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Psychotherapie
Lesezeit: 11 Minuten

Schattenarbeit als Chance für persönliches Wachstum

 

mit den Schattenseiten anderer Menschen umzugehen. Ich will lieber ganz sein als gut.“

Carl Gustav Jung

Den Scheinwerfer auf unliebsame Anteile lenken

 

In der psychologischen Praxis ist die Schattenarbeit eine der unbeliebtesten doch zugleich am meisten befreienden Methoden. Es benötigt Mut, sich darauf einzulassen und den eigenen unliebsamen Anteilen zu begegnen, anstatt diese Charaktereigenschaften sowie Verhaltensweisen an seinen Mitmenschen wahrzunehmen, um diese dann im Außen zu verurteilen und zu bekämpfen. Häufig sind die Schattenthemen mit sehr viel Scham und auch Angst verbunden.
• Was, wenn jemand merkt, dass ich gar kein so guter Mensch bin?
• Was, wenn jemand merkt, dass ich viel größer bin als ich mich zeige?
• Was geschieht dann?
• Mit mir? Mit unserer Beziehung? Der Freundschaft? Meinem Ansehen?

Einordnung

Bereits zum Zeitpunkt unserer Geburt tragen wir einen Rucksack mit individuellen Informationen (Vererbungen, im Mutterleib Erlebtes etc.). Im Laufe der Zeit – durch Erziehung, Peer Groups, Partner und Freunde, gesellschaftliche Anforderungen, aber auch durch Bücher und Filme – lernen wir, bestimmte Verhaltensweisen besser zu unterlassen, weil sie unerwünscht sind oder man hiermit auf negative Resonanz stößt, wenn man sie offen zeigt. Das kann neben Wut auch Willenskraft, Lebendigkeit oder eine große Begabung bzw. ein besonderes Talent sein.

Schattenanteile sind nicht immer das, was wir gemeinhin als etwas „Negatives“ betrachten. Es können auch Merkmale sein, die wir an anderen bewundern oder sie insgeheim darum beneiden. Ebenso sind darunter Aspekte zu verstehen, die wir brach liegen lassen oder sogar versteckt haben, um dem Neid und der Missgunst anderer zu entgehen.

In den Märchen der Gebrüder Grimm findet man viele solcher Beispiele: Schneewittchen, Aschenputtel oder Rapunzel. Immer gibt es eine böse (Stief-)Mutter oder eine böse Hexe, welche die verhassten Mädchen ablehnen, weil diese besonders sind (außergewöhnlich schön, liebevoll oder mit einem einzigartigen Merkmal ausgestattet).

Entstehung von Schattenanteilen

Je öfter wir gemaßregelt werden oder feststellen, dass wir bei uns wichtigen Menschen mit einem bestimmten Verhalten, einer Denkweise oder einem besonderen Talent anecken, werden diese Anteile – allegorisch betrachtet – in den Keller gesteckt. Wir vergessen, dass sie jemals existiert haben und ein Teil von uns sind.

Im Laufe der Zeit bauen wir uns selbst ein Image auf, ein Bild, das wir von uns malen. Alles, was nicht in diesen engen Rahmen passt oder aufgrund unserer Prägung als schlecht, böse oder egoistisch erscheint, nehmen wir nicht mehr in uns selbst wahr, sondern nur noch an bestimmen Mitmenschen.

Erkennen von Hintergründen

Schattenthemen können wir daran erkennen, dass wir auf manche Menschen, deren Verhalten, einige ihrer Charaktereigenschaften oder ihre Art zu denken äußerst aversiv reagieren. Somit lehnen wir den gesamten Menschen ab. „Was erlaubt der sich?“ „Was denkt die, wer sie ist?“ „Wie kann man nur so egoistisch, so unverschämt, so kaputt sein?“ Ebenso ist es möglich, dass man sich klein und unbedeutend fühlt, wenn man sich mit ihnen vergleicht. Es erscheint einem nur gerecht, geradezu angemessen, wenn man schlecht über denjenigen spricht und denkt.

Im historischen Kontext findet man auch kollektive Schattenthemen und Sündenböcke, die diesen zum Opfer fielen. Immer gab es auf der einen Seite die „Guten“ und auf der anderen Seite die „Bösen“, über die man sich erheben, die man ausgrenzen, bekämpfen und sogar ermorden konnte. Was wurde geschimpft, sich echauffiert und Abstand genommen von „solchen Menschen“?

Die eigene Relevanz

Hilfreiche Fragestellungen im Zusammenhang mit Schattenthemen (auch für sich selbst, wenn man bemerkt, dass man jemanden absolut nicht ausstehen kann) können sein: Was genau triggert dies gerade in mir? Was hätte ich selbst gerne gelebt, mich aber niemals getraut? Man muss nicht mit jedem zurechtkommen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen „jemand nicht sonderlich mögen“ und „jemand abgrundtief hassen und ablehnen, einfach weil er so ist, wie er ist“. Wenn wir also feststellen, dass jemand uns allein durch seine Präsenz oder seine Art zu sprechen zur Weißglut treibt, können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen: Hier gibt es ein Schattenthema.

Fallstudie

Eine 36-jährige, sehr gut aussehende Dame mit einem gut bezahlten Job in der Werbebranche kommt in meine Praxis. Wir arbeiten schon länger an ihren Themen. Sie berichtet von ihren Beziehungen, deren Muster sich stets wiederholen: Sie wird ausgenutzt, auch finanziell, immer wieder betrogen und schlecht behandelt.

Sie betont, dass es ihr sehr wichtig sei, selbst treu und loyal sowie generell ein guter Mensch zu sein, der weder lügt noch andere herabwürdigt, sondern immer versucht, hilfsbereit zu sein. Ihr würde ein konträres Verhalten niemals in den Sinn kommen. Ihre starke Wut, geradezu Verachtung, konzentriert sich auf andere Frauen, die viel zu sexy angezogen seien, zu laut lachten, sich in ihren Augen wichtigmachten oder in ihrem Beisein schamlos mit ihrem Partner flirteten.

Diagnose

Für mich sind eindeutig Schattenthemen erkennbar. Ich weiß, dass die Klientin in einer Familie aufgewachsen ist, in der Harmonie, Zusammenhalt und Gleichberechtigung das Credo waren. Es gibt keine toxischen oder narzisstisch veranlagten Familienmitglieder. Die Klientin hat jedoch während ihrer schmerzhaften Beziehungen Verlustängste entwickelt und schleichend das Vertrauen in andere Menschen und auch in sich selbst verloren. Immer begleitet von dem Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht, sonst würde ich so etwas nicht andauernd erleben müssen.

Therapieplan

Ich will das Thema schnell angehen. Da sie gesunde Strukturen aufweist, ihren Alltag, ihr Berufs- und auch Sozialleben ansonsten gut meistert, schlage ich ihr eine Schattenarbeit vor. Ich erkläre, dass das Integrieren von Schatten nicht bedeutet, dass man dadurch plötzlich ein anderer Mensch wird und die Schattenthemen ausleben muss. Die Schattenarbeit erfordert aber ein Sich-Eingestehen, dass man – unter bestimmten Voraussetzungen – ebenso handeln könnte. Zuerst weigert sie sich. Niemals würde sie so handeln wie ihre Ex-Partner, geschweige denn auch nur ansatzweise jemanden betrügen oder gar ihre Loyalität aufgeben.

Das Aufdecken möglicher Auswirkungen

Bevor wir die Schattenintegration angehen können, arbeiten wir an ihrem Widerstand. Wir gehen darauf ein, was im schlimmsten Fall passieren könnte, wenn sie sich darauf einließe, den Schatten der Frau zu integrieren, die es wagt, sich alles zu nehmen, was sie will. Welche belastenden Auswirkungen könnte es für sie haben, wenn sie sich anders kleiden, schminken oder geben würde? Welche Folge (auch in ihrem Gefühlsleben) hätte es, wenn sie tatsächlich einmal untreu wäre? Wie bereits erwähnt: Allein das Eingeständnis, dass man in einer bestimmten Situation so handeln könnte, kann schon sehr befreiend sein.

Durch diese Fragen und die bewusste Reflexion erkennt sie, dass sie mit der Schattenintegration ihr Opferdasein aufgeben müsste. Zustände, an die sie sich gewöhnt hat, auch wenn diese sich sehr unangenehm anfühlen, müssten losgelassen werden. Altbewährtes bietet aber auch eine gewisse Sicherheit, da man diesen zur Verfügung stehenden Raum gut kennt. Die Klientin versteht nun, dass sie die Geschichte der armen, ausgenutzten und stets betrogenen Frau hinter sich lassen und eine neue schreiben müsste. Sie würde dann Gefahr laufen, sich eventuell mit dem Neid anderer Frauen auseinandersetzen zu müssen und auch damit, andere zu enttäuschen, wenn sie es wagte, ihren eigenen Willen durchzusetzen, „Nein“ zu sagen, „egoistisch“ zu sein und das zu tun, was sie will.

Neues Bewusstsein

Diese Erkenntnis erzeugt Angst in ihr. Den Widerstand fallen zu lassen birgt einerseits viele neue und unbekannte Möglichkeiten, aber auch viele mögliche Gefahren. Diese Befürchtungen gehen wir als nächstes an. Die Klientin lernt, ihr Selbstbewusstsein und ihren Selbstwert zu steigern. Ich motiviere sie, alles aufzuschreiben, was sie gut kann und in ihrem Leben bereits erreicht hat, welche Prüfungen sie schon bestanden und welche schwierigen Situationen sie souverän gemeistert hat. Dabei darf sie sich zuerst wieder bewusstwerden, dass sie sehr viel mehr als nur das Opfer irgendwelcher Fremdgänger ist, die sie nicht zu schätzen wussten und ihr keine Achtung entgegengebracht haben.

Schattenintegration

Dieser Part ist zunächst sehr schwierig für sie. Dabei sage ich ihr all die Eigenschaften auf den Kopf zu, die sie so vehement ablehnt. Ich provoziere und konfrontiere sie bewusst. Zuerst weint sie, fühlt sich von mir unverstanden und wird dann extrem wütend. Man kann mit den Klienten vorab vereinbaren, dass Schreien, Weinen oder das Einschlagen auf den Boden

CD-Tipp
Susanne Agnes Fauser Schamanische Kraft- und Heilreisen 1&2–Tauche ein in die mystische Welt tief in dir/Verwirkliche deine Lebensträume Shaker Media Verlag

 

„Man hat nie Angst vor dem Unbekannten. Man hat Angst davor, dass das Bekannte zu Ende geht. Ich muss mich in der Wirklichkeit studieren – so wie ich bin, nicht wie ich sein möchte.“

Jiddu Krishnamurti

erlaubt ist, aber keine körperliche Gewalt! Schattenarbeit kann nämlich sehr viele verdrängte Emotionen auslösen!

Nach und nach sagt sie sich diese Dinge selbst. Man kann hierzu auch Klopftechniken nutzen, z.B. in der Avatäterischen Seelenhaltungsarbeit (ATA), oder sich selbst dabei die Thymusdrüse klopfen. Je mehr sie den Gedanken und das Empfinden zulässt, dass auch sie sexy und wild sein, flirten und laut lachen darf, umso mehr strahlt sie über das ganze Gesicht. Sie spürt, wie sich der enge Käfig auflöst, in den sie sich ihr Leben lang selbst eingesperrt hat, um immer „gut“, „loyal“ und „hilfsbereit“ zu sein, und fühlt sich mit der Zeit immer stärker und selbstbewusster. Ein neues Lebensgefühl breitet sich in ihr aus.

Status quo

Meine Klientin ist nicht mehr permanent angespannt. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, ist verschwunden. Mittlerweile traut sie sich auch, Erwartungen an ihren Partner zu stellen. Sie ist viel selbstbewusster und klarer in ihrem Handeln geworden und beginnt, ihre Weiblichkeit zu genießen. Sie weiß, dass sie anders agieren könnte als sie es bisher getan hat – wenn sie will. Sie erlaubt sich das Gefühl von Unabhängigkeit, Stärke und Eigenmächtigkeit. Nun lebt sie in einer Beziehung, die geprägt ist von gegenseitigem Respekt, Ehrlichkeit und Nähe. Ihr altes Muster hat sie durchbrochen.

Durch die Annahme der Anteile, die sie so vehement abgelehnt hat, müssen ihr diese nicht mehr im Außen von anderen gespiegelt werden. Meine Klientin hat ihren Wunsch nach einer treuen und loyalen Verbindung nicht aufgegeben – und das soll sie auch nicht – jedoch ist ihr durch die Schattenintegration bewusst geworden, dass sie auch ganz anders kann als immer nur nett, brav und hilfsbereit zu sein. Ihr Resümee: „Es fühlt sich gut an, sich zu erlauben, auch mal fies zu sein oder etwas Fieses zu denken. Nicht mehr alles verstehen zu müssen. Zickig sein zu dürfen. Und mir auch einzugestehen, dass es Männer gibt, die ich attraktiv finde. Inzwischen flirte ich auch ganz gern. Es macht mir einfach Spaß.“ Das hat sie stark gemacht.

Fazit

Schattenarbeit ist eine der herausforderndsten und zuerst auch unbeliebtesten Techniken, die Widerstand beim Klienten hervorrufen. Sie verlangt die Bereitschaft, sich von Illusionen über sich selbst zu verabschieden und anzuerkennen, dass man nicht ganz so „gut und heilig“, nicht ganz so „weise und über alle niedrigen Empfindungen erhaben“ ist, wie man sich gerne sieht. Dies betrifft auch die Erwartungshaltung, von der Außenwelt genauso wahrgenommen zu werden. Auf diese Weise löst man sich in der Folge auch von ewigen Enttäuschungen durch (scheinbar) undankbare Mitmenschen, die illoyal, verlogen, gemein und „ganz offensichtlich von niederem Charakter“ sind. Es kann aber auch geschehen, dass man erkennt, viel größer, machtvoller und stärker zu sein, als man jemals glaubte. Was in vielen Fällen den Abschied vom Opferbewusstsein bedeutet – mit allen Konsequenzen. Ein anderes Leben beginnt. Neue Räume öffnen sich. Man wird wieder neugierig wie ein Kind, anstatt im Käfig der Erwartungen, Enttäuschungen und mangelndem Selbstbewusstsein zu verbleiben.

Sich einzugestehen, dass man gegenüber seinem Inneren Kind manchmal regelrechten Hass empfindet (also in sich selbst die böse Stiefmutter aus dem Märchen trägt), ist für manche ebenso schockierend, wie es für andere die Tatsache ist, dass in ihnen ein Zuckerpüppchen existiert – eine Figur, die weich, süß und weiblich ist und gerne verwöhnt und angebetet werden möchte. Vor allem für Frauen, die sich sehr unabhängig und hart geben, eröffnen sich oft plötzlich ganz neue (Erlebnis-) Welten. Auch bei Menschen, die z.B. bisher überall faschistoide Verhaltensweisen erkennen, wandelt sich dieser Tunnelblick in dem Moment, wenn sie ihren inneren Faschisten erkannt, geehrt und angenommen haben.

Es geht bei der Schattenarbeit nicht darum, die „bösen“ Anteile hemmungslos auszuagieren. Es ist ein Sich-Eingestehen, dass man unter bestimmten Umständen ebenso handeln könnte. Das ist alles. Und manchmal fühlt es sich an wie Kröten-Schlucken. Aber es ermöglicht genauso inneren Frieden und Freiheit, da man nicht mehr verfangen ist in ständigem Beurteilen und Verurteilen anderer und nicht mehr die Kraft aufwenden muss, Emotionen und verdrängte Anteile zu unterdrücken. Die Welt im Außen verändert sich dann wie durch Magie. Und man begegnet tatsächlich mit einem Mal freundlichen, hilfsbereiten und wertschätzenden Menschen.

Susanne Agnes Fauser
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Life Coach, Expertin für Schamanismus und Frauenpower, Autorin
susanne.agnes.fauser@gmail.com

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