. Doch die Trauer, mit all ihren Schmerzen und ihrer Qual, bedeutet letztlich Heilung. Sie ermöglicht es der Überlebenden, unrealistische Erwartungen aufzugeben, anzuerkennen, was ‘ist’, und sich daher voll in der Gegenwart zu orientieren, mit neuer Klarheit und Bewußtheit, aber auch mit neu gefundener Weisheit.”
Integration und Fusion sind Prozesse, während deren die Klientin zum ersten Mal in ihrem Leben Einsamkeit überwindet. Als TherapeutIn kann man bei der Integration der Klientin schützend zur Seite stehen, indem man mit allen “Personen” spricht, um festzustellen, daß die Integration keine negativen Auswirkungen haben wird. Eventuell müssen Ängste anderer “Innenpersonen” vor der dann so mächtigen integrierten “Person” geklärt werden. Dabei hilft, die “Personen” so zu ordnen und innerpsychisch in Sicherheit zu bringen, daß der Integrationsprozeß nicht gestört wird. Mit der Klientin besprechen, welche “Innenpersonen” bei der Integration helfen können; die beiden “Personen”, also diejenigen in die integriert wird, und diejenige, die integriert wird, herausholen und mit ihnen klären, daß sie beide für das gesamte Persönlichkeitssystem sehr wertvoll waren, daß kein Merkmal und keine Eigenheit von ihnen verschwinden wird, sondern daß es darum geht, daß beide diese miteinander teilen und sich noch zugehöriger fühlen können.
Die anderen “Personen”, die bei der Integration “zusehen” bzw. “helfen” wollen, bitten, sich in einer für die beiden angenehmen Weise um sie zu versammeln und ihnen liebevoll und fürsorglich Energie zu schenken. Die beiden “Personen” bitten, einander nahe zu kommen, so nahe, daß sie schließlich miteinander verschmelzen können, wobei sie darauf hinweist, daß dieser Prozeß jederzeit gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann. alle Beteiligten bitten, sich Zeit zu nehmen, diesen Integrationsprozeß intensiv zu erleben und sich daran zu freuen, daß diese beiden für alle so wichtigen “Personen” jetzt eins werden können. Die integrierte “Person” bitten, anzuzeigen, wann sie den Prozeß (für heute) für abgeschlossen hält, und sich zu äußern, wie es ihr jetzt geht. (Bei gelungener Integration) alle Beteiligten auffordern, wenn sie mögen, ein Fest für die integrierte “Person” zu feiern und ihr zu helfen, sich im Persönlichkeitssystem und ihrer Interaktion mit der Außenwelt zurechtzufinden. (Bei nur teilweiser Integration oder beim Mißlingen) die Beteiligten bitten, herauszufinden, warum der Prozeß unterbrochen oder abgebrochen werden muß und evtl. vorschlagen, es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu versuchen und in der Zwischenzeit die noch vorhandenen Widersprüche und Schwierigkeiten zu klären.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch allmählich eine Co-Bewußtheit her. Zuerst zwischen den “Personen” einer “Gruppe”, dann zwischen immer mehr Persönlichkeitsanteilen, bis schließlich die Amnesien aufhören. Co-Bewußtheit ist der Zustand, bei dem eine Multiple ihre “Anteile” kennt, sie weiß um sie, sie kann sie fragen und sie bitten, ihr zu helfen. Sie kann einzelne Persönlichkeitsanteile gezielt nach außen bringen und andere zurückhalten und sie “verliert keine Zeit” mehr. Sie kann “dabei bleiben”, wenn ein anderer nach außen agiert, sie spürt, was dieser Anteil fühlt und denkt, und sie hat keine “Blackouts”, keine Amnesien mehr im Tagesbewußtsein. Michaela Huber beschreibt dies in ihrem Buch so: Im engeren Sinne der klinischen Definition hat sie damit aufgehört, multipel zu sein.
Phase 7 – 9 (Erlernen neuer Verarbeitungsmöglichkeiten; Stabilisierung es Erreichten;
Nachsorge)
Diese Phasen werde ich an dieser Stelle zu einem Punkt zusammenfassen. Auch wenn die Klientin
nicht mehr multipel ist, bleibt noch viel zu bearbeiten. Es gibt Störungen, die nicht automatisch durch die
Integration bzw. Fusion verschwinden (z.B. Eß-, Schlafstörungen etc.). Auch ist die evtl. noch vorhandene
Borderline-Persönlichkeitsstruktur nicht zu unterschätzen. Die Klientin neigt dann dazu, andere Menschen erst zu
idealisieren und dann abzuwerten, kann spalten oder mit Suizid drohen, wenn sie nicht weiter weiß. Weitere wichtige
Themen sind: die Trauerarbeit um die verletzte und zerstörte Kindheit; die Schuldfrage etc.. Michaela Huber beschreibt
das, was jetzt an psychotherapeutischer Arbeit geleistet werden muß mit “therapeutischer Alltagsarbeit”; nur, daß
meist mit Affekten und mit Erlebtem umgegangen werden muß, das die grausame Erfahrung und die Todesnähe der
Betroffenen widerspiegelt und in Rechnung stellen muß. Die Klientin muß andere Abwehrmöglichkeiten erlernen, denn sie
kann sich jetzt nicht mehr auf die Dissoziierung verlassen. Es gilt für die Gesamtpersönlichkeit,
Bewältigungsstrategien für Krisen und Streßsituationen zu erlernen, so daß sie “da bleiben” kann. Sie muß lernen, zu
dem zu stehen, was sie sagt und tut, es zu verteidigen, zu verhandeln, Kompromisse zu schließen, nachzugeben oder die
negativen Konsequenzen ihres Verhaltens zu ertragen.
Nachwort
Ich hoffe, die wichtigste Botschaft dieser Arbeit ist verständlich herausgekommen:
Multiple haben die Spaltung in verschiedene “Personen” gelernt, und sie kann wieder “verlernt” werden. Dazu ist eine
sehr sorgfältige therapeutische Begleitung in der Traumabearbeitung und Integration nötig. Für die zu betreuende
Klientin bedeutet dies, daß sie noch einmal durch die Hölle gehen muß, sie muß das Grauen, die Traumata noch einmal
durchleben. Leider gibt es im deutschsprachigen Raum noch zu wenig Psychotherapeuten/ innen, die gelernt haben,
systematisch diese spezielle Arbeit durchzuführen, um Multiplen zu helfen. Ein nicht zu unterschätzendes Argument
vieler Psychotherapeuten/innen gegen die Arbeit mit MPS besteht in der Angst vor der Wucht der Affekte und der
Befürchtung heftiger Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, die zum Teil in den “Innenpersonen” “pur”
vorzufinden sind.
Trotzdem sollte man darüber nachdenken, daß diese Menschen Entsetzliches durchgemacht haben und nun während der Arbeit mit guten Psychotherapeuten, die Chance haben, zu wachsen, zu heilen, soweit es nur möglich ist, und ihr Leben auf eine nie gekannte Weise in die Hand zu nehmen. Die Therapeuten einer multiplen Persönlichkeit sind zu ganz besonders sorgfältiger Arbeit verpflichtet. Sie müssen alle Persönlichkeitsanteile an- und ernst nehmen. Sie müssen bedenken, daß sie eine “Gruppentherapie” mit einer Person durchführen. Sie müssen die Klientin genau beobachten und Switches erkennen und sich ihrem Wortschatz, der “Person”, die gerade “draußen” ist anpassen (z.B. bei Kindern). Sie müssen damit rechnen, daß sie immer und immer wieder auf die Probe gestellt werden und daß immer wieder “Personen” auftauchen, die zynisch oder ablehnend reagieren und/oder auf Therapieabbruch drängen. Sie müssen mit erheblichem Widerstand und immer wiederkehrendem Mißtrauen rechnen. Doch sie sollten sich auch, um sich nicht entmutigen zu lassen, in Erinnerung rufen: Die Multiple hat immer wieder erlebt, daß die Menschen, denen sie am meisten vertraut hat, sie verraten und mißhandelt haben.
Abschließend möchte ich noch ein positives Ergebnis der Studie von der amerikanischen Psychologin Nancy PERRY aus dem
Buch von M. Huber nennen: Viele der von ihr Befragten äußerten die Überzeugung, die Arbeit mit ihrem
dissoziierten Klientel habe sie in ihrem Leben bereichert und vorwärtsgebracht.
Sie waren in der Lage
anzuerkennen, wie sehr diese wichtige Arbeit:
- ihre persönlichen Beziehungen wertvoller für sie werden liessen;
- dazu geführt hat, daß sie sich vermehrt mit Fragen ihrer eigenen Spiritualität auseinandersetzten;
- ihnen ein stärkeres Gefühl der Hoffnung verlieh;
- sie persönlich wachsen liessen;
- sie empfindsamer für andere Lebewesen machte.
Die Bewußtwerdung und Integration einer Lebensspanne oder im besten Falle einer ganzen traumatisierten Kindheit ist eine gewaltige Aufgabe, die aller Fertigkeiten der Therapeutinnen, aller Energie und Motivation der Patientinnen und einer sehr starken therapeutischen Verbindung bedarf. Über den Prozeß ist immer noch viel zu lernen. Viele Fragen zu traumaorientierten Therapiemodellen sind noch offen, es bleibt viel zu tun. Deshalb wünsche ich mir, daß über die Gewalt, die Kindern angetan wird, gesprochen wird und das Berater/innen und Therapeuten/ innen aufmerksamer für Signale einer möglichen multiplen Persönlichkeitsstörung werden.
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