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Osteopathie
Lesezeit: 9 Minuten

Kieferentspannung

Total zerknirscht – oder völlig entspannt ?!

Den wenigsten Menschen ist bewusst, was Kiefer und Zähne Tag für Tag leisten. Welchen enormen Kräften diese Bereiche unseres Körpers ausgesetzt sind. Während sie unsere Nahrung zerkleinert, bringt die Kaumuskulatur Enormes zustande. Der dabei entstehende Druck entspricht dem Gewicht einer 50 kg schweren Person, die Stöckelschuhe trägt und mit ihrem gesamten Gewicht sowie nur mit einem Absatz auf eine ausgebreitete Handfläche tritt. Bei einem angespannten Kiefer kann sich dies noch steigern, bis zu 70 kg pro Quadratzentimeter.

Die einzelnen Zähne haben bei normaler, entspannter Mundstellung keinen Kontakt miteinander. Fachlich wird dies als „Ruheschwebelage“ bezeichnet. Da wir uns heute häufig nicht mehr direkt die „Zähne zeigen“ und stattdessen oft „zähneknirschend“ beigeben, entstehen in der Muskulatur große Zugkräfte. Die Spannung in Kopf- und Kieferbereich ist auch in Phasen höchster Konzentration sehr hoch. Dasselbe gilt, wenn körperlicher oder emotionaler Schmerz gespürt wird. Der Volksmund ist da sehr direkt. Redewendungen wie „Ich beiß die Zähne zusammen und geh da durch“, oder „Ich kriech bald auf dem Zahnfleisch“ sprechen eine deutliche Sprache. Und das bleibt nicht ohne Folgen.

Das Gesicht von Frauen ist oftmals nicht nur anmutiger als das Antlitz von Männern. Laut der Fachzeitschrift „zm – Zahnärztliche Mitteilungen“ schmerzt es leider auch häufiger. 15-18% der Frauen sind von Schmerzen im Gesicht, in den Kaumuskeln, den Kiefergelenken oder im Ohrbereich geplagt. Ursache ist oft die Mehrfachbelastung durch die vielen Tätigkeiten, die als Hausfrau, Ehepartnerin, Mutter und im Beruf nebeneinander oder gleichzeitig zu erledigen sind. Dahingegen sind nur etwa 9% der Männer von Schmerzen im Kieferbereich betroffen. Als Hauptursachen können hier beruflicher Ehrgeiz, Konkurrenzdenken unter Männern und innere Aggressionen angeführt werden. Mittlerweile liegen die Schätzungen zum Vorkommen von Gesichtsschmerzen bei bis zu 70% der Erwachsenen und fast 20% der Kinder und Jugendlichen. Interessanterweise verschwindet der Gesichtsschmerz im Alter fast völlig: Bei den über 64-Jährigen haben nur noch 2% Probleme.

Emotionen verspannen den Kieferbereich

Eine Ursache des Zähneknirschens hängt vermutlich mit emotionalen Themen zusammen. In vielen Fällen sind seelische Dysbalancen mit beteiligt. Dadurch, dass wir unsere Ängste nicht zeigen wollen und unsere Nervosität verbergen, steigt der innere Druck. Wenn aber etwas Wichtiges nicht ausgesprochen wird oder ein „großer Brocken“ nicht zu schlucken ist, bleibt dies im wahrsten Sinne des Wortes im Hals stecken. Durch das Fehlen eines angemessenen Ventils werden diese inneren Anspannungen meist unbewusst und schwer kontrollierbar an den Kauapparat weitergeleitet. Dahinter wirkt der Sympathikus, ein Teil des vegetativen Nervensystems, das sich willentlich nicht beeinflussen lässt.

Hierzu ein Beispiel aus der Zoologie: Nehmen wir eine Herde Gazellen, die in der afrikanischen Savanne friedlich grast. Die Tiere sind entspannt. Im Moment überwiegt der Einfluss des parasympathischen Anteils des vegetativen Nervensystems, der im Körper für Ruhe, Entspannung, Nahrungsaufnahme und Verdauung sorgt. Es ist wenig Stress vorhanden. Bereits ein ungewohntes Geräusch oder der Geruch eines Gepards in der Nähe bringt die Gazelle sofort in Alarmbereitschaft. Der Stellreflex, ausgelöst vom Sympathikus, bereitet sie innerhalb von Sekunden auf ihre Überlebensstrategie, die Flucht, vor. Die Verdauung wird eingestellt, der Herzschlag erhöht, die Muskulatur besser durchblutet und es werden Stresshormone wie Acetylcholin und Noradrenalin ausgeschüttet. Erst dank dieses erhöhten Energielevels kann die Gazelle so schnell rennen und ihre riesigen Sprünge vollführen, wenn sie gejagt wird. Sofern der Gepard sie dann schlägt, ist es eine Gnade der Natur, dass sie aufgrund ihrer völligen Übererregung keine Schmerzen verspürt. Falls der Gepard von ihr ablässt und die Gazelle nicht getötet wird, wäre sie in diesem Zustand nicht überlebensfähig. Ein wesentlicher Mechanismus, um wieder „herunterzufahren“, wird von der Muskulatur übernommen. Das Tier wird einige Minuten unkontrolliert zittern, dann erst wird es ihm möglich sein, sich zu erheben. Es wird sich noch einige Male schütteln und dann untraumatisiert zu seiner Herde zurückkehren. Ein Bär würde bei Gefahr kämpfen, ein Opossum stellt sich tot. Somit stehen 3 elementare Überlebensstrategien zur Verfügung: Flucht, Kampf und Erstarren (flight, fight or freeze).

Dieselben Mechanismen wirken bei uns Menschen. So lässt sich erklären, warum jemand in einer gefährlichen Situation die Flucht ergreift, während eine andere Person handlungsfähig bleibt und ein Dritter sich nicht mehr rühren kann, mit allen Facetten dazwischen. Allerdings sind unsere Gegner keine Geparden mehr, die „Spielfelder“ haben sich verlagert.

Falls dieser Kreislauf von Lockerheit, starker Erregung, Erholung und anschließender Gelöstheit unterbrochen wird, bleibt der Organismus in einem erhöhten Stresslevel gefangen. Dann spricht man von einem Trauma. Nicht nur lebensbedrohliche Katastrophen oder Unfälle können dabei weitreichende Spuren hinterlassen. Selbst ein emotionaler Angriff, Streit, Ängste, Sorgen oder körperliche Schmerzen erhöhen die Auswirkungen der sympathischen Erregung. Walter Lechler, ehemaliger Chefarzt einer psychosomatischen Klinik im Allgäu, wurde einmal gefragt, wie hoch der Anteil der traumatisierten Menschen in Deutschland sei. Seine Antwort war: „100% der Erwachsenen sind mehr oder weniger davon betroffen. Die Auswege daraus sind so individuell, da hat jeder seine beste Strategie, und diese gilt es zu finden.“

Zähneknirschen als fehlgeleiteter Heilungsversuch

Unbehagen im Kopfbereich bis hin zu Muskel-, Nerven- und Gliederschmerzen zeigen sich morgens oft schlimmer. Äußere Faktoren, z.B. elektrische Radiowecker oder eingeschaltete Handys im Kopfbereich des Schlafplatzes, beeinflussen den Körper durch elektromagnetische Abstrahlung von außen. Wird ein ungelöstes Problem und die damit verbundene Erregung mit in die Nacht genommen, so wird der gesamte Organismus zusätzlich von innen im Stress gehalten.

Die natürliche Ausregulierung der regenerativen Körpervorgänge bei Überlastung erfolgt durch Spannungsabbau – dies geschieht u.a. durch Träume und auf der körperlichen Ebene über Muskelarbeit. Ein Zuviel an Spannung wird in Arbeit umgewandelt und dadurch gemindert. Die Intelligenz unseres Wesens ist im Umgang damit so grandios, dass dieser Vorgang über das härteste Material im Körper, unseren Zahnschmelz, vollzogen wird. Nächtliches Zähneknirschen und Pressen, in der Fachsprache „Bruxismus“ genannt, ist aus dieser Sicht ein anstrengender Heilungsvorgang. Die Themen, die untertags scheinbar nicht zu lösen sind, werden nachts „durchgekaut“.

Einige direkte Hinweise darauf, dass bereits Veränderungsbedarf besteht, sind:

  • eine verhärtete Kaumuskulatur,
  • Abdrücke der Zähne an der Innenseite der Wangen,
  • Abdrücke der Zähne am Zungenrand durch Zungendrücken,
  • ein unangenehmes Gefühl bei der Öffnung des Mundes oder
  • schräg abgeschliffene Kauflächen als erste Folgen des Knirschens.
  • Auch Zahnfleischrückgang, Zahnfleischbluten, Entzündungen oder Unbehagen im Bereich der Sinnesorgane am Kopf sind zu berücksichtigen.

Die Folgen spürt man im ganzen Körper

Verspannungen im Kieferbereich wirken sich gravierend auf den gesamten Organismus aus. Leider sind die meisten „Presser“ und „Knirscher“ sich dessen nicht bewusst, da sich die Verkrampfungen nur langsam, oft über Jahre hinweg aufbauen. Über Muskelstränge, Nerven- und Energiebahnen werden die Spannungen vom Kopf nach unten geleitet und können unangenehme und oft schmerzhafte Auswirkungen in vielen Bereichen unseres Körpers zur Folge haben. Diese Beschwerden werden dann aber meist nicht mit dem Kiefer in Verbindung gebracht. Dabei sind die Folgen oft erheblich. So kann ein einseitig angespanntes Kiefergelenk über den gesamten Muskelapparat eine so starke Wirkung z.B. auf das Becken ausüben, dass die beiden Beckenschaufeln sich verdrehen. Probleme im Lendenwirbelbereich bis hin zu Beinlängenunterschieden sind die Folgen. Da dieser Sachverhalt keine Einbahnstraße ist, ist es nur logisch, dass ein verdrehtes Becken ebenfalls Auswirkungen nach oben hat.

Raus aus der Verbissenheit!

Meine jahrelangen Erfahrungen mit Craniosacral Energetik und der Muskulären Trauma-Arbeit lassen immer wieder erkennen, dass die angenehmen Auswirkungen eines entkrampften Kiefer- und Mundbereichs weitreichend sein können: Die Zähne bleiben länger gesund, der Schlaf wird positiv beeinflusst, Spannungen im Kopfbereich lassen nach, Nacken und Rücken werden beweglicher, die Verdauung reguliert sich u.v.m. Diese wiedergewonnene Lockerheit kann sogar dazu führen, dass sich die Emotionen aufhellen.

Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohle des Klienten ist sehr wichtig; dies immer wieder zu propagieren, liegt mir sehr am Herzen. Möglichkeiten zur Verbesserung und Linderung dieser Thematik aus unterschiedlichen Richtungen bietet das Zusammenspiel von professioneller zahnärztlicher Hilfe, craniosacralem Ansatz, Trauma-Arbeit, Dorn-Massage und Osteopathie, um nur einige zu nennen.

Auch in der Behandlung des Kiefers nimmt die Selbsthilfe einen beachtlichen Stellenwert ein, denn glücklicherweise übernehmen mehr und mehr Menschen wieder die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit. Wer zum Zähneknirschen neigt, sollte besonderes Augenmerk auf das Thema „Stressbewältigung“ legen. Entspannungstechniken, wie z.B. Autogenes Training, Yoga, Tai Chi oder Progressive Muskelrelaxation, aber auch sportliche Aktivitäten können helfen, mit den Belastungen des Alltags gelassener umzugehen und weniger mit den Zähnen zu knirschen.

Auch Selbsthilfeübungen, in denen jene Körperregionen berücksichtigt werden, die für die innere und äußere Stabilität wichtig sind, können zur ganzheitlichen Kieferentspannung beitragen. Diese Übungen beziehen sich auf das Becken, die Wirbelsäule und den Nacken, ebenso auf den ersten Halswirbel mit Übergang zum Hinterhaupt, Ober- und Unterkiefer, die einzelnen Zähne und die Ohren. Sie können unter Anleitung (z.B. per CD) erlernt und später selbstständig durchgeführt werden.

Selbsthilfeübung „Kreisende Ohren“

Der bewusste Zugang zur Kieferregion ist ein wichtiger Baustein in der Selbstbehandlung. Diese Übung ist speziell dafür entwickelt worden und sehr effektiv.

Lege deine Handflächen liebevoll seitlich an die Wangen. Die Daumen und Zeigefinger verweilen unterhalb der Ohrläppchen, die anderen 3 Finger oberhalb der Ohrmuschel. Die Hände bleiben für kurze Zeit ruhig liegen, dann lasse sie dort 1 Minute lang sanfte, kreisende Bewegungen machen. Achte darauf, dass dein Unterkiefer und die Schultern dabei locker bleiben. Dann werde einen Moment lang ruhig und kreise die Hände anschließend 1 Minute lang in die andere Richtung. Zum Abschluss gönne dir einen tiefen Atemzug und nimm deine Hände langsam seitlich vom Kopf. Stelle dir dabei vor, dass da jetzt mehr Raum zwischen den Ohren ist und alle Verspannungen und Verdrehungen seitlich abfließen können.

Ein sehr einfaches, aber probates Mittel ist es, sich selbst im Tagesablauf zu beobachten, sich sozusagen gedanklich in den Mund zu gucken und zu erkennen, was dort gerade geschieht: ob z.B. die Zähne zusammengepresst sind, ob geknirscht wird oder die Zunge gegen den Gaumen gedrückt ist. Wenn ja, lösen Sie diese Spannung ganz bewusst, immer wieder.

Kieferentspannung ist Ganzkörperentspannung

Das Kieferareal trägt einen wesentlichen Anteil zu unserer „entspannten Aufrichtigkeit“ bei, wobei die Zähne und deren Stellung zueinander im Kiefer maßgeblich an der Feineinstellung der gesamten Körperstatik beteiligt sind. Ebenso wirken sich Probleme im Körper auf Kopf und Kauapparat aus. Die Arbeit am Kieferbereich mit dem Ziel, diesen nachhaltig zu entspannen – sowohl präventiv als auch therapeutisch – ist als ganzheitlich wirkender Ansatz zu sehen.

Da Disstress zu den auslösenden Faktoren des Bruxismus sowie der CMD (Craniomandibulären Dysfunktion) zählt, zum Schluss noch ein Tipp: Nehmen wir das Leben doch nicht so verbissen ernst, denn nichts wird bekanntlich so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Humor und ab und zu ein Lächeln über sich selbst sind dabei gute Ratgeber!

Peter SeitzPeter Seitz
Gesundheitsberater und Intuitionscoach, Dozent an den Paracelsus Schulen

info@peter-seitz.com

CD-Tipp
Peter Seitz:
Selbsthilfeübungen zur Kieferentspannung.
Eigenverlag

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