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Psychotherapie
Lesezeit: 11 Minuten

Von Widerstand und Eigensabotage

Warum manche Patienten ihr Leiden behalten wollen

© Gina Sanders -Fotolia.comJeder Therapeut – ganz gleich ob er mehr somatisch oder mehr psychisch arbeitet – kennt das Phänomen, dass seine Maßnahmen beim Patienten einfach nicht anschlagen und die beklagten Beschwerden mehr oder weniger bestehen bleiben. Nicht selten führt das zu Zweifeln an unseren eigenen Fähigkeiten, an den eingesetzten Methoden und Mitteln oder aber auch zu Schuldzuweisungen an den Patienten nach dem Motto: „Der will gar nicht gesund werden!” Damit ist jedoch die Chance vertan, noch zu einer sinnvollen Kooperation und zu einer erfolgreichen Behandlung bzw. Heilung zu kommen.

Natürlich lässt sich das genannte Phänomen bei unseren Patienten immer wieder einmal beobachten und kann auch Anlass für eine kritische Überprüfung des eigenen Vorgehens, der gewählten Methoden und der Therapeut-Patient-Beziehung sein.

Verschiedene psychologische und kinesiologische Richtungen haben jedoch auch hilfreiche Erklärungen gefunden, deren Kenntnis uns vor negativen Urteilen bewahrt und gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, doch noch zum Ziel zu gelangen. So haben Sigmund Freud und andere Psychoanalytiker schon früh auf die Phänomene des Widerstands in der Therapie sowie des primären und sekundären Krankheitsgewinns aufmerksam gemacht. Dabei werden unter „Widerstand” Verhaltensweisen des Patienten verstanden, die ihm unbewusst dazu dienen, sich vor dem Bewusstwerden bestimmter Triebwünsche, belastender Erinnerungen oder innerseelischer Konflikte zu schützen. Der „primäre” Krankheitsgewinn besteht dann darin, dass die Balance im innerseelischen Haushalt gewahrt bleiben kann – allerdings um den Preis, dass die ausgeprägten psychosomatischen Symptome, die in der Regel zugleich symbolischer Ausdruck und neurotischer Konfliktlösungsversuch des Patienten sind, in dieser Doppelfunktion bestehen bleiben. Unter dem „sekundären” Krankheitsgewinn versteht man dagegen die Vorteile, die ein Patient aus seiner sozialen Umgebung bekommen kann – wie vermehrte Rücksichtnahme, Schonung und Entlastung einerseits und verstärkte Zuwendung, Aufmerksamkeit und sogar Wertschätzung andererseits. Solche Erfahrungen mit dem Kranksein machen wir meist schon als Kinder und greifen dann unbewusst in Krisenphasen und vor allem auch bei chronischen Erkrankungen darauf zurück. Allein diese primären und sekundären Gewinne können im innerseelischen Haushalt schwerer wiegen als die Leiden, Schmerzen und sonstigen Einschränkungen, die mit einer bestimmten Erkrankung verbunden sind.

Die Schwierigkeit im therapeutischen Umgang mit solchen Mustern besteht nun gerade darin, dass sie dem Betroffenen nicht bewusst sind und dass er sie auch ableugnen würde, wenn man sie ihm quasi unterstellt. Außerdem können wir – auch bei bestem Einfühlungsvermögen – nicht sicher wissen, welche Art von Gewinn unser Patient bei einer bestimmten Symptomatik vielleicht hat. Hier bietet nun die Psychosomatische Kinesiologie® durch den gezielten Einsatz des Muskeltests entscheidende Vorteile: Durch die eigene Muskelreaktion als Körperbiofeedback erlebt der Patient selbst, wie seine innere Haltung zu seinen Beschwerden ist, ob er mit all seinen inneren Anteilen gesund werden will – oder ob es hier einen „Haltungskonflikt” oder eine „Psychologische Umkehr” gibt.

Diese beiden Begriffe stammen aus den Forschungen und therapeutischen Erfahrungen von Dr. Roger Callahan, einem amerikanischen Psychologen, der Anfang der 1980er-Jahre die Kinesiologie kennenlernte und einige wichtige Elemente daraus in sein praktisches Vorgehen übernahm. In seinem Buch „Leben ohne Phobie” (Freiburg, 4. Aufl. 2009) beschreibt er anschaulich, wie er in der Behandlung einer übergewichtigen Patientin diese Phänomene entdeckte: Nachdem sie schon länger auch bei wechselnden therapeutischen Strategien keinerlei Fortschritte hinsichtlich ihrer Gewichtsreduktion gemacht hatte, ließ Dr. Callahan sie einfach mal folgende Statements aussprechen: „Ich will 20 kg abnehmen und mein Zielgewicht erreichen!” und umgekehrt: „Ich will noch 20 kg zunehmen und mein Zielgewicht nicht erreichen!” Zur Verblüffung beider zeigte der Muskeltest nach dem ersten Satz ein inneres „Nein” – die Patientin konnte dem gleichmäßig ausgeübten Testdruck des Therapeuten nicht standhalten – und nach dem zweiten Satz ein inneres „Ja” – die Arme blieben bei gleichem konstanten Druck in derselben Höhe und die Spannung in den Testmuskeln änderte sich nicht! Dass solche ideomotorischen Signale verlässlich innere Einstellungen und unbewusste Haltungen zeigen können, ist aus der hypnotherapeutischen Arbeit schon lange bekannt. Der Vorteil der Kinesiologie gegenüber der Hypnose besteht darin, dass die getestete Person im Wachzustand bleibt und ihre eigene Körperantwort unmittelbar an sich spüren und beobachten kann. Damit wird ihr auch klar, dass es sich hier nicht um irgendwelche Unterstellungen oder „Deutungen” des Therapeuten handelt, sondern um ein Spiegelbild ihrer eigenen inneren Verfassung.

Nun kann man sich lebhaft vorstellen, wie entsetzt Dr. Callahans Patientin über ihre eigene Körperantwort und die sich darin zeigende „Psychologische Umkehr” war – hatte sie doch schon viel Zeit, Mühe und Geld in verschiedene Therapien investiert! Und das scheinbar völlig vergebens!

Callahan erklärte sich und seinen Patienten dieses Phänomen vor allem mit der „Angst vor Veränderung”, die innerseelisch nicht selten stärker sei als der Mut, etwas Neues zu wagen – nach dem Motto: „Manchmal lieben wir bekannte Höllen mehr als unbekannte Himmel!” Ihm kam es deshalb zuallererst darauf an, diese Angst vor Veränderung zu minimieren, um damit dann den Weg zur Bearbeitung und Lösung des eigentlichen Problems frei zu machen. Dazu bediente er sich einer neuen Technik, bei der einerseits der sogenannte Befreiungspunkt, der Akupunkt „Dü 3” am Kleinfingergrundgelenk auf der Außenkante der Hand, beklopft wird und andererseits gleichzeitig Affirmationen zur Stärkung der Selbstachtung gesprochen werden – denn die kann doch in dem Moment sehr beeinträchtigt sein, in dem man bei sich entdeckt, dass man mindestens unbewusst sein Leiden behalten will! Die klassische Affirmation lautet dann z.B.: „Trotz dieses inneren Widerspruchs liebe und akzeptiere ich mich voll und ganz!”

2012-03-Widerstand2

Diese einfache und geniale Technik verringert ganz offensichtlich die hemmende Angst vor einer noch unbekannten Veränderung und polt uns in die richtige Richtung um – wenigstens für eine gewisse Weile. Und diese Zeitspanne kann und sollte nun therapeutisch genutzt werden, um weitere Schritte auf die Heilung zuzugehen. In vielen Verfahren der sogenannten Energetischen Psychotherapie und Selbsthilfe, z.B. bei der „Emotional Freedom Technique” (EFT) des Callahan-Schülers Gary Craig, spielt die Auflösung der Psychologischen Umkehr eine herausragende Rolle. Und auch nach meinen eigenen Erfahrungen in rund 20 Jahren Praxis mit der Psychosomatischen Kinesiologie® hat sich Callahans Grundsatz immer wieder bestätigt, dass es nämlich ohne Auflösung des inneren Widerstandes oder der inneren Widersprüche beim Patienten keinen therapeutischen Erfolg und keine Heilung gibt – und das unabhängig von der Art der Beschwerden, ob sie nun mehr körperlicher oder mehr seelischer Art waren. Nicht verheilende Wunden sind dafür insofern ein anschauliches Beispiel, weil man nach Auflösung der Haltungsumkehr der Heilung quasi zuschauen konnte. Aber auch sonst schwer zu beeinflussende Phänomene wie etwa Morbus Sudeck verschwanden innerhalb von Wochen. In gleicher Weise zeigen sich therapeutische Fortschritte bei (kindlichen) Verhaltensstörungen (wie etwa Bettnässen, Nägelkauen etc.), bei allen Arten von Ängsten und Zwängen, Allergien und Süchten stets erst dann, wenn die innere Ausrichtung geklärt ist.

Dies kann man, wie gesagt, in den meisten Fällen kurzfristig durch die Klopfakupressur erreichen. Um meinen Patienten zu helfen, sich selbst in ihrer Lebensgeschichte und in ihren Lebensmustern besser zu verstehen, bin ich in meiner Praxis jedoch mehr und mehr dazu übergegangen, die genaueren Hintergründe für das Festhalten an bestimmten Symptomen kinesiologisch heraus zu testen und mit den Patienten detailliert zu besprechen. Das Bewusstmachen lässt dann, wie der Nachtest zeigt, das Klopfen von Akupunkten meist überflüssig werden. Die Patienten lernen zu verstehen:

Das Herausbilden von und Festhalten an bestimmten Symptomen körperlicher Art (z.B. Schmerzen, Allergien, Funktionsstörungen) und seelischer Art (z.B. Ängsten, Zorn, Groll, Hass, Schuldgefühlen usw.) schien uns in einer bestimmten Lebenssituation und Konfliktlage als bester „Ausweg“. Oft hat sich die Situation aber schon längst verändert, so dass wir unpassender Weise noch an den alten unbewussten Mustern festhalten. Solche Symptome dienen nach meiner Erfahrung in der Regel einer der folgenden fünf Funktionen:

Ausdruck

Das Symptom drückt etwas Innerseelisches aus, das es zu verstehen und zu entschlüsseln gilt.

Vermeidung

Das Symptom hilft etwas zu vermeiden, von dem wir fürchten, dass es noch schlimmer ist als das Symptom selbst.

Kompensation

Durch das Symptom wird etwas anderes ersetzt, es findet eine Verschiebung statt, z.B. Angst statt Zorn oder körperlicher Schmerz statt Schuldgefühl. Eine solche Kompensation kann sowohl im innerseelischen Raum geschehen wie auch im systemischen Raum, z.B. innerhalb einer Familie („einer trägt des anderen Last”).

Delegation

Hier werden unbewusst einem Mitglied eines Systems bestimmte Lasten, Verantwortlichkeiten oder ungelöste Konflikte zugeschoben, so dass dessen Kräfte und Kapazitäten irgendwann nicht mehr ausreichen und es dadurch krank wird oder seine innere Not durch Symptome zum Ausdruck bringt.

Selbstbestrafung

Gar nicht so selten „produzieren“ innere Ankläger und Richter bestimmte Symptome als Strafe für etwas, was wir irgendwann einmal getan oder versäumt haben – gemessen jeweils nach unseren eigenen Wertmaßstäben!

Wenn wir diese Funktionen kinesiologisch austesten, was durch gezielte Fragestellungen durchaus möglich ist, sollten wir als Therapeuten beachten, unseren Patienten vorsichtig und respektvoll zu helfen, sich selbst besser zu verstehen. Dabei sollten wir uns selbst möglichst frei halten von eigenen Bewertungen, denn insbesondere Schuldzuweisungen an den Patienten oder Mitglieder seines (Familien-) Systems erweisen sich eher als kontraproduktiv, führen nur zu Rechtfertigungen und verschütten den soeben freigelegten Zugang schnell wieder.

Mögliche Fragestellungen in der Psychosomatischen Kinesiologie® sind:

  • Haben wir die Erlaubnis, diesen Haltungskonflikt bzw. diese Haltungsumkehr genauer zu erforschen?
  • Wie viele Funktionen hat das (teilweise) Festhalten an dem Symptom? Manchmal sind es gleich mehrere, die dann nacheinander entschlüsselt und aufgelöst werden.
  • Welche Funktionen sind das im Einzelnen? Geht es um: Ausdruck, Vermeidung, Kompensation, Delegation, Selbstbestrafung?
  • Was genau soll ausgedrückt, vermieden, kompensiert, delegiert oder bestraft werden?
  • Wer sind die beteiligten Anderen und von wo nach wo sind die Emotionen, Ängste, Überzeugungen, Muster und Symptome jeweils geflossen? Hinweise bekommen wir über Stichworte in verschiedenen Testlisten emotionaler Zustände, wie z.B. im „Gefühlskartenfächer zur Psychologischen Kinesiologie”, entwickelt von Renate Held und Dr. Werner Weishaupt.

Ausdruck

Was bringt Dein Verhalten/ Deine Symptomatik zum Ausdruck? Welches Gefühl oder welcher Konflikt kommt durch ein bestimmtes Verhalten/durch bestimmte Beschwerden zum Ausdruck? Hier kann man einmal in entsprechende Bücher hineinschauen und sich anregen lassen, wie z.B. „Mein Körper – Barometer der Seele. Das psychosomatische Lexikon, das schon beim Lesen hilft“ von Jacques Martel, VAK Verlag, Freiburg 7. Aufl. 2011

Vermeidung

Welches Verhalten, welche Aktivitäten oder Verantwortlichkeiten genau vermeidest Du? Welchen Vorteil oder Gewinn hast Du dadurch? Was wären die befürchteten Konsequenzen, wenn Du das tun würdest, was Du im Moment noch vermeidest? Welche Ängste stehen dahinter?

Kompensation im innerseelischen Bereich

Was wird kompensiert – z.B. ein Schuldgefühl? Wodurch wird es kompensiert – z.B. durch Empörung? Das bedeutet: Jemand hat Schuldgefühle, entrüstet sich aber über andere. Oder eine Angst wird kompensiert durch Überheblichkeit, eine innere Anspannung durch einen scheinbar unlösbaren Konflikt durch Schmerzen im Schulter-Nackenfeld oder durch Bluthochdruck usw. Kompensation im zwischenmenschlichen Bereich Was wird kompensiert – ein Gefühl, eine Angst, ein Schmerz, ein Konflikt, ein Verhalten usw.? Von wem wird es kompensiert? Hier zieht man verschieden große Kreise im sozialen System des Patienten: in der Partnerschaft, in der Familie, in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, im Kollegenkreis usw. Versuchst Du, das in gewisser Weise auszugleichen? Wodurch genau versuchst Du das? Welche Rolle spielt das für Deine Beschwerden?

Delegation

Was genau wurde an Dich delegiert, welche Verantwortung, welche Aufgabe, welcher verdeckte Konflikt, welches Symptom?

Gerade innerhalb von (Familien-)Systemen werden vielfach bestimmte Dinge an andere Mitglieder delegiert. Dabei entsteht nicht zwingend ein Leidensdruck bei den beteiligten Personen. Die delegierende Person ist aber nicht vollständig und sollte erkennen und zurücknehmen, was sie unbewusst anderen zugeschoben hat. Und diejenige Person, die das Delegierte aufgenommen hat, sollte sich von dieser Überforderung/Überlastung befreien und das an den Absender zurückgeben. Dies kann – wie in der Familienaufstellungsarbeit – durch einen bewussten Entschluss geschehen. Falls das so nicht möglich ist, kann der Prozess wieder kinesiologisch unterstützt werden, z.B. durch Klopfakupressur oder andere Techniken, um eine noch dagegenstehende Angst aufzulösen.

Selbstbestrafung

Dieses Muster ist häufiger als vermutet. Man kann es durch folgende Fragen aufschlüsseln:

Wofür meinst Du, Strafe zu verdienen?

  • Hast Du etwas getan, was Du nicht hättest tun sollen?
  • Hast Du etwas versäumt, was Du hättest tun sollen?

Womit bestrafst Du Dich? Zum Beispiel:

  • körperliche Symptome
  • Panik, Zwang, Sucht
  • destruktive Verhaltensweisen

Wenn das im Wechsel von Testung und Befragung des Unbewussten und Gespräch mit dem Klienten ausreichend erforscht und verstanden worden ist, können wir weiter fragen, z.B.:

Wann in Deiner Lebensgeschichte ist das Muster entstanden? (Mit Erlaubnis des Klienten können wir im Lebensalter zurücktesten und fragen: Was hat sich damals in Deinem Leben ereignet, verändert? Welcher Art war der Konflikt damals? Welche Personen oder inneren Anteile waren daran beteiligt? Welche Glaubenssätze hast Du Dir damals zu Eigen gemacht? …)

Wenn Du das heute jetzt alles weißt: Musst Du immer noch an dem Symptom festhalten? Bist Du jetzt 100% bereit für eine positive Veränderung auf allen Ebenen – bis in die Gegenwart und Zukunft? – In der Regel zeigt sich, dass die anfängliche „Psychologische Umkehr” jetzt nicht mehr besteht, weil der Klient sich selbst – auch in seinen unbewussten und manchmal „verdrehten” Beweggründen – verstanden hat und sie nicht länger braucht. Entweder sind die ursprünglichen Konflikte und Konstellationen längst überholt und waren nur noch im Unbewussten unverarbeitet gespeichert. Oder der Klient kann sich nun bewusst entscheiden und neue Verhaltensmöglichkeiten ergreifen. Deshalb ist in der weiteren kinesiologischen Balance des eigentlichen Themas, Symptoms oder Ziels, mit dem der Klient/Patient in die Praxis kam, meist gar nicht mehr viel zu tun!

Dr. Werner Weishaupt
Dr. Werner Weishaupt
Präsident des Verbandes Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V.
dr.weishaupt@vfp.de

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