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Psychotherapie
Lesezeit: 10 Minuten

Stiletto-Sucht und andere Fetische

© elizaliv - Fotolia.comWenn harmlose Gegenstände, Kleidungsstücke oder Gedanken zur persönlichen Qual werden, ist es meist schon zu spät. Was eben noch eine spezielle Vorliebe war, wird zu einem suchtartigen Zwangsverhalten, aus dem sich Betroffene nur mit größter Mühe befreien können. Womit hier geholfen werden kann, was Fetischismus klinisch gesehen eigentlich ist und wie es zu einer Stiletto-Sucht kommen kann, möchte ich aus psychoanalytischer Sicht darlegen. Therapien unterschiedlicher Art und Ansätze können hilfreich sein.

Sucht hat es einerseits schon immer gegeben, andererseits bietet die Freiheit der heutigen Gesellschaft besonders viele Möglichkeiten, Abhängigkeiten zu entwickeln. Man denke nur an das Smartphone, ohne das die Allermeisten sich mittlerweile geradezu nackt fühlen. Wie etwa in einer fremden Stadt den Weg finden ohne App? Die Öffnungszeiten der Boutique nochmals checken? Von unterwegs schnell die Freundin anrufen? Es ist kaum vorstellbar, dass die Zeit ohne Handy noch keine 20 Jahre her ist. Als „Rhythm Is A Dancer“ ein Hit war, war man zum verabredeten Zeitpunkt am verabredeten Ort – oder die anderen fuhren allein in die Disco.

Sucht kann also durch gesellschaftliche Entwicklungen begünstigt, wenn auch nicht unbedingt verursacht werden. Die vielfältigen Erscheinungsformen von Sucht sind gut bekannt: So gibt es Alkohol-, Tabletten- und Drogensucht in all ihren verschiedenen Ausprägungen (vgl. Schirmohammadi, s. Literatur). Und auch immaterielle Süchte wie Spiel- oder Arbeitssucht sind nicht zu unterschätzen. Dass Sucht ihre Ursachen in den Prägungen früher Kindheitserfahrungen hat, gilt als unbestritten, nur ist unklar, auf welchem Weg dies genau geschieht. Etwas aus der Mode gekommen ist das Konzept des Fetischs, weil die Naturwissenschaften zurzeit hauptsächlich Hirnforschung betreiben. Das ist natürlich wichtig, bildet aber eben nur einen Teil des Menschen ab. Die Ganzheit der Person wird damit nicht erfasst, weder in ihren biographischen noch in ihren sozialen Bezügen. Außerdem hat das Konzept des Fetischs auch ein Stück weit Einzug in den Alltag erhalten: Viele Menschen haben eine Idee davon, was ein Fetisch oder Fetischismus ist und benutzen gelegentlich den Begriff. „Der hat einen Ordnungsfetisch“, sagte neulich eine Klientin über ihren Mann. „Das ist sein Fetisch“ oder „Die hat einen Fetisch“ kann man manchmal hören, wenn das Auto des Mannes als Potenzverstärkung oder der Schuhtick einer Frau als Kauf-dichglücklich- Mechanismus gemeint ist. Und was die SM- und Fetisch-Szene so zu bieten hat, ist mittlerweile ebenfalls bekannt. Das Konzept des Fetischs wird also immer wieder in seiner durchaus zutreffenden Bedeutung verwendet. Wer einmal intensiv bei sich selbst darüber nachforscht, was er oder sie besonders erregend findet, ist also auf dem besten Weg, seinem Fetisch zu begegnen. Das muss nicht schlimm sein. Denn in unterschiedlicher Ausprägung existiert er wahrscheinlich in jedem Menschen. Da der Mensch nicht nur Kopf, Verstand und Geist, sondern auch Körper, Trieb und Emotion ist, unterliegt er automatisch den Anforderungen der Gesellschaft und muss auf Dauer lernen, Triebe und Emotionen im Zaum zu halten. Wie schwer das manchmal sein kann, wissen die meisten von uns.

Dass es vom Schuhtick manchmal nicht weit zur Sucht ist, kann man sich ebenso gut vorstellen. Heftig wird es erst dann, wenn es nicht mehr anders geht, als seinem Fetisch zu folgen. So suchte mich ein junger Mann in der Praxis auf, der von seiner sogenannten Stiletto-Sucht berichtete. Nicht dass er selbst hohe Schuhe tragen wollte, sondern seine Freundin liefe am liebsten auf hohen Absätzen umher. Abends zum Ausgehen hole sie sogar die ganz Hohen heraus und er „fahre voll darauf ab“. Sie habe 28 Paar Stilettos, und nur wochentags ziehe sie abends flache Schuhe an. Das sei aber genau das Problem, so der Klient: Er hasse es, wenn Frauen flache Schuhe tragen.

Es war mir schnell klar, dass sein Problem tiefer liegen würde. Nach wenigen Sitzungen des Kennenlernens hatte er Vertrauen gefasst und berichtete von erheblichen sexuellen Problemen, wenn seine Freundin beim Sex keine hohen Schuhe trug. Er sei praktisch augenblicklich nicht mehr erregt, wenn sie ihre Schuhe auszog. Das Paar hatte sich in einem Club kennengelernt; sie sei das „Mädel mit den höchsten Heels“ gewesen, was ihn körperlich extrem angezogen hatte. Dieses Muster kannte er gut von früheren Freundinnen. Er brauchte ganz praktisch hohe Schuhe, um sexuell erregt zu sein und um überhaupt zum Orgasmus zu kommen. Beim Sex ohne hohe Schuhe musste er oft an Stilettos denken; selbst dann konnte er nur zum Höhepunkt gelangen, wenn er auf schon hohem Erregungsniveau begonnen hatte. Bei allem Charme, den der Klient übrigens besaß, war ihm anzumerken, dass ihn ein heftiges Leiden begleitete. Er selbst hielt sich irgendwie schon für pervers, hatte aber lange gezögert, sich in Therapie zu begeben, da er ja eigentlich niemandem schade, „nur mir selbst“, wie er anmerkte. Da er letztens beim Sex wieder nicht ejakulieren und seine Freundin dies nicht verstehen konnte, suchte er nun professionelle Hilfe.

Therapie ist bei allen frühen sexuellen Prägungen äußerst schwierig. Ich ermutigte den Klienten gemeinsam mit mir über die Gründe seiner Störung nachzudenken. Im Laufe der folgenden Sitzungen kam er von sich aus auf prägende Erlebnisse in seiner Kindheit. So hatte seine Mutter oft hohe Absätze getragen, wenn sie ihn zum Kindergarten gebracht hatte. Sie sei auf dem Weg zur Arbeit immer sehr schick und „businessmäßig“ unterwegs gewesen. Sie habe aber alle möglichen Schuhe getragen; hohe, flache, elegante und sportliche. Ihm hatten sich aber vor allem die hohen Schuhe auf dem Weg zum Kindergarten eingeprägt; seine ganz subjektive Erfahrung hatte hier offensichtlich die äußere Realität auf ganz eigene Weise verarbeitet.

Erste verhaltenstherapeutische Gedankenstopp-Techniken halfen nur wenig. Mit der Zeit kam ein gewisser Ärger beim Klienten auf. Da er meine Skepsis gegenüber einem raschen Erfolg wohl bemerkt hatte, unterstellte er, dass er total krank sei. Über mehrere Wochen hinweg kämpfte er mit sich selbst (und mit mir). Dann die andere Seite: Eigentlich sei das doch alles nicht so schlimm, man „werde ja wohl auf hohe Absätze stehen dürfen“. Ob ich als Mann das nicht verstehen würde? Vielleicht würde ich auf behaarte Frauen in Schlappen stehen. Für den Fall, mich mit einer „Öko-Frau“ in der Stadt zu treffen, kündigte er halb-scherzhaft an, die Therapie zu beenden. Ich beharrte darauf, dass es ihm egal werden müsse, mit wem sein Therapeut durch die Stadt laufe, wenn er sein Problem lösen wolle. Was er tue, sei Schwarz-Weiß-Denken, fügte ich an, was er bald nachvollzog. Meine Ergänzung, dass sich „Öko“ und Körperenthaarung schon lang nicht mehr ausschließen, ließ ihn lächeln. Er habe einfach Angst, was ohne seinen Fetisch werde. Ein guter Grund, sein Symptom zu behalten, deutete ich ihm. Wenn er es aufgeben wolle, dann müssten wir weiter daran arbeiten.

Der im ICD-10 unter F65.0 kodierte Begriff des sexuellen Fetischismus trifft dann zu, wenn ungewöhnliche, dranghafte sexuelle Phantasien oder Bedürfnisse bestehen, die Leiden verursachen und über einen langen Zeitraum bestehen (mindestens sechs Monate). Meist gibt es diese Phantasien schon viele Jahre, oft lebenslang. Woher rühren nun solche Phantasien? Freud, der die kindliche Sexualität in Phasen einteilte, begriff frühe Fixierungen auf erogene Körperzonen und auf die Art des Umgangs mit Bezugspersonen in diesen Phasen als zentrale prägende Faktoren. Nicht nur die sogenannte genitale Sexualität, bei der das Genital des Partners im Mittelpunkt der Erregung steht, sondern auch die Wahrnehmung der Ganzheit der anderen Person, wird durch den Lustgewinn des Kindes im Umgang mit seinem Körper und den Bezugspersonen mitbestimmt. Orale, anale (anal-urethrale) und phallische (phallischklitoridale) Phasen beinhalten die sexuelle Erregung dieser Zonen, die sich später in der Vorliebe für sexuelle Praktiken äußern. Gleichzeitig bilden sich Charakterzüge im Umgang mit der Außenwelt heraus: depressive, zwanghafte, phobische sowie hysterische. Doch wo ist hier nun der Fetisch unterzubringen? Die Freud‘sche Phasenlehre mündet in den Ödipuskomplex, ein angestaubt klingendes Konzept, das klinisch mittlerweile aber wiederentdeckt wird. Im Alltag ist es durchaus gut beheimatet: Vaterfixierte Töchter sind jedermann bekannt und 50-jährige Männer, die noch nie mit einer Frau verkehrt haben und immer noch bei der Mutter wohnen, sind nicht nur in psychotherapeutischen Praxen anzutreffen. Ebenso wie kleine Jungs ihre Mütter heiraten wollen, berichten Frauen in Therapie manchmal, wie sie als Kind entsetzt feststellen mussten, dass Mädchen keinen Penis haben.

Folgen wir also dem Ödipus-Konzept, dessen Kernthese die von Jungs phantasierte Gefahr der Kastration (und damit die kindliche Phantasie, ein Mädchen zu werden) als Bestrafung durch den Vater aufgrund des kindlichen Begehrens nach der Mutter ist, so flüchtet ein Junge unter Umständen in den Gedanken, dass ihm das gar nichts ausmachen würde (so wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald, das Angst mindert). Das hieße dann, dass seine sexuelle Identität, also seine kindliche Vorstellung, welchem Geschlecht er angehört und welches Geschlecht er begehren soll und darf, in dieser Zeit unsicher würde. Dies ist dann die Stunde des Fetischs: Der Junge identifiziert sich mehr mit der Mutter als mit dem Vater und bringt seine phallische Erregung in Zusammenhang mit speziellen weiblichen Reizen der Mutter. Man spricht hier auch von einem bisexuellen Objekt (vgl. Oberlehner, 2011), weil die Reize von der Mutter als Person abgelöst werden und selbst zum Objekt des Begehrens werden. Im obigen Fall wären dies die Schuhe der Mutter, die als Gegenstände kein Geschlecht haben, aber in der Vorstellung des Kindes mit sexueller Energie (Libido) besetzt werden. Libido ist immer als bisexuell (also offen für die weitere sexuelle Ausgestaltung) zu verstehen, da diese als Begriff von Energie keine geschlechtliche Ausrichtung in sich trägt. Erst die Anhaftung der Libido an andere Personen lässt sie von außen betrachtet als geschlechtlich ausgerichtet erkennbar werden. Die Schuhe der Mutter, die den Klienten immer fasziniert hatten, waren also von ihm libidinös hoch besetzt worden. In der Pubertät hatte sich dann dieser Fetisch an die genitale Sexualität angehaftet, sodass der Klient einerseits Sex mit dem anderen Geschlecht haben, aber zunehmend nur unter dem Eindruck des Fetischs zu stärkerer Erregung und zum Orgasmus kommen konnte.

Der Klient brauchte mehrere Jahre, bis sich sein Schuh-Fetisch abgeschwächt hatte. Seine Vorliebe besteht weiter, ist mittlerweile aber keine Voraussetzung mehr, um zum Höhepunkt zu kommen. Das Verstehen des Warums erfordert meist hartnäckiges Arbeiten, birgt aber auch die Abschwächung der Symptome in sich. Sogenannte genetische Deutungen, die auf die kindliche Angst vor der Kastration abzielten, klangen in den Ohren des Klienten zunächst grotesk und merkwürdig. Als ihm, immer wieder von seiner Jugendzeit erzählend, eines Tages einfiel, dass er während seines ersten Oralsex plötzlich Angst bekommen hatte, dass seine Partnerin ihm den Penis abbeißen würde, räumte er ein, dass es schon so eine Angst bei ihm gegeben hatte – darüber sei er sich gar nicht im Klaren gewesen.

Allgemein gesprochen muss ein Fetisch keine Angst machen. Er ist eine tiefe sexuelle Phantasie, die an sich harmlos ist. Erst wenn man eine Überwertigkeit feststellt oder Leid entsteht, wird es schwierig – so wie bei anderem Suchtverhalten auch. Bei vielen Süchten ist also an einen Fetisch zu denken. Wenn man sich diesen bewusst macht, schwächt er sich meist schon ab. Zum Fetisch können beliebige Gegenstände und Situationen werden, die im Menschen besondere Bedeutung erlangen und sich vor allem im sexuellen Erleben niederschlagen.

Was kann noch helfen? Traditionell ist eine Psychotherapie das Mittel der Wahl. Hypnose ist bei Sucht sehr oft hilfreich, so wie viele psychotherapeutische Alternativverfahren Erfolge bringen, z.B. die systemische Therapie. Auch im obigen Fall war es wichtig, systemisch anzusetzen. Insbesondere die Neutralität gegenüber dem Symptom, das vielleicht für etwas nützlich sein könnte, war hier wichtig. Die verhaltenstherapeutische Technik des Gedankenstopps kann ebenso hilfreich sein (in diesem Fall war sie es allerdings nicht). Immer wieder wird Akupunktur empfohlen, vom Nadeln der Suchtpunkte in der Ohrakupunktur wird auch für andere Süchte viel Gutes berichtet. Und wenn kein allzu starkes Leiden vorliegt, gilt natürlich immer das Wort des Psychoanalytikers und Philosophen Slavoj Zizek: „Liebe dein Symptom wie dich selbst!“.

Götz Egloff, M. A.Götz Egloff, M. A.
ehem. Forschungstherapeut Uni Heidelberg, Psychoanalytiker, Psychotherapie HPG – Systemtherapie SG
g.egloff.medpsych.ma@email.de

 

Literatur

  • S. Freud (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, GW, S. Fischer, Frankfurt
  • F. Oberlehner (2011): Von der Normalneurose zur Normalperversion In: U. Langendorf, W. Kurth, H.-J.Reiss, G. Egloff: Wurzeln und Barrieren von Bezogenheit, Mattes, Heidelberg, 275-291
  • A. Schirmohammadi (2011): Gefangen in der Sucht, Paracelsus Magazin 5/11 u. 6/11
  • S. Zizek (1991): Liebe dein Symptom wie dich selbst! Die Psychoanalyse Jacques Lacans, Merve, Berlin

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