Kurze Einführung in die Psychographie
Prozeßorientierte Persönlichkeitstypologie – Teil 1
Mein Anliegen ist, in diesen Beiträgen die Psychographie von Dr. Dietmar Friedmann kurz und verständlich zusammenzufassen. Gleichzeitig war es mir wichtig, meine eigenen Ergänzungen dazu einzubringen. Zu allererst habe ich beim Schreiben an die Teilnehmer meiner Seminare und an die Klienten in der Beratung gedacht. Mancher Zusammenhang wird im nochmaligen Nachlesen vielleicht deutlicher als beim Zuhören. Ein langjähriger Freund fragte mich, ob ich denn nun alles durch die “psychographische Brille” betrachten würde – wahrscheinlich hatte ich ihm in meiner Begeisterung zu schillernd deren Vorzüge berichtet. Es kommt tatsächlich vor, konnte ich ihn beruhigen, daß ich einen ganzen Tag lang nicht daran denke – aber das ist wohl ein Tag, an dem ich nichts mit anderen Menschen zu tun habe.
Die Psychographie als prozessorientierte Menschenkenntnis und Persönlichkeitstypologie
Die
Psychographie ist eine von Dr. phil. Dietmar Friedmann 1990 veröffentlichte Persönlichkeitstypologie. Im Gegensatz zu
anderen Typologien, die meist nur Eigenschaften beschreiben, ist sie besonders am Entwicklungsprozeß interessiert.
Friedmann meinte, auch in sehr verschiedenartigen Menschen wiederkehrende Gemeinsamkeiten zu entdecken. Zuerst schrieb
er diese nur einer Spezialisierung auf einen der drei unterschiedlichen Lebensbereiche “Fühlen”,
“Denken” und “Handeln” zu. Die drei Persönlichkeitstypen nannte er deshalb
Beziehungstyp, Sachtyp und Handlungstyp.
Später entdeckten er und seine Schüler, daß sich diese typischen Spezialisierungen auch auf weiteren Ebenen beobachten lassen. Drei typische Unterscheidungsmerkmale sind:
- Beziehungstyp:
gegenwartsorientiert, spezialisiert auf Fühlen, starke DU-Bezogenheit - Handlungstyp:
zukunftsorientiert, spezialisiert auf Handeln, starke WIR-Verbundenheit - Sachtyp:
vergangenheitsorientiert, spezialisiert auf Denken, ausgeprägte ICH-Stärke
Das Besondere an Friedmanns Modell ist die Prozeßorientierung. Er beschreibt
einfach und nachvollziehbar ein gelingendes, gesundes Wachstum jeder dieser drei Persönlichkeitstypen.
Der
Beziehungstyp entwickelt sich durch Stärkung der Qualitäten des Sachtyps. Der Sachtyp entsprechend durch die typischen
Qualitäten des Handlungstyps, der Handlungstyp durch die des Beziehungstyps. Jeder Typ gleicht also seine wertvollen,
aber zu häufig genutzten Stärken durch die Entwicklung des nachfolgenden Bereichs aus. Diesen typischerweise
vernachlässigten Bereich nennt er deshalb den “Entwicklungsbereich”. Durch die konsequente Stärkung des jeweiligen
Entwicklungsbereichs, besonders in Streß-Situationen, gewinnt jeder Persönlichkeitstyp an dynamischer
Ausgeglichenheit. Versucht er es dagegen “rückwärts”, vernachlässigt also den Entwicklungsbereich, tendiert er zur
Einseitigkeit. Ideal wäre also folgende Entwicklung:
-
Der Beziehungstyp erlernt die Qualitäten des Sachtyps und zielt zum Handlungs-Bereich.
-
Der Sachtyp trainiert die Qualitäten des Handlungstyps und zielt zum Beziehungs-Bereich.
- Der Handlungstyp erarbeitet sich die Qualitäten des Beziehungstyps und zielt zum Sachtyp-Bereich.
Wie entstehen die Persönlichkeitstypen?
Zur Klärung dieser Frage haben
sowohl Friedmann als auch seine Schülerinnen und Schüler verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen. Eine
Möglichkeit wäre, daß die Weiterentwicklung in jeweils nächsten Bereich durch Erziehung, Umgebung oder individuelle
Erlebnisse gehemmt wird. Die Entwicklungsenergie staut sich dann sozusagen an und führt zur beobachteten
Spezialisierung auf den Persönlichkeitsbereich. Es ist aber auch denkbar daß ein Kind von seiner Umgebung in einem
Bereich (z. B. dem Denken) besonders gefördert wird oder seine natürlichen Anlagen optimal einsetzen kann und dadurch
eine verstärkte Einseitigkeit entwickelt. Häufig läßt sich in größeren Familien beobachten, daß alle Typen relativ
gleichmäßig vertreten sind. Darauf hindeutet es, daß sich die neu hinzukommenden Kinder bevorzugt auf die noch
unbesetzten Energien spezialisieren und so die Ausgewogenheit des Familiensystems fördern.Vielleicht sind aber bereits
vorhandene genetische Gewichtungen ausschlaggebend. Oder es ist eine Mischung aus den verschiedenen Möglichkeiten.
Einig ist man sich in der Diskussion, daß der einmal geprägte Typ beibehalten wird.
Zu welchem Persönlichkeitstyp gehöre ich?
Alle Menschen sind
unverwechselbar und einzigartig. Und doch beobachten wir ständig Gemeinsamkeiten. Ein unbekannter Autor sagte:
Jeder Mensch ist in gewisser Hinsicht:
-
wie jeder andere
-
wie manch anderer
-
wie kein anderer
Täglich nutzen wir verschiedenste Typisierungen zur Erleichterung unseres Alltags.
Angefangen von der Konfektionsgröße unserer Kleidung oder der Schuhgröße bis hin zur Bestimmung unserer Blutgruppe
durch den Arzt. Das psychographische Modell erhebt nicht (wie etwa die Mathematik) einen absoluten Anspruch, sondern
überläßt jedem einzelnen, der von ihm profitieren möchte, die Entscheidung, ob und wenn ja, welcher Gruppe der drei
Persönlichkeitstypen er sich zuordnet. Genauso wie ein Homöopath ein längeres persönliches Gespräch mit dem Patienten
für eine sichere Auswahl des passenden Mittels benötigt, wird ein in der Psychographie Kundiger seine Zuordnung erst
nach genauerem Kennenlernen wählen. Seine Erfahrung sagt ihm, daß die Seiten, die an einem anderen Menschen
beobachtbar sind, z. B. mit der jeweiligen Situation, der Lebensphase und dem Beobachter wechseln. Lassen Sie sich
daher Zeit, bevor Sie sich oder andere einem der drei Typen zuordnen. Und lassen Sie sich nicht von den Bezeichnungen
Beziehungstyp, Sachtyp und Handlungstyp irritieren. Sie wurden von Dr. Friedmann nicht dazu gewählt, um einen Menschen
auf eine einzelne Qualität festzulegen. Sie dienen mehr der sprachlichen Unterscheidung und klingen freundlicher als
etwa “Typ A, Typ B…”.
Frühere Generationen verwendeten manchmal die Bezeichnungen “Herzmensch”, “Kopfmensch” oder
“Handmensch”. Dies spiegelt in erstaunlicher Weise eine ähnliche Unterscheidung wider. Auch die homöopathischen
Persönlichkeitsportraits von C. Coulter oder die in Form der verschiedenen Enneagramme dargestellten
Persönlichkeitstypen lassen deutliche Parallelen zur Psychographie von Friedmann erkennen.
Die Psychographie hat als einzige Typologie die oben beschriebene Prozeßorientierung eindeutig formuliert. Außerdem entspricht sie wichtigen Kriterien für sinnvolle philosophische Modelle wie
Nützlichkeit | Lehrbarkeit | Verständlichkeit | Respekt/Achtung |
Einfachheit | Erprobtheit | Unverwechselbarkeit | kulturelle Neutralität |
Kurzportraits der drei psychographischen Persönlichkeitstypen:
Der Beziehungstyp (engl. “sensitive type”)
Sein Leben ist bunt und vielfältig. Er mag Farben,
Kinder und schöne Dinge mehr als andere. Wie ein Schmetterling zieht er von Blüte zu Blüte. Immer gibt es eine
Veränderung, die er zu berichten weiß. Manchmal erscheint er nervig, seine Stimme klingt oft etwas zu hoch. Wenn er
euphorisch ist, dann richtig. Er vergißt (leider) sehr schnell, was er gelernt hat. Denn er lebt zuerst in der
Gegenwart. Jeder Tag ist ein einzelner. Was gestern war, ist vorbei und morgen ist weit weg. Da er vom Gefühl, von
Beziehungen und Stimmungen abhängig ist, schwankt seine Befindlichkeit schneller als bei anderen. Was er gerade noch
für faszinierend und erstrebenswert hielt, ist im nächsten Augenblick wertlos und fade. Sein Nachdenken setzt zu
langsam ein, was ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Wenn es um Genauigkeit und Ausdauer geht, tut er sich
schwer. Dafür liegen ihm Kreativität, Spontanität und der überraschende Entwurf. Oft wirkt er kontrolliert und
bestimmend, ohne daß er es selbst so erlebt. Seine Liebe ist kindlich geprägt, vor Leidenschaften hat er eher Angst.
Sein schauspielerisches Talent, seine Improvisierkunst und Anpassungsfähigkeit scheinen angeboren. Die braucht er aber
auch, weil er es gerne allen rechtmachen will, sich schlecht vorbereitet und über wenig Eigenständigkeit und
Selbsterkenntnis verfügt. Seine Gutgläubigkeit führt dazu, daß er schnell enttäuscht wird und dann das Vertrauen in
andere verliert. Seine Träumereien können von der (für andere) offensichtlichen Realität weit entfernt sein. Seine
Liebesfähigkeit ist scheinbar grenzenlos und umfassend, im Vergleich aber meist oberflächlich. In Auseinandersetzungen
wählt der Beziehungstyp zuerst die Flucht (um nur schnell wieder Frieden zu findern) und lernt nur schwer, sich zu
verteidigen. Viel zu schnell sagt er “Ja”, wo doch ein “Vielleicht” angebracht wäre. Er gibt gerne und reichlich, eher
zu viel und zu unüberlegt, weshalb er sich später ausgenutzt fühlt. Er leidet, wenn er sich ungeliebt fühlt und man
ihn für dumm hält. Denn nichts ist ihm so wichtig, wie erkennen und verstehen.
Vermutliche Beziehungstypen: Bill Clinton, Tom Hanks, Rudolf Scharping, Willy Brandt, Tony Blair, Marilyn Monroe, W. A. Mozart, Heinrich Heine, J. W. Goethe, Friedrich Schiller, Hermann Hesse
Der Sachtyp (engl. “cognitive type”)
Im Kurzportrait: Seine Stärke ist das Denken. Er lernt
leicht, auch umfangreichen Stoff, denn er lebt mit dem Wort. Ein Motto von ihm heißt: “Heraushalten!”. Vorsichtig und
passiv zu sein kann man bei den Sachtypen lernen. Genauso die Reduktion, Gründlichkeit und Langsamkeit. Die
Vergangenheit (seine eigene) ist sein Zuhause. Zu gerne zeigt er die extremen Möglichkeiten einer Sache auf: Was die
Erotik angeht, kann er z. B. ihr verfallen oder sich über lange Zeiten von ihr fernhalten. Er ist der typische
Einzelgänger. Seine ICH-Stärke übertrifft die anderer Typen, was ihn nicht daran hindert, mit sich unzufrieden zu
sein. Niemand jammert so ausdauernd wie der Sachtyp. Seine Unzufriedenheit dauert in der Regel sein ganzes Leben,
seinen Erfolg im Leben verdankt er häufig seiner Fähigkeit, zu leiden und sich dadurch zu motivieren. Doch selbst wenn
er Erfolge verbucht, hat er das Talent, sich wieder auf Normalmaß zurechtzustutzen. Ist er einmal zufrieden, fehlen
ihm fast die Worte dafür. Was anderen an Ruhe und Bedächtigkeit fehlt, der Sachtyp hat mehr als genug davon. “Er kommt
einfach nicht in die Gänge”, könnte man meinen. Dabei überlegt er nur (zu) lange und gründlich, bevor er etwas macht.
Dafür durchdenkt er einen Sachverhalt gründlicher als andere, neigt aber dazu, sich im Detail zu verstricken und den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Er ist der sprichwörtliche “Mensch ohne Zukunft”, seine Befürchtungen sind
entsprechend. Der “ewige Student” ist eine ebenso treffende Bezeichnung für seinen Drang, ein Leben lang dazuzulernen.
“Wissen ist Macht” hält er für sein Erfolgsrezept. Er kann am längsten zweifeln und das “Vielleicht” aufrechterhalten,
bevor er sich entscheidet. Seine Sprache ist durchsetzt von Hauptwörtern, nur ihm gelingt es, in einem kurzen Satz
drei bis fünf davon unterzubringen. Wenn er erzählt, dann meist aus seinem (vergangenen) Leben. Sein Leiden ist, daß
er sich schnell mißachtet fühlt. Unter der Einsamkeit leidet er unsäglich, wie auch unter fehlender Berührung. Sein
Gehör ist meist ausgezeichnet und gute Musik ist ihm sehr wichtig. Er kann herzhaft lachen, ist ein schlechter
Verlierer beim Spiel, aber ein großer Genießer sinnlicher Erlebnisse. Nur der Sachtyp schafft es, daß sich jemand für
ihn interessiert und er nichts davon merkt. Er ignoriert jemanden so selbstverständlich, wenn er mit etwas anderem
beschäftigt ist, daß man ihm leicht böse Absicht unterstellt. Dabei ist er nur sehr stark konzentriert und nutzt seine
Fähigkeit zur ungeteilten Aufmerksamkeit. Wenn er einmal ein Ziel ins Auge gefaßt hat, übersieht er alles andere. Oft
hat er einen auffälligen, etwas zögerlichen Gang. Seine Körperbewegungen haben gerne etwas tapsiges oder unbeholfenes.
Dabei treibt er für sein Leben gerne Sport und kann eine große Ausdauer dabei entwickeln. Besonders die Aktivität in
einer vertrauten Gruppe kommt ihm entgegen, wenn er sich dort wohlfühlt, z. B. in einer Musikgruppe oder einem
Sportverein.
Vermutliche Sachtypen: Galileo Galilei, George Bush, Helmut Kohl, Oscar Lafontaine, Prinz Charles, Albert Einstein, Siegmund Freud, C. G. Jung, D. Friedmann
Der Handlungstyp (engl. “practical type”)
Sein Lebensinhalt ist sein Tätigsein. Er ist überaus
praktisch veranlagt, ein Macher, voller Power. Seine Fähigkeiten werden von allen geschätzt, die ihn kennen – sei es
am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Verein. Niemand führt ein Team so gut wie der Handlungstyp. Im Vergleich ist
er der treueste Freund, beständig und zuverlässig – wenn man ihn zum Freund gewonnen hat. Denn er wählt genau aus, mit
wem er sich enger einläßt. Er kann sehr streitlustig und kriegerisch auftreten, auch bösartig werden, wenn er etwas
nicht will. Denn er hat seine Ziele (und manchmal leidet er darunter) stets vor sich. Die Zukunft ist sein Zuhause.
Ohne Familie und verläßliche Bindungen will er nicht sein. Seine Erwartungen an Perfektion sind besonders hoch. Er
strebt stets nach mehr von dem, was er mag, und setzt sich rastlos mit seiner ganzen Kraft dafür ein. Macht handhabt
er souverän, fair und gerecht. Offenheit und Ehrlichkeit schätzt er über alles. Als Mutter ist der Handlungstyp an
seinem Platz, Pubertierende mögen dazu auch sagen: als “Supermutter”. Das “Nein” liegt ihm als erstes auf der Zunge,
ein “Ja” ist ihm nur schwer abzuringen – er hätte es selbst bereits gesagt (und gleich gemacht), wenn er es gewollt
hätte. Da er am liebsten alles “macht”, vernachlässigt er oftmals seine ausgeprägte Intuition und sein Gefühl.
Besonders Handlungstyp-Männer haben es in leistungsorientierten Kulturen wie der unseren schwer, dies im Lauf ihres
Lebens auszugleichen. Aber im Bereich “Fühlen” liegen die eigentlichen Stärken des Handlungstyps. Was ihn selbst
betrifft, täuscht ihn sein Gefühl so gut wie nie. Nur wenn es darum geht, die Gefühle anderer einzuschätzen, tut er
sich gelegentlich schwer. Deshalb kann er auch unabsichtlich die Gefühle anderer unterschätzen oder verletzen. Wer
länger mit einem Handlungstyp zu tun hat, gewöhnt sich bald daran und schätzt seine Fürsorglichkeit, die er in rauher
Verpackung auf seine Weise zeigt. “Viel hilft viel” scheint seine Erfahrung zu sein. Wenn er sich einmal festgebissen
hat, läßt er kaum mehr los. Entspannung fällt ihm daher schwer, er fürchtet sich vor dem Ruhestand und tut gut daran,
rechtzeitig einen (arbeitsintensiven) Garten anzulegen oder sich helfend um seinen großen Bekanntenkreis zu kümmern.
Er leidet, wenn er blockiert oder eingeengt wird. Handlungstypen lieben ihre Freiheit, viele mögen es, mit ihrem Hund
oder dem Pferd draußen zu sein. Vor allem gilt: der Handlungstyp schätzt Harmonie und setzt seine ganze Energie dafür
ein, sie zu ermöglichen.
Vermutliche Handlungstypen: Hillary Clinton, Meg Ryan, Robert Redford, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Joschka Fischer
Wird fortgesetzt
Werner Winkler Jahrgang 1964, arbeitet als freier Berater in einer mittelständischen Druckerei und lehrt als Dozent für lösungsorientierte Beratung an den Deutschen Paracelsus Schulen.
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