Stress – Die Pest der Neuzeit
Vagustraining zur Stressbewältigung
Laut WHO ist Stress die größte Gesundheitsgefahr im 21. Jahrhundert, da Stress einen ursächlichen Zusammenhang mit den sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Rückenbeschwerden, Diabetes, Gicht, Bluthochdruck, Herz- und Gefäßkrankheiten etc. hat. Schlagzeilen wie „Volkskrankheit Stress“ oder „Stress: Die Pest der Neuzeit“ spiegeln dies wider.
Es bedarf daher in unserer Gesellschaft angemessener Bewegungs- und Entspannungsmethoden, damit der Mensch präventiv Stresserkrankungen vorbeugen und Stressreaktionen in Körper, Geist und Seele wieder beseitigen kann.
Den Begriff Stress hat der Forscher Hans Selye geprägt, um die Reaktion von biologischen Systemen auf Belastung zu beschreiben. Er beschreibt positiven Stress (Eustress) und negativen Stress (Disstress). In unserem Wortgebrauch ist meistens Disstress gemeint und hat den negativen Beigeschmack von Überforderung, Schnelligkeit, Informationsüberflutung, Hetze etc. Eustress ist eigentlich kein „Stress“ in Sinn unseres gesellschaftlichen Wortgebrauchs, denn hier geht es um Vorfreude oder Aufregung.
Stress wird durch Stressoren ausgelöst: Lärm, Schmerz, psychischer Druck, Überforderung, soziale Isolation usw. Wichtig ist, dass Stress von jedem Menschen individuell wahrgenommen wird, je nachdem, welche Bewältigungsstrategien er gelernt hat. Äußerer Stress muss nicht immer zu innerem Stress werden.
Wichtig, um Stressreaktionen im Menschen zu verstehen, sind folgende grundlegende medizinische Kenntnisse des autonomen Nervensystems:
Das autonome (vegetative, viszerale) Nervensystem (ANS)
Nach herkömmlichen Lehrbüchern besteht es aus drei Anteilen: Sympathikus, Parasympathikus und dem enterischen oder Darmnervensystem, auch „Darmgehirn“ genannt. Es dient der unbewussten und unwillkürlichen Steuerung der inneren Organe und wichtiger Lebensfunktionen wie z.B. Atmung, Verdauung, Blutdruckregulation. Der Hypothalamus, der zusammen mit der Hypophyse eine Funktionseinheit bildet, ist zuständig für die Homöostase und der Schaltung von Parasympathikus und Sympathikus. Eine wichtige Forschung zum Nervensystem leitet der Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik, Stephen Porges: Er hat mit seiner Forschung mit Frühgeborenen und autistischen Kindern einen neuen differenzierteren Ansatz zum ANS entwickelt. Er unterteilt das parasympathische System in einen dorsalen und ventralen (sozialen) Vagus und hat die Polyvagal-Theorie aufgestellt. Der Vagus ist der Haupthirnnerv, der mit dem parasympatischen System kommuniziert. Bessel van der Kolk schreibt im Vorwort zu Porges Buch: „Vor dem Auftauchen der Polyvagal-Theorie lautete die anerkannte Lehrmeinung, das autonome Nervensystem beinhalte einen Antagonismus vom sympathischen und parasympathischen Nervensystem, die in einer funktionalen Konkurrenzbeziehung zueinander stünden und die Aktivitäten bestimmter Zielorgane entweder verstärkten oder verringerten. Durch die Polyvagal-Theorie wurde dieses Modell stark erweitert, wobei der soziale, myelinisierte Vagus die wichtigste Rolle spielte, jenes der Feinabstimmung dienende Regulationssystem, das die Möglichkeit eröffnet, mithilfe der Umgebung stressbezogene physiologische Zustände zu verstärken oder abzuschwächen.“
Hier sollen
zunächst die Grundlagen nach der vorherrschenden Meinung gezeigt werden:
Fast alle Organsysteme werden
von Sympathikus- und Parasympathikusanteilen innerviert. Übergeordnete Steuerzentren befinden sich im Hirnstamm, im
Hypothalamus und im limbischen System. Der Sympathikus wirkt leistungssteigernd, energieverbrauchend und versetzt den
Organismus bei Gefahren in Flucht- und Kampfbereitschaft, während der Parasympathikus aufbauend und energiespeichernd
wirkt und für Erholung und Entspannung sorgt. Das Zusammenspiel beider Anteile bewirkt die sogenannte Homöostase
(Gleichgewicht). Starke Aktivierung erfolgt z.B. in Stress- und Angstsituationen. Der Sympathikus bildet mit seinen
Ganglien beiderseits der Wirbelkörper den sogenannten Truncus sympathicus. Die Fasern des Parasympathikus verlaufen
größtenteils im X. Hirnnerv, dem Nervus vagus. Seine Ganglien liegen in Organnähe. Wissenschaftlich nachweisbar ist,
dass bei der Einwirkung von Stressoren sogenannte Stresshormone ausgeschüttet werden, die den Menschen in die Lage
versetzen, eine körperliche Antwort auf die Belastung zu finden. Hier gibt es die Schlagworte „fight or flight“ –
Kampf oder Flucht. Die Stressoren verursachen über Reaktionen im Hypothalamus eine Aktivierung des sympathischen
Nervensystems. Von den Nebennieren werden Noradrenalin und Adrenalin ausgeschüttet, damit der Körper in der Lage ist,
schnell auf Angriffe zu reagieren, es kommt z.B. zu erhöhtem Herzschlag, schnellerer Atmung und verstärkter
Durchblutung der Muskeln.
Heutzutage ist der Mensch oftmals überreizt und überschwemmt von diesen Stresshormonen, die wieder abgebaut werden müssen – denn selten kann er sich über Kampf oder Flucht ausagieren: Wer kann schon seinem Chef die Meinung sagen (fight) und Türe knallend das Büro verlassen (flight)?
Stresshormone können durch Bewegung gut wieder abgebaut werden. Neben angemessener Bewegung als Hauptmittel gegen Stress helfen Entspannungsmethoden und Massagen, da hier der Parasympathikus aktiviert wird: Die Atmung vertieft sich, Haut, Muskeln und Bindegewebe werden besser durchblutet, Verspannungen durch sanfte Berührungen gelockert. Stress wird auch durch eine achtsame Beziehung zwischen Klient und Therapeut oder Wellnesstrainer abgebaut, eine Wohlfühlatmosphäre bei einer Anwendung ist ebenfalls entscheidende Voraussetzung für Loslassen und Entspannen. Erst durch das Gefühl von Sicherheit kann das vegetative Nervensystem loslassen. Durch Berührung und Wohlfühlen kann der Körper die Gegenspieler von Adrenalin und Cortisol ausschütten, z.B. die Hormone Serotonin und Oxytocin. Die zwei Anteile des vegetativen Nervensystems, Sympathikus und Parasympathikus, wechseln sich ab; der Sympathikus, der für Aktivität und Stressreaktionen verantwortlich ist, wird vom Parasympathikus abgelöst – Muskeln, Magen, Darm etc. kontrahieren nicht mehr, sondern können mehr und mehr entspannen.
Wichtig ist hier die angemessene Bewegung: Spinning z.B. ist nicht dazu geeignet, die Adrenalinausschüttung zu hemmen und den Sympathikus in die Entspannung zu bringen, sondern Methoden wie Qigong oder Yoga, also alle sanfteren Methoden. Bewegung ist also nicht gleich Bewegung, um Spannung im Körper zu mildern.
Was passiert nun, wenn der Körper dauerhaft in dieser erhöhten Alarmbereitschaft bleibt?
Mögliche Folgen von Stress auf das Organsystem:
Verdauungsorgane: Magenschleimhautentzündung, Übelkeit, Durchfall, Magengeschwür, Darmentzündung, Darmgeschwür
Bewegungssystem: rheumaartige Muskelschmerzen (Fibromyalgie), in Trapeziusmuskel, Nacken und Rücken, zu hoher Muskeltonus, dadurch Ablagerungen von Schlacken und Schmerzen
Kopfbereich: Migräne und Spannungskopfschmerzen, Zähneknirschen, Augenzucken, Tinnitus
Haut: akneartige Entzündungen, allergische Hautreaktionen
Atmungsorgane: nervöser Husten, Asthma
Genitalien: sexuelle Unlust, Impotenz
Immunsystem: generelle Schwäche
Säure-Basen-Gleichgewicht: Azidose
Je länger die Belastung und die Überforderung dauern, desto häufiger treten Burnout, das chronische Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie oder andere Zivilisationskrankheiten auf.
Vagustraining hat zum Ziel, Klienten in Bewegung und Entspannung zu bringen. Der Sympathikus soll beruhigt werden, der Parasympathikus soll zum Zuge kommen. Das Gehirn soll in einen Entspannungszustand gelangen, Selbstheilungskräfte können aktiviert und Stresshormone abgebaut werden. „Der Vagus ist der Hirnnerv, der schwerpunktmäßig mit dem parasympathischen System kommuniziert. Dieser Nerv hat nur bei den Säugetieren verschiedene Leitungsausprägungen: Leitungen, die keinen Myelinmantel besitzen und Leitungen, die von einem Myelinmantel umgeben sind. Das myelinierte vagale System kann sehr schnell die Herzleistung regulieren, um sich unterschiedlich auf die Umwelt einzustellen und stellt ein soziales Kontaktsystem dar. Es steuert z.B. Gesichtsausdrücke, Nuckeln, Schlucken, Stimme und regt die Produktion des Oxytocins an (sozialer Vagus). Für den sozialen Vagus ist die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit notwendig. Der dorsale, vegetative Vagus steuert die viszeralen (die inneren Organe betreffenden) Funktionen. Der ventrale, soziale Vagus ist assoziiert mit den aktiven Prozessen von Aufmerksamkeit, Bewegung, Emotion und Kommunikation.“ (Abschnitt in Anlehnung an die Bodybliss® Ausbildungsunterlagen der Somatics Academy, Anatomie, Autonomes Nervensystem beruhend auf den Forschungen von Porges, S. 2).
Ein besonders effektives Vagustraining stellt die bereits in vielen Körperübungen im Paracelsus Magazin vorgestellte Bewegungsmethode Bodybliss zusammen mit innerer Achtsamkeit, Stressabbau durch angemessene Bewegung, Faszientraining, Atemarbeit, Töne als Frequenzen und Meditation dar. Bodybliss® und das Vagustraining lassen die Forschungen von Stephen Porges zum sozialen Vagus mit einfließen. Auch Prof. Dr. med. Gerd Schack schreibt in seinem Buch „Der Große Ruhe-Nerv“: „[…] spielt der zehnte Hirnnerv, der Vagus, eine Sonderrolle in seiner Funktion als der alles beherrschende Große Ruhe-Nerv. Hirnnerven sind nach außen verlagertes Hirngewebe, also besondere Reizüberträger, die Informationen komplexer weiterleiten als gewöhnliche, periphere Nerven. Ihre Kunst besteht darin, motorische Funktionen eng mit Entspannungsreaktionen zu verbinden. Aktiviert man in diesem Zusammenhang die Augen, die Zunge oder den Kehlkopf in besonderer Weise, wird dadurch gleichzeitig eine Tiefenentspannung des Herzens, der Lunge, des gesamten Bauchraumes sowie der Muskel-Sehnenkette ausgelöst.“
Hier möchte ich Ihnen eine erste Übung für ein Vagustraining vorstellen, den „AWE-Ton“. Die Übung sollten Sie immer dann machen, wenn Sie das Gefühl haben, mehr Entspannung zu brauchen oder auch abends vor dem Zubettgehen. Durch das Tönen werden die Zunge, der Kehlkopf und der Mundbereich aktiviert, die Vibration des Tönens im Bindegewebe kann zu einer Tiefenentspannung führen:
Setzen Sie sich bequem auf ein Meditationskissen, schließen Sie die Augen und nehmen Sie Ihren Atem wahr. Einatmen und Ausatmen. Ebenso lade ich Sie ein, die Bewegung in Ihrer Wirbelsäule wahrzunehmen, die der Atem in die Wirbelkette hineinruft. Vielleicht längt sie sich beim Einatmen und sinkt wieder leicht in Richtung Erde beim Ausatmen. Spüren Sie, wie Sie auf dem Kissen aufsitzen, wo die Kontaktpunkte mit der Unterlage sind.
Ihre Schultern sind entspannt, Ihre Stirn ist glatt, Ihr Kiefer entspannt. Nun atmen wir mit der Nase ein und mit dem Mund aus. Nehmen Sie beim Ausatmen einen kleinen Glottis-Ton mit, der in der Kehle gebildet wird. Als Glottis bezeichnet man in der Anatomie den stimmbildenden Apparat, sie bildet einen Teil des Kehlkopfes. (Es ist der Teil, der manchmal beim Gähnen knackt.) Es ist ein kaum hörbares langes Aaaaa…- Ausatmen, tief aus der Kehle, wir schieben das Hinterhaupt leicht in Richtung Zimmerdecke und stellen uns vor, wie sich der Kopf leicht vom Atlas, dem obersten Halswirbel, löst. Die häufig sehr stressanfälligen Hinterhauptmuskeln dürfen sich jetzt entspannen, zwischen die obersten Halswirbel Atlas und Axis kommt mehr Raum. Sie können sich auch Ihren Kopf als auf einem Schwimmreifen auf dem Wasser treibend vorstellen.
Mögliche Reaktionen und Zeichen der Entspannung sind Gähnen, tränende Augen, Bauchgeräusche etc.
Viel Freude beim Loslassen!
Vagustraining ist auch Teil meiner Body Mind Fitness Kurse an den Paracelsus Schulen.
Barbara von den
Driesch
Wellness- und Bewegungstrainerin, Präsidentin des WBG
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