Ichkannkannkann – Die Macht der Autosuggestion
Schon um die Zeit des Ersten Weltkrieges kamen jährlich zehntausende Hilfesuchende aus aller Welt in die unentgeltlichen, öffentlichen Sitzungen des französischen Apothekers Émile Coué (1857–1926) nach Nancy. Viele hielten Coué für einen Wunderheiler, doch er begrüßte seine Klienten stets mit den Worten: „Ich habe nie jemanden geheilt. Die Kraft, die Sie mir zuschreiben, müssen Sie bei sich selbst suchen!“
Seine Hauptaufgabe sah er darin, den Umgang mit einer jedem angeborenen und ein Leben lang ununterbrochen wirkenden Kraft des Geistes zu lehren. Émile Coué verstand sich selbst als Lehrer bewusster Autosuggestion. Durch seine enormen Erfolge gelang es ihm, aus dem zunächst unbekannten Fachbegriff „Autosuggestion“ binnen weniger Jahre eine weltberühmte Selbsthilfe-Methode zu entwickeln.
Coués Sitzungen fanden in seinem Haus statt, in dem etwa 50 Besucher Platz hatten. Vier Mal täglich (außer sonntags), zwei Stunden lang. Der Ablauf der Sitzungen war stets derselbe, wie Prof. Brauchle berichtet. Brauchle selbst war jahrelang schwer leidend, nach einer OP kränker als jemals zuvor, und genas nach Lektüre und Anwendung von Coués kleinem Buch vollständig. Auch die erste amerikanische Schulrätin Ella B. Kirk kam gehbehindert, blieb aus Interesse gleich ein Vierteljahr und kehrte geheilt heim. Später schrieb sie ein Buch über ihre Erfahrungen.
Um den Menschen die Wirkung ihrer eigenen Geisteskräfte zu demonstrieren, ließ Coué seine Besucher kleine Experimente durchführen. In seinen Sitzungen sollten alle ihre Hände verschränken. Sie mussten die Finger fest zusammendrücken und dabei rasend schnell wiederholen: „Ich kann meine Hände nicht öffnen, ichkannnichtichkannnichtichkannnicht …“. Wenn nur noch der Gedanke „Ich kann nicht“ da ist und nichts sonst dazwischen Platz hat, wirkt er als einzige Wirklichkeit. Wenn er nach einer Minute das Öffnen befahl, brachten die meisten die Hände nicht mehr auseinander. Coué kommentierte dann schmunzelnd: „Wer so gut denken kann wie Sie, der sollte nie denken: Ich kann nicht!“, und er meinte: „Wer so etwas einmal erlebt hat, der weiß, was Denken ist.“
In dem Wort Suggestion steckt die lateinische Vorsilbe „sub“ = „unten“; das lat. „gestio“ finden wir auch im deutschen Wort „Geste“ wieder. Eine Geste ist ein feiner Umgang mit der Wirklichkeit. Suggestion unterteilt sich in Hetero- (Fremd-) und Auto-(Selbst-) Suggestion (Einfluss). In Pädagogik, Therapie usw. bis hin zur Religion wird heute alles fast nur noch über den fremden Einfluss angegangen. Wo bleibt der eigene Einfluss, wo bleibt die Autosuggestion?
Um Coués ebenso einfachen, wie tiefgreifenden und umfassenden Erfolge zu verstehen, muss man sehen, dass er fast alles, was wir heute vergebens über unsere begrenzten bewussten Kräfte versuchen, mit den unbegrenzten Kräften des Unbewussten erreichte. Nicht der beschränkte, eitle, großteils fehlinformierte bewusste Verstand steuert unsere Lebensfunktionen, sondern das Unbewusste. Mit unserem bewussten Verstand schaffen wir es nicht, im Leben auch nur bis zur Billion zu zählen. Unser Unbewusstes dagegen managt u.a. die gute Zusammenarbeit der ca. 100 Billionen Zellen, aus denen wir bestehen, und es weiß und kann noch sehr viel mehr. Da ist es doch vollkommen unverständlich, wenn jeder Mensch ein ganzes Leben lang solch einen potenten Partner hat und mit ihm nicht einmal ein Wort redet.
Vor zwei Jahren rief mich eine alte Dame aus Rom an und bat um ein Treffen. Sie war 80, hatte eine 3 cm betragende Beinlängendifferenz und ging am Stock. „Wann haben Sie Ihrem Gehirn zuletzt was Nettes gesagt?“, fragte ich. „Noch nie!“, lachte sie. Darauf ich: „Wenn Sie sich 80 Jahre lang für mich Tag und Nacht abgerackert hätten, und ich hätte nicht ein gutes Wort für Sie, täten Sie dann überhaupt noch was für mich?“ Darauf sie verblüfft: „So habe ich das noch nicht gesehen.“ Wir zeigen also völlig unbewusst ein Leben lang der wichtigsten Instanz unseres Seins die kalte Schulter, weil wir es nicht anders gelernt haben.
Wir reflektierten zusammen die gigantische Leistung, die das Gehirn im Laufe des Lebens für uns vollbringt, würdigten sie, entschuldigten uns für die Vernachlässigung, bedankten uns und eröffneten voll bewusst eine neue Freundschaftsbeziehung. Jetzt durfte sie sagen: „Bitte, liebes Gehirn, mach meine beiden Beine jetzt sofort gleich lang!“ Nicht nur diese Bitte wurde erfüllt; wir gingen ohne Stock ins Café am Ortsrand. Nun kann sich jeder ausmalen, was möglich wird, wenn er nicht nur zu seinem Gehirn nett ist, sondern auch zu seinem Herzen, zu seinem Magen, zu seinem Knie usw.
Vor ein paar Tagen schickte mein Vater „Köbis Glückspost Nr. 2“ einem 85-jährigen Bekannten, der seit Jahren an schwerstem Asthma & Co. leidet. In diesem kleinen Heft eines ehemaligen Schweizer Alphirten wird in vielen kleinen Geschichten auch von der Wirkung der Coué‘schen Autosuggestion berichtet. Er beschloss, die Methode auszuprobieren und berichtete überglücklich von durchschlafenen Nächten ohne Asthmaanfälle, ungestörten Spaziergängen etc.
Was sind denn „die Grundgesetze der Autosuggestion“? Coués in ca. 20 Sprachen übersetztes Büchlein beginnt mit: „Nicht der Wille ist der Antrieb unseres Handelns, sondern die Vorstellungskraft.“ Damit stellt er die gesamten sozialen Wissenschaften vom Kopf auf die Füße. Wollen, so zeigt das Herkunftswörterbuch, kommt von Wählen. Wenn jemand essen will, muss er dazu exakt einmal wollen/wählen und es dann tun. Von tausendmal wollen, von fester und stärker essen wollen, wird niemand satt, nur von einmal wollen plus einmal essen. Die Geschichte vom „starken Willen“ stimmt also nicht. Coué zeigt es u.a. am Beispiel des Balkens, über den jeder ganz leicht läuft, wenn er am Boden liegt. Aber wie ist das, wenn der Balken in luftiger Höhe zwei Kirchtürme verbindet? Warum läuft man da nicht einfach drüber? Man kann es nicht, nicht weil man nicht will, sondern weil man es sich nicht vorstellen kann, dass man es kann. Coué hierzu: „Nicht der Wille ist der Antrieb unseres Handelns, sondern die Vorstellungskraft.“
Coué leitet aus seiner Erfolgspraxis ab:
- Im Widerstreit zwischen Wille und Vorstellungskraft siegt letztere ausnahmslos.
- Im Konflikt zwischen Wille und Vorstellung beträgt die Vorstellungskraft – bildlich gesehen – so viel wie das Quadrat der Willenskraft.
- Sind Wille und Vorstellungskraft gleichgerichtet, so addieren sie sich nicht, vielmehr ist die Endkraft das Ergebnis einer Multiplikation beider Energien.
- Die Vorstellungskraft ist lenkbar.
Eines der interessantesten Ergebnisse meiner 35 Jahre währenden Suggestionsforschung war, dass es die Pädagogik genau entgegengesetzt macht wie Coué. Wenn es nicht geht, verlangt der Pädagoge: „Gib dir Mühe! Streng dich an! Lass nicht locker! Überwinde dich!“ Dem Suggestionskundigen in der Tradition der exakten Beobachtung nach Coué bleibt da nur der Kommentar: „Wer sich Mühe gibt, kriegt sie. Wer sich anstrengt, ist angestrengt, sonst nichts. Wer nicht locker lässt, ist immer verspannt.“
In der neuen „Ich-kann-Schule“ – dem verlässlich funktionierenden Lösungskonzept für die Schule auf der Basis von Coués Erfolgsmodell der bewussten Autosuggestion – habe ich an vielen Beispielen gezeigt, dass Erziehung mit Druck Erdrückung ist, und dass Druck natürlich auch das Gegenteil von Zug/Sog bewirkt. Druck komprimiert Probleme; das ist das Gegenteil von Lösung. Zwar sehen die Probleme dann kleiner aus, aber sie sind es nicht. Sie werden schwerer und, wie wir an Beispielen wie Erfurt, Winnenden & Co. erleben, gefährlicher. Wenn wir nicht mehr drücken können, gehen die Probleme wieder auseinander und sie wachsen exakt um die Energie, die wir hineingedrückt haben. Darum ist das Grundprinzip der neuen „Ich-kann-Schule“ der SOG.
Sog löst, richtet auf, kann mit kleinem Aufwand die Kräfte punktgenau lenken. Statt Aggression und Gewalt auf unterster Ebene erhebt man sich über diese Ebene der Erschöpfung der bewussten Kräfte, verschafft sich einen Überblick und lässt sich etwas auf- oder einfallen, was zieht.
Suggestion ist in der neuen „Ich-kann-Schule“ immer auch Soggestion. Den Körper füttert jeder von uns mindestens dreimal täglich; die Kräfte von Geist und Seele dagegen lassen wir glatt verhungern. Dieser feine und alles entscheidende Hunger hat starke SOG-Wirkung. Wenn jemand nun so schlecht mit seinen wichtigsten Lebenskräften umgeht, und ich gehe besser mit ihnen um, dann folgen seine Kräfte lieber mir als ihm. So gewinnt der Ohnmächtige über den Mächtigen Einfluss: wenn er gut zu den Kräften ist.
So habe ich vor 10 Jahren der damals 7-jährigen Sabrina zeigen dürfen, wie man seine Lehrerin verzaubert. Sabrina wollte schon nicht mehr leben, weil sie täglich von ihr vor der Klasse blamiert wurde. Sie schickte ihrer Lehrerin im Geiste alles, was ihr fehlte, um gut zu sein und gut zu handeln; die Frau änderte sich binnen Tagen um 180 Grad. Diesen Versuch des Gutes-Zudenken habe ich mit anderen Kindern in Nöten mit jeweils ähnlichem Erfolg wiederholt.
Der Mensch bestimmt – bewusst oder unbewusst – ständig sein Leben durch Autosuggestion. In der Folge wirkt er auf seine Mitmenschen in der Güte, in der seine Autosuggestion ist. Wer nur immer, wie gelernt, ein Leben lang brav seine Talente quält, der ist auch für andere eine Qual. Mit 35 Jahren Erfahrung aus der praktischen Autosuggestionsforschung kann man sich sehr schnell ein Bild von einem Menschen, seinen Schwierigkeiten und Möglichkeiten machen und, so er mag, ihm schnell und tiefgreifend und umfassend helfen bzw. ihm zeigen, wodurch er sich selber hilft.
Coué ist heute vielen leider nur durch seine drei Formeln bekannt. Der „Couéismus“ stand früher in jedem Lexikon: „Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht immer besser.“ Viele meinen, das müsse man sich einreden und erschöpfen sich dabei und wundern sich dann, wenn das Gedächtnis die Erschöpfung mit gespeichert hat. Schaut man aber genauer hin, so erkennt man ganz selbstverständlich darin das Grundprogramm unseres Lebens: Ganz klar geht es mir jeden Tag besser, entweder durch die Entfaltung meiner Kräfte und Talente oder durch die Fehler, die ich mit ihnen mache, um daraus zu lernen. Im Grunde ist diese Generalformel Coués nichts weiter als das JA zum Leben.
Wenn man rasend schnell – Mrs. Kirk berichtet, bei Coué klang das wie das Surren einer kleinen Kreissäge – das „Wegwegwegwegweg“ wiederholt, dann verschwinden damit ggf. Kopfschmerzen und andere Unannehmlichkeiten. Und mit dem „Ichkannkannkannkannkannkann“ kann man sich praktisch in einer Minute von unten bis oben mit „kann“ auffüllen. Wenn nur noch „kann“ drin ist, kann auch nur noch „kann“ rauskommen. So hat mein versierter Kollege Klaus Dieter Ritter z.B. Stotterer, die sich zuvor mit Vorleseübungen herumquälten, dazu gebracht, flüssig und frei vor anderen zu sprechen.
Es gibt kein Problem, wo nicht durch eine Verbesserung der Autosuggestion ein Erfolg zu erzielen wäre, denn, so sagt Coué: „Autosuggestion ist ein Werkzeug, das wir schon bei der Geburt besitzen, und diesem Werkzeug wohnt eine unerhörte und unberechenbare Macht inne, die – je nach ihrer Anwendung – sehr gute oder sehr schlechte Wirkungen hervorbringt.“
Die Frage, ob wir uns mit Autosuggestion beschäftigen sollen, stellt sich gar nicht; es geht für uns alle einzig um die Frage, wie.
Franz Josef Neffe
Lehrer, Autor und
Autosuggestionsforscher
Literaturempfehlungen:
- Alfred Brauchle, Hypnose und Autosuggestion, Institutum vitae, Dresden, 1993
- Emil Coué, Autosuggestion, Ösch, Zürich, 2009
- Jakob Meile, Köbis Glückspost Nr.2, Netstal, 2010
- Erwin Richter, Franz Josef Neffe (Hrsg.), Klaus Dieter Ritter, Die Befreiung von Stottern durch Autosuggestion, DCI 2003
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