Achtsames Energiemanagement als Erfolgsgeheimnis gesunder Führung
Arbeitsministerin von der Leyen hat kürzlich den Stressreport Deutschland 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin über psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden vorgestellt. Demnach sehen sich die Mitarbeitenden starkem Termin- und Leistungsdruck (52%), Anforderungen mit Multitasking (58%), Störungen während der Arbeit (44%) oder ständig wiederholenden Arbeitsvorgängen (50%) ausgesetzt. Vielen Menschen fehlt die Kraft. Die neue Dramatik des emotionalen Schleudergangs ist für viele derart belastend, dass ihnen durch lange Besprechungen, dringliche Konferenzschaltungen und die E-Mail-Flut schwindelig wird. Bis zum Krankwerden. Dabei ist die physiologische Stressreaktion seit Tausenden von Jahren gleich geblieben. Es handelt sich um eine neuro-biochemisch-hormonelle Rückkoppelung auf eine Gefahr, die den Körper in kürzester Zeit auf Kampf oder Flucht programmiert. Die Säbelzahntiger von heute sind E-Mails, Meetings und Konflikte. Doch anders als früher können die Menschen heutzutage weder flüchten noch körperlich kämpfen. Das Adrenalin kann so nicht abgebaut werden und hält den Körper auch abends noch auf Hochtouren.
Grundsätzlich erleben Mitarbeiter den Stress körperlich gleich. Für alle gilt: Insbesondere in Zeiten des Umbruchs, z.B. bei Reorganisationen von Abteilungen, ändern sich Rollen und Positionen in den Abteilungen. Dadurch ändern sich auch Ablauforganisation und Aufstiegschancen – der ideale Nährboden für Stress und Mobbing. So wird die Arbeit schnell zum Überlebenskampf. Kürzlich berichtete mir ein Heilpraktiker, dass er durch die Telefonate mit seinen Patienten enormen Stress hätte. Bestimmte Gesprächsaspekte, z.B. mit einem verärgerten Patienten, können so oder so interpretiert werden. Ob eine Situation als stressig empfunden wird, hat viel mit dem Erleben und der Bewertung des als unangenehm empfundenen Spannungszustands zu tun. Wenn die Situation in Zukunft anders bewertet wird, kann das erlebte Stresslevel signifikant gesenkt werden. Machen Sie sich daher bewusst, was Sie wann stresst. Welche körperlichen Symptome nehmen Sie wahr? Es geht darum, die Warnzeichen rechtzeitig zu erkennen und achtsam mit sich selbst umzugehen.
Akuter Stress kann uns anspornen, chronischer Stress dagegen macht krank. Er führt zu einer dauerhaften Erhöhung des Cortisolspiegels, der wiederum eine Schwächung des Immunsystems nach sich zieht. Auf Dauer wird die Gesundheit gefährdet. Stehen Anspannung und Erholungsphasen nicht mehr im Gleichgewicht, gerät der Körper in Daueralarm und kann seine Energiereserven nicht mehr auftanken. Die Folgen können Erschöpfung, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Reizdarm, Depressionen, Bluthochdruck und sogar Herzinfarkt sein.
Auch im Gesundheitswesen arbeiten viele weiter nach dem „Schneller, höher, weiter!“-Prinzip – bis irgendwann überhaupt nichts mehr geht. Rien ne va plus, die Batterie ist leer. Wenn die Seele aus dem Takt kommt, schleicht sich das Ausbrennen langsam ins Leben ein. Burnout ist eine Folge des Überengagements, erlebter Dauerbelastungen und Überforderungen, überzogener Erwartungen, Anspannung und Enttäuschungen bei mangelnder Entspannung und Erholung, die sich als eine nach unten enger werdende Abwärtsspirale darstellen lässt. Untersuchungen der gesetzlichen Krankenkassen und der WHO machen deutlich, dass krankheitsbedingte Ausfallzeiten wegen psychischer Gründe eindeutig auf dem Vormarsch sind und die Depression bereits im Jahr 2020 die arbeitsbedingte Erkrankung Nr. 1 sein wird. Effektives Stressmanagement bedeutet auch für Heilpraktiker, Psychologen und Ärzte einen effizienten Umgang mit den eigenen Energien.
Unter dem Aspekt des knappen Gutes der eigenen Energiereserven müssen wir die Arbeit und unsere Einstellung dazu neu und anders bewerten. Im Sinne einer guten IST-Zustand-Analyse gilt es die Energieräuber, wie z.B. Konflikte, Druck oder mangelnde Wertschätzung, zu identifizieren und Energiespender, wie z.B. Erfolge, zielführende Gespräche, ausreichend Schlaf, gute Freunde, Sport und Hobbys, gezielt einzusetzen.
Angespannte Menschen mit hohem Perfektionsstreben und ausgeprägtem Helfersyndrom sind deutlich gefährdeter als Menschen, die gelassener sind. Dies hat viel mit den eigenen Erwartungen und Ansprüchen zu tun. Je höher die Erwartung an sich selbst und andere, desto höher die Gefahr der Enttäuschung und der Stressgefährdung. Doch Stressbewältigung lässt sich lernen. Hohe Resilienzwerte, d.h. gutes Umgehen mit Fehlschlägen, Aufbauen von Ressourcen, sich abgrenzen und abschalten können sowie ausreichend Sport und Bewegung sind wichtige Voraussetzungen, dem Stress nicht zum Opfer zu fallen. Achtsamkeit ist daher sehr wichtig.
Der Gesellschaftswandel, der sich permanent erhöhende Druck in der Wirtschaft und die Globalisierung sind Dimensionen, denen sich der Einzelne nicht mehr entziehen kann. Im Zeitalter von Multitasking und globalisierter Virtualität gibt es keine festen Büros mehr, keine festen Orte, keine festen Zeiten. Alles findet gleichzeitig, immer schneller und immerzu statt. Nichts bleibt, wie es war. Das führt zu Entwurzelung und Unsicherheit. Durch zunehmende Komplexität, permanente weltweite Erreichbarkeit über mobiles Telefon, SMS und E-Mails sowie Arbeitsverdichtung in einer von Effizienz getriggerten Arbeitswelt kommt es zu Veränderungen im Arbeits- und Leistungsverhalten.
Getrieben von äußeren Zielen und Fremdbestimmung wissen viele überhaupt nicht mehr, was ihnen eigentlich entspricht und was sie im Leben machen wollen. „Schneller, höher, weiter!“ ist nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Vielmehr braucht es Orientierung und eine klare Ausrichtung, wohin die Reise geht. Um die eigenen Potenziale, Fähigkeiten, Talente und Bedürfnisse mit den Anforderungen im Arbeitsleben in Einklang zu bringen, braucht es Achtsamkeit und Zeit. Und genau daran hapert es meist. Ein Psychologe sagte mir: „Ich lebe unterhalb des zeitlichen Existenzminimums.“ Dabei ist Zeit nur ein Synonym für Präferenz. „Schatz, ich komme heute später nach Hause, muss noch dringend die Gutachten diktieren …“ So wird mancher Partner vertröstet, wenn es im Praxisalltag heiß hergeht. Wir entscheiden uns für die Gutachten und gegen die eigene Partnerschaft – das ist Präferenz. Vorausgesetzt, es ist uns bewusst. Doch im Highspeed-Tempo des hektischen Praxisalltags wird genau dieser Aspekt nicht mehr wahrgenommen. Viele nehmen sich die Zeit, eine Reise von zwei Wochen minutiös zu planen. Doch für die Planung der eigenen Lebensreise ist keine Zeit. Was ist wirklich wichtig? Was ist wesentlich? Was sind meine eigenen Bedürfnisse?
Ohne Ressourcen keine Leistung – auch im Gesundheitswesen. Der Mensch ist ein regeneratives Unternehmen. Im Sinne eines professionellen Selbst- und Stressmanagements gilt es, die Wahrnehmung für das wirklich Wesentliche zu schärfen und sich Zeit und Raum zu geben. Zur Aufrechterhaltung der eigenen Leistungsfähigkeit auch in der eigenen Praxis muss Energie aufgetankt werden. Wer im Laufschritt durchs Leben hetzt, dem empfehle ich eine Atemübung, um im Tagesablauf zu mehr Achtsamkeit zu gelangen. Konkret geht es um ein An- und Innehalten. Wie verhalte ich mich im täglichen Arbeitsalltag? Was hat sich geändert? Was geht leicht? Was stört mich? Was konkret möchte ich ändern?
Den Heilberuflern kommt eine wichtige Rolle bei der Begleitung der Patienten zu: Ihnen obliegt die sinnstiftende Unterstützung eines gesunden und eigenverantwortlichen Gesundheitsbewusstseins. In Organisationen ist es wichtig, wahrzunehmen, wie Mitarbeiter mit ihrem Energiemanagement umgehen. Wenn Mitarbeiter noch nachts E-Mails schreiben und auch die Wochenenden durcharbeiten, ist es wichtig, dass Kollegen und Führungskräfte Feedback geben, bevor eine negative Stressspirale einsetzt. Denn Arbeitsverdichtung und Prozessbeschleunigung führen zu mehr Effizienz auch in Kliniken und Praxen. Das ist professionell. Doch die weitere Erhöhung des Drucks führt nicht automatisch zu größerer Effektivität und mehr Innovation – sondern auch zu Verunsicherung, Vertrauensverlust und Burnout der Mitarbeiter.
Um Teams gesund zu führen, braucht es neben der fachlichen Kompetenz der Führungskraft ein Fingerspitzengefühl, um Mitarbeiter zu begeistern und für den Praxisalltag zu faszinieren. Die Befähigung eines Mitarbeiters wird bei Einstellung durch Zertifikate, Diplome und sehr gute Zensuren eingekauft. Aber die innere Bereitschaft entscheidet sich jeden Tag neu. Als gute Führungskraft gilt es, die Potenziale zu entdecken und gezielt zu fördern, aber auch zu erkennen, wann das Energielevel im roten Bereich ist – bei sich selbst und bei den Mitarbeitern. Spätestens dann ist es wichtig, gezielt Auszeiten zu nutzen, damit sich auch Praxis- oder Klinikangestellte energetisch wieder regenerieren können. Ansonsten hat dies Auswirkungen auf den persönlichen Antrieb, die innere Flamme und die intrinsische Motivation. Mit direkter Korrelation auf die Performance und die Wirtschaftlichkeit einer Praxis oder einer Klinik.
Wichtige Fragen könnten sein: Wie ist die Stimmung im Team? Wie gehen wir miteinander um? Macht es Spaß? Haben wir eine gemeinsame Ausrichtung? Wenn die emotionale Liquidität auf dem Spiel steht und es anstrengend wird, beginnt die Halsstarrigkeit. Wo nur noch Controlling regiert, haben Spielräume keinen Platz mehr. Wenn es keine Freiheitsgrade mehr gibt, bleiben Kreativität und Innovation auf der Strecke. Das zieht Energie ab.
Durch das hohe Maß an Fremdbestimmung empfinden sich Mitarbeiter eingegrenzt. Dabei sind viele Limitierungen durch eigene Glaubenssätze selbst gesetzt. Durch eine Veränderung des Blickwinkels und eine Verbreiterung der Perspektive können diese Grenzen sinnvoll geweitet werden. Beispiel: Sehen Sie die Stärken und Möglichkeiten oder sehen Sie Schwächen und Probleme? Im Team gemeinsam gesund zu wachsen bedeutet, den Möglichkeitsraum für Faszination und Neugierde zu öffnen, anstatt im defizitorientierten „Geht nicht, weil …“ zu verharren. Die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen prägen unsere Erwartungen. Wenn jedoch der Mind-Set – also die innere Haltung – verändert wird, können neue Möglichkeiten entstehen. Wir legen zu viel Wert auf das Beheben von Fehlern und Bekämpfen von Symptomen. Viele Führungskräfte schauen auf das, was noch fehlt, anstatt anzuerkennen, was schon geschafft wurde. Letztlich ist dies ein schwächebasierter Ansatz. Ein stärkebasierter Ansatz würde hingegen dazu führen, dass Symptome gar nicht erst entstehen. Ein strategisch ausgerichtetes gesundes Führungsverständnis ist die Voraussetzung für nachhaltige Leistungsbereitschaft. Nur wenn Mitarbeiter gesund sind, können sie zur Wertschöpfung und Profitabilität des eigenen „inneren Unternehmens“ und des Unternehmens, in dem sie arbeiten, beitragen. Die Kunst ist es, weiche Faktoren hart messbar zu machen, damit Gesundheit als Wertschöpfungsindikator erkannt wird, der für das Unternehmen bilanzwirksam ist.
Was unterscheidet gute von schlechten Unternehmen, Praxen und Organisationen? Natürlich die Zahlen – könnte man meinen. Doch die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse sind das Produkt menschlicher Arbeit. Und die wird beeinflusst von der inneren Haltung der Menschen. Die Wahrnehmungsfähigkeit für das große Ganze geht im Hamsterrad der Effizienz verloren. Das Unternehmen krankt. Können wir es uns leisten, dass Unternehmen einerseits sehr kostengünstige Produkte herstellen, ihre Mitarbeiter aber systematisch ausnutzen und sie unter einer schlechten Führung krank werden? Ist es gesellschaftlich vertretbar, wenn ganze Betriebe durch falsche Führung krank werden? Tatsache ist, dass mit wachsender Komplexität auch Angst- und Stresserkrankungen einhergehen. Bei einem Menschen mit Burnout-Syndrom würde ein ganzheitlich vorgehender Arzt physische und psychische Komponenten untersuchen. Sein Ziel wäre es, die Lebensfunktionen wiederherzustellen. Auf ein kränkelndes Unternehmen wird primär analytisch geschaut, es werden Kennziffern und Bilanzen geprüft. Es ginge aber auch anders. Nach dem Motto „Arbeit macht Spaß oder krank.“ wäre es dringend angeraten, auch Führung unter einem ganzheitlichen Konzept zu betrachten: Gesunde Unternehmen zahlen sich aus.
Will man nun ein Unternehmen mit einem ganzheitlichen Ansatz diagnostizieren, beginnt dies mit einer Orientierungsphase. Es geht dabei gerade nicht um ein schnelles analytisches Verstehen von Prozessen, sondern darum, ein gemeinsames Verständnis für die IST-Situation zu entwickeln. Die unterschiedlichen Erwartungen der Mitarbeiter, der Abteilungen, des Managements und auch der Kunden oder Patienten müssen geklärt werden. Dazu ist eines extrem wichtig: Zuhören. Doch Zuhören kostet Zeit. Führungskräfte können durch Reflexion und Wahrnehmungsschärfung wieder an den eigenen persönlichen Kern andocken, um authentisch Führen zu können – sich und andere. Nur wer achtsam im Einklang ist mit sich selbst, dem gelingt es, andere mit Inspiration zu führen.
Das herkömmliche Messen, Analysieren und Bewerten reduziert den Blick auf die Sachebene. Reparieren lassen sich nur Maschinen. Insbesondere im Gesundheitssektor kommt es auf Menschlichkeit an. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Klinik oder eine Praxis ganzheitlich zu führen. Weiche Faktoren müssen in die Gesamtbilanz einbezogen werden. Zum Thema gesunde Führung kommt es auf Folgendes an: Auf visionäre Gestaltungskompetenz, ganzheitliches Führungsverständnis, emotionale und soziale Intelligenz, Begeisterungsfähigkeit, Motivations- und Kommunikationsfähigkeit, Sinnstiftung und Bildungsfähigkeit von Verantwortungsgemeinschaften – sie alle sind als persönliche Soft-Skills genauso wichtig wie die Hard-Facts. Weiche Faktoren und harte Fakten gehören wie Yin und Yang zusammen.
Achtsamkeit im Alltag ist wichtig, um wieder an sich selbst andocken zu können. Es ist besser, bei sich als ständig außer sich zu sein. Vielleicht entsteht aus dem Verzicht auf Routine die Fülle neuer Chancen für die Wertschöpfung – besser wären mehr Mut, Althergebrachtes infrage zu stellen, Wertschätzung, kreative Schaffenskraft, ganzheitliche Innovation, Eigenverantwortung, Vertrauen und Freiraum!
Dr. med. Jörg-Peter Schröder
Arzt, Business-Coach und Autor
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