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Naturheilkunde
Lesezeit: 10 Minuten

Quaddeln gegen den Schmerz

NEURALTHERAPIE bei Kniegelenksarthrose

Im Zuge steigender Lebenserwartung nimmt die Anzahl von Patienten mit arthrosebedingten Beschwerden dauernd zu. Anfangs beklagen die Patienten v.a. Schmerzen bei Bewegungsbeginn sowie bei langanhaltender und starker Belastung. In fortgeschrittenen Erkrankungsphasen treten auch in Ruhe oder nachts quälende Schmerzen auf. Im Anfangsstadium werden Anpassungen des Lebensstils empfohlen, z.B. dosierte und gelenkschonende Belastung, ggf. Gewichtsabnahme und auch physikalische Maßnahmen. Wenn dies keinen Erfolg bringt, wird eine Schmerztherapie nach WHO-Stufenschema begonnen und zuletzt, bei sehr hohem Leidensdruck, eine operative Therapie mit (Teil-)Gelenkersatz erwogen. Eine spannende Alternative oder Ergänzung kann das Konzept der Neuraltherapie bieten.

Risikofaktoren

Die Arthrose ist definiert als chronisch-progrediente Destruktion des Gelenkknorpels unter Beteiligung des gesamten Gelenks inklusive Bandapparat, Gelenkkapsel und Muskulatur. Eine idiopathische Gonarthrose entsteht im Laufe des Lebens ohne erkennbare spezifische Ursache. Risikofaktoren sind weibliches Geschlecht, ein erhöhter BMI (>25) und höheres Lebensalter. Sekundäre Arthrosen können sich posttraumatisch oder durch anlagebedingte Form- und Funktionsstörungen entwickeln. Auch Stoffwechselerkrankungen, z.B. Hyperurikämie oder Diabetes mellitus (diabetische Mikroangiopathie), stellen nicht zu unterschätzende Risikofaktoren dar.

In der konservativen Therapie überschneiden sich konventionelle und komplementäre Medizin. Beide Disziplinen erwähnen Patientenaufklärung und -edukation (gelenkschonende Bewegung, Gewichtsabnahme), Physiotherapie, physikalische Therapie und Akupunktur. Die Komplementärmedizin hat aber noch weitere konservative Behandlungsansätze parat, die zu einer deutlichen Schmerzreduktion, Verbesserung der Lebensqualität, Reduktion medikamentöser Therapien nach WHO-Stufenschema und letztlich auch von operativen Therapien als Ultima Ratio führen können. Hierzu zählt auch die Neuraltherapie als eigenständiges na

turheilkundliches Behandlungsverfahren, auf das im Folgenden genauer eingegangen wird.

Blick in die Geschichte

Kurz gesagt versteht man unter Neuraltherapie die Injektion von Lokalanästhetika zu therapeutischen Zwecken. 1925 spritzte der Arzt Dr. Ferdinand Huneke (1891-1966) einer Migräne-Patientin das Lokalanästhetikum Procain versehentlich in eine Vene. Völlig überraschend verschwand der Kopfschmerz. Bereits im Jahr 1905 wurde Procain als erstes synthetisches Lokalanästhetikum eingeführt und damit die pharmakologische Basis für eine erweiterte Anwendung der Anästhesie im Sinne einer Heilanästhesie gelegt. Dies bezog sich zunächst aber „nur“ auf Anwendungen im Bereich des Sympathikus, z.B. in Form von Stellatum-Infiltrationen oder peri- und intraarteriellen Injektionen.

Jahre später setzte Dr. Huneke rund um die Unterschenkelwunde einer Patientin eine betäubende Injektion, worauf chronische Schulterbeschwerden der Frau innerhalb von Sekunden verschwanden – eine Wirkung in einem völlig anderen Körperbereich! Diesen Effekt beschrieb Huneke als „Sekundenphänomen“. Gemeinsam mit seinem Bruder Walter entwickelte er in den folgenden Jahren ein Konzept, das sie „Neuraltherapie“ nannten. Der vom Arzt von Roques geprägte Begriff „Neuraltherapie nach Huneke“ umfasst seither drei Ebenen: die lokale Therapie, die Segmenttherapie und die Störfeldtherapie.

Heilreaktion über Reflexwege

Wie alle an der Peripherie ansetzenden Heilmethoden zielt die Neuraltherapie darauf ab, eine Heilreaktion über die Reflexwege des neurovegetativen Nervensystems hervorzurufen, etwa wie eine Reflexzonentherapie (z.B. eine Fußreflexzonenmassage). Als Basis dienen Erkenntnisse aus der modernen Biokybernetik, nach denen der Mensch ein sich selbst regulierendes dynamisches System von Regelkreisen darstellt, die in ständiger Wechselwirkung zueinanderstehen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um neuronale, humorale, zelluläre und hormonelle Regelkreise, wobei der Informationsaustausch und die Reizverarbeitung v.a. über die Bahnen des Neurovegetativums erfolgt. Jede Krankheit erklärt sich damit auch als eine Regulationsstörung im Kommunikationsgefüge „Mensch“.

Die vegetative Steuerung beginnt im vegetativen Grundsystem, dem Zelle-Milieu-System, welches aus Zelle, nervalen Endfasern, Kapillaren sowie extrazellulärer Flüssigkeit be-

steht. Letzterer kommt hier eine besondere Bedeutung zu, da ausschließlich über sie die vegetativen Impulse an die Parenchymzellen weitergeleitet werden. Alle lebenswichtigen Funktionen (Stoffwechsel, Durchblutung, Zellatmung, Energiehaushalt, Temperatur, Säure-Basen-Gleichgewicht etc.) werden über dieses Zelle-Milieu-System geregelt.

Energetische Störung

Störungen im vegetativen Grundsystem sind energetischer Natur, verursacht durch die Veränderung des Membranpotenzials einzelner Zellen, das bei einer gesunden Zelle zwischen -40 und -90 mV liegt. Jede Reizeinwirkung beeinflusst ebendieses Potenzial maßgeblich (Depolarisierung). Normalerweise kehrt es schnell wieder in den Normalzustand zurück (Repolarisation), bei rezidivierenden sowie überstarken Reizen ist eine Repolarisation aus eigener Kraft jedoch oft nur schwer oder gar nicht mehr möglich. Die Zelle hat dann dauerhaft ein verändertes Membranpotenzial und kann nicht mehr adäquat auf eingehende Reize antworten, sodass es zu einer Regulationsstörung kommt.

Wird depolarisiertes Gewebe gezielt durch eine Neuraltherapie-Anwendung aktiviert, so kommt es zur Repolarisation und damit zur Entstörung und Normalisierung der biologischen Zellfunktionen. Der neuraltherapeutische, neurovegetativ normalisierende Effekt kann aber nur auftreten, wenn die Injektion in vorgeschädigtes, depolarisiertes Gewebe erfolgt. In diesem Fall beseitigt die Neuraltherapie eine bereits bestehende Nervenblockade.

Therapeutische Wirkungen der Injektionen

Durch mehrmaliges Wiederholen der Injektionen kann das ursprüngliche, gesunde Membranpotenzial wiederhergestellt werden, die Funktionsstörung ist dann beseitigt. Trifft das Lokalanästhetikum dagegen auf eine normal geladene, gesunde Zelle, kommt es zu einer reinen Anästhesiewirkung, d.h. die Zelle wird hyperpolarisiert und damit unempfindlich, also „betäubt“. Nach Abklingen der Anästhesie erreicht die Zelle wieder ihr normales Ausgangspotenzial, die Betäubung verschwindet. Bei der Neuraltherapie besteht somit ein vorrangig regulatorischer Effekt auf das Zelle-Milieu-System, der dazu führt, dass die beobachteten therapeutischen Wirkungen deutlich über den Wirkzeitraum des applizierten Lokalanästhetikums hinausreichen. Neben der schmerzstillenden und membranpotenzialstabilisierenden Wirkung werden auch antientzündliche, an-

tihistaminerge, lymphagoge und kapillarabdichtende Wirkungen angenommen.

Die Behandlung der nervalen Afferenz dürfte der wesentliche Mechanismus der reflektorischen Therapie über die spinale Reflexebene sein, bei der man innere Organe über Injektionen in das zugehörige Hautsegment behandeln kann (Dermatome, Head‘sche Zonen). Lokal orientiert sich das neuraltherapeutische Vorgehen an der primär schmerzhaften und in der Funktion gestörten Struktur. Damit sind alle Strukturen gemeint, von denen Schmerzen ausgehen können, sowie in regulatorische Prozesse einbezogene Organe (z.B. Drüsen, Lymphgewebe und Ganglien). Neben Haut und Unterhaut gehören dazu auch Muskeln und Faszien, die Sehnen und Sehnenansätze, Gelenkkapseln und Gelenke, die Nerven und Nervenwurzeln.

Zu der lokalen Wirkung am Injektionsort können außerdem nachhaltige körperliche und auch psychische Veränderungen als Sekundärphänomene hinzutreten, die außerhalb des unmittelbar lokalen oder nerval versorgten Wirkungsgebietes der Injektion liegen.

Drei Säulen der Therapie

Die drei Säulen der Neuraltherapie sind also die lokale und die segmentale Behandlung sowie die Störfeldtherapie. Üblicherweise beginnt die Neuraltherapie als lokale Therapie, bei der das Betäubungsmittel im Bereich der Beschwerden durch Quaddelungen eingebracht wird. Darunter versteht man eine Technik, bei der ein Medikament in die oberen Hautschichten gespritzt wird. So werden vielfältige Beschwerden, wie sie z.B. durch Muskelverhärtungen entstehen, aufgelöst. Durch das Quaddeln können auch Muskeln, Bänder, Nerven und innere Organe über Reflexbögen erreicht werden, auch wenn das bei der Therapie eingesetzte Mittel „nur“ in die oberen Hautschichten eingebracht wird.

Man konnte feststellen, dass bei Erkrankungen innerer Organe in bestimmten Haut- und Unterhautregionen Veränderungen auftreten. Daher geht die Neuraltherapie von einer Verbindung der inneren Organe mit bestimmten Körperoberflächen über das Nervensystem aus. Die Behandlung innerer Funktionsstörungen über das zuzuordnende Hautareal ist die Grundlage der Segmenttherapie.

Störfeldtherapie

Schlägt die Segmenttherapie fehl, wird eine Störfeldbehandlung eingeleitet. Dabei geht die Neuraltherapie von der Existenz von Störfeldern aus, die via Fernwirkung Beschwerden

in anderen Bereichen verursachen sollen. Als Störfelder bezeichnet die Neuraltherapie chronisch belastende Faktoren, die selbst unauffällig sind und keine Beschwerden verursachen, sich aber in ganz andere Körperregionen auswirken. Ein Störfeld irritiert Körperfunktionen dauerhaft oder schwächt unsere natürlichen Abwehrkräfte so sehr, dass auch kleinere Belastungen zu Fehlfunktionen oder Schmerzen führen können, die oft in keinem Verhältnis zum Auslöser stehen. Die Entstehung kann überall erfolgen.

Typische Störfelder sind die Tonsillen (Mandeln) und die Nasennebenhöhlen, der Zahn-Kiefer-Bereich, die Prostata, der gynäkologische Raum oder Narben aller Art. Können Störfelder identifiziert werden, ist es das Ziel der Neuraltherapie, diese auszuschalten. Der Neuraltherapeut injiziert ein lokal wirkendes Betäubungsmittel um die Störquelle herum und unterdrückt damit schädigende Impulse. Das Anästhetikum wird als Quaddelung oberflächlich in die Haut bzw. die Unterhaut injiziert oder auch, je nach Lokalisation des Störfeldes (z.B. Mandeln, Prostata), tiefer gespritzt. Bessern sich die Symptome sofort, ist das richtige Störfeld gefunden. Bei Patienten mit chronischen Beschwerden lässt sich das Nervensystem nicht so schnell umprogrammieren. Hier zeigt sich erst nach mehreren Sitzungen ein Effekt.

Neuraltherapie bei Gonarthrose

Bei der Gonarthrose im Speziellen kommen im akuten Stadium v.a. periartikuläre Injektionen an die Gelenkkapsel und Bandstrukturen in Frage, aber eher keine intraartikulären Injektionen wegen des Infektionsrisikos. Im chronisch-stabilen inaktiven Stadium bieten sich Quaddeln über dem Gelenk auf Höhe des Gelenkspaltes und ggf. direkt an weiteren Schmerzorten an. Im Rahmen der Segmenttherapie könnten Injektionen an vegetative Ganglien oder an segmental zugeordnete Wirbelsäulenabschnitte erfolgen. Schließlich sind die Möglichkeiten der Störfeldtherapie zu nutzen, hier v.a. von Zahnstörfeldern. Dabei geht es um die Bewertung der Reaktion des betroffenen Gelenks auf eine Quaddelung in einem mutmaßlichen Störfeld.

Im Krankenhaus für Naturheilweisen (KfN) führen wir bei Gonarthrose primär eine lokale Neuraltherapie durch. Diese oberflächlichen Quaddelungen gelenkspaltnah und an den direkten Schmerzlokalisationen am Knie mit insgesamt jeweils rund 10 Quaddeln pro Sitzung wiederholen wir während eines stationären Aufenthalts von 10 Tagen ca. drei- bis viermal. Dann sehen wir bereits allein durch die Neuraltherapie in der Regel einen anhaltenden und signifikant positiven Effekt auf das Kniegelenk.

Die Neuraltherapie ist aber nur einer von mehreren komplementärmedizinischen Behandlungsansätzen, die wir bei Arthrosepatienten regelmäßig einsetzen. Der Vollständigkeit halber seien auch diese kurz erwähnt:

Misteltherapie

Eine Misteltherapie kann, lokal am Gelenk appliziert wie eine Neuraltherapie, ebenfalls zu langanhaltenden positiven Effekten führen.

Regenerationsfördernde Substrate

Phytotherapeutika, Vitamine und Spurenelemente, Enzym- und Aromatherapie können helfen, konventionelle Medikamente einzusparen bzw. deren Wirksamkeit zu optimieren.

Homöopathie

Das Gleiche gilt für homöopathische Arzneien, wobei wir die Klassische Homöopathie nach Samuel Hahnemann anwenden.

Kälte- und Wärmeanwendung

Im Rahmen der Hydro- und der Thermotherapie kommen Wickel, Auflagen und Einreibungen zum Einsatz, z.B. Kohlwickel, Enelbin®-Umschläge (warm und kalt) oder Quarkwickel. Ebenso kann die Moderate Ganzkörperhyperthermie bei Schmerzpatienten angewendet werden. Dabei wird die Körperkerntemperatur des Patienten durch Wärmezufuhr von außen bis maximal 40,5 °C angehoben.

Patientenaufklärung

Zudem versuchen wir im Rahmen von Beratungsgesprächen förderliche sowie negative Einflussfaktoren auf die Gelenkbeschwerden individuell herauszuarbeiten und die Patienten zu einer gesundheitsfördernden Lifestyle-Modifikation anzuleiten. Bewegungsübungen, Atemtechniken und Entspannungsübungen (Gruppe oder einzeln) runden das ganzheitliche Programm ab.

Ernährung

Der Ernährungstherapie kommt auch eine wichtige Rolle zu, ob zur statischen Entlastung der Gelenke bei bestehendem Übergewicht oder zum Ausgleich von Ernährungsdefiziten hinsichtlich einer optimalen Gelenkversorgung mit Nährsubstraten.

Ausleitung

Aus dem Bereich der Ausleitenden Verfahren bieten sich neben dem lokalen Schröpfen außerdem die Blutegeltherapie und das Cantharidenpflaster bei Gonarthrose an.

Gerätegestützte Verfahren

Hier sind z.B. die Behandlung mit Reizstrom (TENS), die Iontophorese und die Phonophorese zu nennen.

Fazit

Die Neuraltherapie ist ein noch junges komplementärmedizinisches Verfahren mit großem Potenzial im Rahmen der Schmerztherapie degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates. Da hier eine konventionelle pharmakologische Schmerztherapie allein oft nicht ausreicht und diese ein erhebliches Nebenwirkungspotenzial birgt, ist eine Kombination mit komplementärmedizinischen Verfahren im Sinne einer integrativen Medizin zu empfehlen. Gerade die lokale, oberflächliche Quaddelung mit Lokalanästhetika, die bei Gonarthrose erfahrungsgemäß regelmäßig zu einer signifikanten und längerfristigen Schmerzreduktion führt, ist leicht erlern- und durchführbar. Sie kann das therapeutische Spektrum auf einfache Art und Weise sinnvoll bereichern.

Literatur
Beer AM, et al.: Leitfaden Naturheilverfahren für die ärztliche Praxis. Urban & Fischer Verlag / Elsevier GmbH, 2011 Fischer L, et al.: Lehrbuch Integrative Schmerztherapie. Haug Verlag, 2011 Frass M, et al.: Integrative Medizin – Evidenzbasierte komplementärmedizinische Methoden. Springer Verlag, 2019 Melchart D, et al.: Naturheilverfahren – Leitfaden für die ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung. Schattauer Verlag, 2008

Dr. med. Robert Schmidt
Facharzt für Innere Medizin, Naturheilverfahren und Homöopathie, Chefarzt des Krankenhauses für Naturheilweisen in München (KfN)
Schmidt.Robert@kfn-muc.de

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