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Psychotherapie
Lesezeit: 5 Minuten

Fallstudie aus der psychologischen Praxis: „Angst vor dem strafenden Gott“

Klientin: 32 Jahre

Frau K. ist ledig, Einzelkind und seit viereinhalb Jahren mit einem Partner (34 Jahre) zusammen, hat ein abgeschlossenes Studium in Soziologie und ist derzeit arbeitslos. Sie gibt an, bereits in verhaltenstherapeutischer Fachbegleitung zu sein, benötige aber für ihr spezielles Thema noch jemanden, der „sie wirklich versteht“.

Die Dame erscheint traurig und deprimiert. Die ersten zehn Minuten verlaufen schleppend, ein Gefühl von Scham ist für mich durch fortdauerndes Stammeln und Stottern, aber auch einen beständigen Blick in Richtung Boden bemerkbar.

Anamnese

Durch einen äußerst streng erziehenden Vater nach traditionell christlichen Werten und ein insgesamt konservatives Familienumfeld wächst die heute 32-Jährige in klaren Normen und Regeln auf. Sex vor der Ehe, Abtreibung oder ein laxes Partyleben sind untersagt, stattdessen eindeutige Konventionen wie abendliches Zuhause-Bleiben, regelmäßiger Kirchbesuch und Einhaltung von biblischen Geboten. Frau K. gehört zusammen mit den Eltern der seit Generationen „üblichen“ Freikirche an, der ein evangelikal-charismatisches Glaubensbild attestiert werden kann. Seit Kinder- und Jugendzeit nimmt die Klientin an entsprechenden Gruppen teil, Lobpreis und Missionierungsfahrten sind gängig.

Durch das Kennenlernen des Partners sei das Alltagsleben aufgelockert worden, sie habe zeitweise intensiv Tennis und Geige gespielt und einen etwa gleichaltrigen Freundeskreis aufgebaut.

Beschwerdebild

Seit nun zwei Jahren leidet die Klientin nach eigenen Angaben unter immer wiederkehrender Angst, vor allem in starken Träumen und bildhaften Gedanken eines übermächtigen, personalisierten und strafenden Gottes tagsüber. Hinzu kämen zwanghafte Rituale, sich bei möglichem „Fehlverhalten“ mit Gebeten oder Buße gegenüber Gott „entschuldigen“ zu müssen. Durch die Einschränkungen habe sich auch das Studium hingezogen – heute fühle sie sich aufgrund der Schuldgefühle und der ständigen Anspannung kaum in der Lage, längere Konzentration aufzubringen.

Als konkrete Beispiele für die Befürchtungen nennt die Klientin u.a., dass sie sich zehn Vater Unser auferlege, wenn eine ihrer Bewerbungen scheitere. Komme sie zu einer Verabschiedung zu spät, „müsse“ sie abends 30 Minuten in der Bibel lesen. Auch nach den Bußhandlungen verfolge sie aber das Bild von Gott, der sie „später in der Hölle schmoren“ lasse. Sie habe mittlerweile eine Verhaltenstherapie in Anspruch genommen (8. von 25 Sitzungen), wobei sie dort die Aufarbeitung möglicher Ursachen, Funktionalitäten und eine andere Umgangsweise mit ihrem Gottesbild vermisse. Ziel seien lediglich Expositionen, den Ängsten standzuhalten, was aber nur mäßig gelinge.

Herangehensweise

Nach drei Sitzungen mit Anamnese und Erfassung des Problems bitte ich Frau K., sich einmal selbst einzuschätzen: Fühlt sie sich als schlechter Mensch? Fühlt sie sich als Versager? Danach bitte ich sie, den Eindruck zu beschreiben, den Gott von ihr haben könnte. Zunächst irritiert von der Fragestellung und zögernd, weist die Klienten schlagartig auf mehrere Bibelstellen hin, an denen von Vergebung gesprochen wird. Und so dürfte „ihr Gott eigentlich nicht böse sein“, wenn sie mal „etwas falsch mache“. Aber sicher sei sie sich da nicht.

In zwei weiteren Gesprächen ermutige ich die Klientin, eine Chronologie mit Zitaten zu erstellen: Welche Aussagen von und über Gott sind ihr zeitlich in Erinnerung geblieben? Wann wurden ihr Gottes Strafen angedroht? Von wem? Und welche Gebote und Gesetze sind wann und von wem formuliert und scheinbar repräsentativ für Gott aufgestellt worden? Nach wenigen Minuten äußert Frau K., dass es ja gar nicht sie selbst sei, die sich dieses Bild von solch einem strafenden Gott geschaffen habe. Fast alle (Vor-)Urteile über Gottes Verhalten ihr gegenüber seien auf Bemerkungen und Androhungen von außen zurückzuführen.

In der neunten Sitzung bitte ich die Klientin, ein Mindmap zu entwerfen und Gott die Eigenschaften zuzuschreiben, die sie ihm selbst zuordnen würde. In der darauffolgenden Stunde werden die Ergebnisse gegenüber gestellt: Verwundert zeigt sich die Klientin über eklatante Unterschiede zwischen dem Gottesbild, das ihr vermittelt wurde und dem, was sie sich innerlich selbst wünscht und was realistisch anhand von Fakten verbreitet ist. In diesem Zuge äußert sie auch das Bedürfnis, der ihrigen Auffassung künftig mehr Platz einräumen zu wollen.

In Stunde elf verfassen wir einen „Moral-Katalog“: Welche Anforderungen will ich an mich stellen? Welche Gebote will ich tatsächlich und aus Überzeugung einhalten? Welche der Vorgaben aus Tradition haben keine begründete Grundlage und könnten über Bord geworfen werden?

Mit Unterstützung des Neurolinguistischen Programmierens machen wir uns in der zwölften Sitzung daran, Gebete neu zu gestalten. Ein wesentlicher Unterschied zeigt sich dabei bereits in den Eingangsworten: Statt „Gott, ich bitte dich um Verzeihung und Nachsicht …“ formuliert Frau K. nach einigen Anläufen eigens: „Gott, ich weiß, dass du mich annimmst, wie ich bin …“ Diese Einsicht bringt auch der Klientin einen veränderten Blickwinkel: Weil sie sich selbst nicht annehme, könne sie von Gott schon gar nicht erwarten, dass er sie bedingungslos akzeptiert. Auch hierzu erfolgt eine entsprechende Bibelarbeit, die Gegenteiliges beweist.

Schlussendlich bezeichne ich in den beiden vorletzten Stunden die Ängste und Befürchtungen als „brutales Warnzeichen und eindringlichen Hilfeschrei der Psyche, den eigenen Selbstwert wiederzubeleben“. Zweifelsohne gibt Frau K. auch zu, dass ihre Sorgen einen haltgebenden Charakter haben. Aufgrund der Arbeitslosigkeit fehle ein Alltagsrhythmus und ein Sinn, Abwechslung und Beschäftigung.

Nachbetrachtung

Mit den in 20 Stunden Beratung erarbeiteten Ergebnissen geht Frau K. wieder in die Psychotherapie. Für die weitere Bearbeitung ihrer Verhaltensmerkmale ist es ihr wichtig, Hintergründe zu verstehen und die oktroyierten Annahmen und Glaubenssätze mit den nachprüfbaren und seelisch verankerten zu vergleichen. In der Angst- und Zwangsproblematik hat sich bis zum Ende des seelsorgerlichen Coachings erwartungsgemäß zunächst nur eine geringe Besserung von etwa 20% nach Einschätzung der Klientin ergeben. Bei den Schuldgefühlen gibt sie jedoch einen Rückgang um 50-60% an.

Dennis Riehle Dennis Riehle
Psychologischer Berater (VFP), Sozialpädagogischer Berater und Personal Coach, Vorsitzender der Christlichen Lebensberatung e.V.
info@beratung-riehle.de

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