Die (Wieder-)Entdeckung von Focusing
Mit der Resonanz des Körpers arbeiten
„Alle reden über Gefühle“, meint Eugene Gendlin, Professor für Psychologie an der Universität Chicago und Begründer des Focusing, „aber durch das Reden über die Gefühle werden sie meist auch nicht verändert, denn das Eigentliche geht noch viel tiefer.“1
In meiner Arbeit sehe ich immer wieder, wie subjektive Gefühle des Einzelnen von seinen Erfahrungen geprägt sind und wie schwer es für den Klienten ist, dies zu erkennen und zu verändern. Unterhalb der Gefühle gibt es eine „körperliche Schicht”, den „Felt sense” (wörtlich „gefühlter Sinn“ oder „gespürte Bedeutung“; auch im Englischen ein Kunstwort), der das „Ganze” birgt. Gelangt man an diese Schicht, so empfindet man körperliches Behagen oder Unbehagen (Resonanz) und damit kann man beim Focusing arbeiten.
Focusing ist eine Methode, die Veränderungsprozesse ermöglicht und unterstützt. Sie wurde von Eugene T. Gendlin auf der Basis des klientenzentrierten Ansatzes und einem phänomenologischen Prozessmodell entwickelt. Focusing kann sowohl in beratenden und therapeutischen Situationen als auch als Selbsthilfemethode angewandt werden. Der Veränderungsprozess geschieht in der Person selbst, indem besonders das „Körperwissen“ für die Problemlösung genutzt wird. Mit einer freundlich unterstützenden Begleitung von außen lässt sich die Person zunächst in eine Haltung der „inneren Achtsamkeit“ führen und kann dort die körperlich gefühlte Resonanz für ihren Veränderungsprozess nutzen.
Mein Anliegen ist es, Focusing verständlicher sowie in der Welt anwendbarer, wissenschaftlich belegbar, empirisch erforscht und im sozialen Kontakt gesellschaftsfähiger zu machen, sodass es in unserem Bewusstsein und in der alltäglichen Aufmerksamkeit einen festen Bestandteil einnimmt.
Entstehung und Umsetzung
Der Focusing-Begründer Eugene T. Gendlin wurde 1926 in Wien geboren, floh mit seiner Familie 1938 vor den Nazis nach Chicago, wo er später Philosophie studierte, forschte und Artikel über inneres Erleben im gesellschaftlichen Kontext schrieb.
Mit 25 Jahren hatte er seine Gedanken soweit entworfen, dass er beschloss, sie in der Praxis zu überprüfen. Er traf Carl Rogers, Professor der Psychologie an der Universität Chicago. Daraus entstand eine lange und intensive Zusammenarbeit. 1962 erschien sein erstes Buch „Experiecing and the Creation of Meaning“, welches mit unzähligen Preisen ausgezeichnet wurde.
Seine Methode, sich mit Achtsamkeit und Wertschätzung dem inneren, körperlichen Erleben zuzuwenden und dessen Bedeutungsreichtum zu öffnen, entstand aus seinen Untersuchungen zum Erfolg von Psychotherapien: Erfolgreiche Klienten verlangsamten während einer Therapiestunde irgendwann ihr Sprechtempo, drückten sich unklar aus, sie schienen nach Orten zu suchen und fühlten dabei in ihren Körper hinein, um eine schwer zu beschreibende Körperempfindung auszudrücken, die mit dem Problem zusammenhing (Eugene T. Gendlin 2002/8). Er fand heraus, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie weniger von den Methoden des Therapeuten abhing, sondern ausschlaggebend für seine Entwicklung war die Art und Weise, wie ein Klient sich über sich selbst äußerte.
Gendlin sieht die Bedeutung von Focusing aber nicht nur im Rahmen von Psychotherapie, sondern erkennt darin auch eine Möglichkeit, diesen Prozess gezielt in sich selbst zu aktivieren. Er stellt Focusing als den Kernprozess menschlicher Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt und wirft die Frage auf, was Therapeut und Klient tun können, um diesen inneren Prozess in der therapeutischen Beziehung zu fördern. Focusing hat sich überall bewährt, wo es darum geht, über das logische Verknüpfen bekannter Sachverhalte hinaus neue, frische Schritte kommen zu lassen. So ist Focusing eine Möglichkeit, alle Probleme und Situationen anzupacken, ein Werkzeug, das täglich benutzt werden kann.
Die Essenz von Focusing
„Focusing ist eine kleine Zeit, in der ich mit etwas bin, das schon da ist, das ich spüre, von dem ich aber noch nicht weiß, was es bedeutet“ (Wiltschko 1999/13). Dieses „Etwas“, eine Körperempfindung (Resonanz), wird im Focusing als Felt Sense bezeichnet und bildet die Grundlage der Arbeit. Der Felt Sense ist keine Emotion, sondern eine körperlich gespürte Bedeutung (Gendlin 2002/30), die jeden Moment ganz spezifisch neu entsteht. Er liegt „unter“ den Emotionen, die uns vertraut sind, wie Ärger, Freude, Trauer.
Ein Beispiel: Ich bin traurig, weil … Im Focusing lassen wir Raum entstehen, indem wir hinspüren, wie dieses „traurig“ sich genau in uns zeigt und erlebt wird. Welche Resonanz entsteht und wie es in diesem Menschen, in dieser Situation ganz individuell erlebt wird.
Dieses Erleben besteht nicht nur aus deutlich wahrnehmbaren expliziten Inhalten wie Gedanken, Gefühlen, körperlichen Empfindungen und inneren Bildern, die wir Erlebnismodalitäten nennen, sondern vor allem aus vagen, mehr wortlosen impliziten Stimmungen. Gendlin entdeckte also eine körperliche Wahrnehmung, die für die unbewussten Strömungen und Antworten in uns selbst genutzt werden kann. Diese Wahrnehmung ist immer vorhanden, sie wurde nur verschüttet. Viele Menschen „fokussieren“ automatisch, daher macht es Sinn, von einer Entdeckung von Focusing zu sprechen und nicht von einer Entwicklung einer Methode. Um dieses innere Wissen zu greifen und lehrbar zu machen, entwickelte Gendlin die sog. 6 Schritte oder Bewegungen (Gendlin 2002/72).
Das 6-Schritte-Modell
1. Platz/Freiraum schaffen: Sich auf das Problem einstellen, jedoch einen inneren Abstand dazu wahren
2. Einen „Felt sense“ kreieren: Aufmerksamkeit auf Brust-/Bauchraum richten und dabei „körperliche Resonanz“ zum Thema entstehen lassen
3. Namen/„Griff“ finden: Einen Begriff oder eine kurze Beschreibung für dieses meist diffuse Körpersignal entstehen lassen
4. Überprüfen und Vergleichen: Den gefundenen Begriff mit dem Felt Sense abgleichen
5. Die Qualität befragen: Was braucht der Felt Sense, um sich wieder wohler zu fühlen und Lösungsrichtungen zu entwickeln
6. Annehmen und Schützen: Schützen des Prozesses gegen innere Kritikerstimmen, Ergebnis würdigen
Der 1. Schritt besteht darin, sich eine „Pause“ zu gönnen, sich gedanklich auf den Inhalt eines persönlichen Themas einzustellen. Einen Freiraum zu schaffen zwischen dem, wie (Ich) es erlebt und was (Inhalt) erlebt wird. Das ist sozusagen eine neutrale Beziehung zwischen mir und dem, was ich erlebe. Inneren Freiraum schaffen bedeutet demnach, einen richtigen Abstand zu finden zwischen der erlebenden Person und ihren Erlebnisinhalten. Statt sich in den Gefühlen zu verstricken, räumt man auf und verschafft sich einen Überblick (Wiltschko 2011/73). So auch Peter Bieri: „Zu der Fähigkeit sich zu entscheiden gehört die Fähigkeit, einen Schritt hinter sich zurückzutreten und sich selbst zum Thema zu machen“ (Bieri 2003/71). Durch diesen inneren Abstand können wir uns als Handelnde, Denkende und Wünschende erleben, was die Vorrausetzung für den freien Willen und Entscheidung ist.
Der 2. Schritt, ein Entstehenlassen von etwas „Gespürten aber noch nicht Gewusstem“ (Wiltschko 2011/35), ist das Herzstück von Focusing, der „Felt sense“.
Das könnte ein kleineres oder größeres Unbehagen sein (eine Resonanz) auf etwas, was gerade entsteht oder ein Traum, der einen beschäftigt oder eine Entscheidung, die mich gefühlsmäßig nicht loslässt. Entscheidend ist es, diese Resonanz nicht zu bewerten, sondern nur zu bemerken, denn dadurch kann sich etwas verändern. Mit dieser Veränderung geht in der Regel ein Auftauchen von einem inneren Bild, einer Idee, vielleicht einem frischen Wort oder auch ein körperliches Gefühl einher.
Ich möchte Sie dazu kurz einladen, sich selbst zu erfahren. Unterbrechen Sie, was Sie jetzt gerade tun und nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, in denen Sie keiner stören kann und Sie nichts äußerlich ablenkt. Suchen Sie sich eine bequeme Position, schließen Sie die Augen und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Körper. Fragen Sie dann in Ihren Körper hinein:
Wie geht es mir im Moment?
Lassen Sie sich Zeit, es kann einige Momente dauern, bis Ihr Körper
antwortet. Achten Sie auf die aufsteigenden Empfindungen. Nach einiger Zeit des aufmerksamen Wartens bildet sich
etwas: nur unklar, vage, nicht verständlich und doch deutlich im Körper zu spüren.
Verweilen Sie aufmerksam bei diesem spürbaren „Etwas“ und versuchen Sie es zu beschreiben.
Der „Felt sense“ bezieht sich immer auf etwas, es ist der körperlich erlebte Aspekt einer Situation. Dieses spürbare Etwas bildet sich zu allen Lebenssituationen. Es ist nicht in Worten da, nicht begrifflich geformt und noch nicht konzeptualisiert. Zu allem, was ich anfrage, kann in mir durch diese Aufmerksamkeit eine körperliche Resonanz entstehen. Diese trägt eine implizite Bedeutung, heißt: eingefaltet, noch nicht formuliert, noch nicht konzeptualisiert, vage, leise und stimmungshaft (Gendlin 2002/76) sowie eine Ordnung des Fortsetzens in sich. Gendlin nennt sie Fortsetzungsordnung. Jeder Schritt bringt mehr Erkenntnis und verändert die Gesamtbefindlichkeit. Das Gegenteil davon ist das „explizite Erleben“, das schon geformt und formuliert ist wie Gedanken, Bilder, Gefühle, Impulse.
Im 3. Schritt wird dann die Aufmerksamkeit auf diese implizite Empfindung gelenkt. Ziel ist, das Gefühlte sprachlich oder bildhaft zu symbolisieren, Gendlin nennt dieses Symbol „Griff“. Wenn ein Felt sense wahrgenommen wird, ist es wichtig, ihn für einen Moment zu halten. Wir fragen uns, welche Qualität diese körperliche Empfindung hat.
Es ist aber kein Wort, das sich auf Inhalte bezieht, sondern auf die im Moment gespürte Qualität. Eben nicht „Ich bin ärgerlich, weil man mich übergangen hat“, sondern z.B. „Ich fühle mich zerrissen“. Es kann auch eine Bewegung sein, eine Farbe, ein Bild. Es ist wie ein Haltegriff am „Felt sense“, der einen wieder zu ihm zurück bringt oder an ihm dranbleiben lässt.
Ziel der Symbolisierung ist eine Stimmigkeit zwischen dem Gefühlten und noch nicht Gewussten und diesem gefundenen Symbol. Dies ist sehr deutlich körperlich spürbar. In dem Moment, wo es gefunden wird, geht eine angenehme Bewegung durch den Körper (Gendlin 2002/77).
Im 4. Schritt wird dieser Griff überprüft. Gendlin nennt es im Englischen resonanting (mitschwingen). Durch innere Achtsamkeit wird zwischen Symbolisierung und Resonanz hin und her gependelt. Wenn das Symbol passt, antworten wir mit Ausatmen und einer gespürten Erleichterung. Diese Bewegung wird „Body shift“ oder „Felt shift“ genannt. So kann der Felt sense weitergetragen werden, was auch „carrying forward“ (fortsetzen, weitertragen) bezeichnet wird. Jeder Schritt bringt eine neue Wahrnehmung, die einem organistischen inneren Plan folgt und uns etwas Neues erkennen lässt (Gendlin et. al. 1999/35).
Im 5. Schritt werden Fragen an den Felt sense gestellt. Das hilft, den Prozess weiterzuführen. Neue Qualitäten verschwinden oft schnell wieder, daher ist es günstig, sie zu wiederholen. Das Stellen von offenen Fragen ist ein wichtiger Vorgang im Focusing. Dies benötigt nur ein wenig Geduld, Bereitschaft zum Nichtwissen und eine gehörige Portion Neugierde. Auch wenn der Felt sense nicht gleich reagiert, ist es gut, trotzdem ein paar Minuten innerlich da zu bleiben. Wichtig ist die Zeit, die Sie damit verbringen, mit etwas Unklarem zu sein, von dem Sie noch nicht wissen, was es ist.
Im 6. Schritt spielen wir den Prozess innerlich noch mal durch, um den neuen Erfahrungen einen guten Platz zu geben, sie zu speichern und zu integrieren. Neues und Unbekanntes wird oft durch unsere „inneren Kritikerstimmen“ angegriffen und abgewertet. Daher ist es nötig, diese neue Erfahrung zu schützen, auch wenn die Erfahrung nicht gleich verstanden wird oder Sinn macht. Es wird weitergetragen, baut sich implizit auf und in einer nächsten Sitzung kann es sich vervollständigen.
Mein von innen gefühlter Körper weiß mehr als ich
Wir können sagen, der Körper, der ich bin, ist von Anfang an in Wechselwirkung gewesen mit der Umwelt. Das gilt nicht nur für die physiologischen Vorgänge, sondern für die Lebensvorgänge insgesamt. Der Körper ist immer schon in Interaktion gestanden mit allem, was wir schon erfahren haben. Der Körper hat es aufgenommen, verarbeitet und es ist sein Eigenes geworden.
„Wenn wir die Aufmerksamkeit auf uns lenken, auf den von innen gefühlten Körper und beginnen Bezug darauf zu nehmen, nämlich uns das leisten zu können und wahrzunehmen, was noch nicht in Worten vorhanden ist, kann aus dem eine ganze Menge Informationen kommen, die wir noch nicht konzeptualisiert und sprachlich geformt haben.“2
Schlussbetrachtung und Ausblick
Focusing beschreibt den psychischen Prozess, der in einem Menschen abläuft, wenn er sich zu seinem eigenen inneren Erleben hinwendet. Eine Methode, die die Signale des Körpers in Beziehung setzt zu unseren tiefliegenden Prozessen, sie durch Wahrnehmungsschulung bewusst macht und damit wieder eine innere Orientierung herstellt. Focusing als ganzheitliche Aufmerksamkeit für das eigene Befinden könnte man aber auch eher als Haltung denn als eine Methode beschreiben.
Es ist ein natürlicher Prozess, wir müssen ihn nicht neu lernen, bloß wiederentdecken. Er geschieht in der Person selbst, kann aber durch andere Personen begleitet und gefördert werden. Das, was ich erlebe, hängt davon ab, wie ich zu dem Erlebten in Beziehung trete. Der Fokus liegt also nicht so sehr auf den Inhalten des Erlebten, sondern darauf, welche Bedeutung dieses Erlebte für meine ganz persönliche Wirklichkeit hat. Daraus entsteht ein gefühltes Verständnis für sich selbst und neue innere Entscheidungen können gefunden werden. Focusing eröffnet eine Welt, die so vielfältig ist an Bildern, Stimmungen und einer Komplexität an Zusammenhängen, wie man sie sich kaum ausdenken könnte.
Focusing ist demnach nicht nur ein körpertherapeutisches Verfahren, nicht nur eine psychotherapeutische Methode und nicht nur eine philosophische Darstellung, sondern eine grundsätzliche soziologische Form eines neuen Denkens. Ein Denken, das wir nicht neu erfinden müssen, sondern einfach wieder entdecken.
Durch Focusing entstehen frische Gefühle, klare Gedanken und Bewegung in der Kommunikation, Sicherheit und Stabilität, es erschließt die Kreativität und schafft neue Freiräume, um sich in den alltäglichen Anforderungen und rasanten Entwicklungen wiederzufinden.
Man kommt zu dem Ergebnis, dass Aspekte von Focusing in unserem Gesundheitssystem zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen werden. Die wachsende Notwendigkeit von Eigenverantwortung und damit die Fähigkeit, Stress in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft zu bewältigen, ist eine wichtige Voraussetzung zur Erhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden. In einer immer stärker auf Innovation und Globalisierung ausgerichteten Funktionalisierung, Individualisierung und Förderung der Eigenverantwortlichkeit ist die Entwicklung einer Kultur des Innehaltens, Hinhörens und Zuhörens und damit die wachsende Bedeutung von Focusing nicht mehr wegzudenken.
Sylvia Glatzer
Sozialökonomin B.A, Heilpraktikerin, Shiatsu-Therapeutin, Dozentin an der Paracelsus Schule Hamburg
Literatur
- 1 managerSeminare 22, Januar 1996, S. 22-24
- 2 Johannes Wiltschko: Theorie, Anwendung und Nutzen von Focusing. Vortrag in Hamburg am 16.11.2007
- Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, über die Entdeckung des eigenen Willens. Fischer Verlag, 2003
- Eugene T. Gendlin, Johannes Wiltschko: Focusing in der Praxis. Pfeifer bei Klett- Cotta, Reihe Leben lernen, 1999
- Eugene T. Gendlin: Focusing-Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Rowohlt Taschenbuchverlag, 2002
- Johannes Wiltschko: Ich spüre also bin ich – Nicht-Wissen als Quelle von Veränderung, Focusing als Basis einer Metapsychotherapie. Bd. II, Edition Octapus, 2011
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