Kinder mit Fieber: Märchen vom Fliedermütterchen
„Es war einmal ein kleiner Knabe, der hatte sich erkältet. Er war ausgegangen und hatte nasse Füße bekommen. Niemand konnte begreifen, wie er sie erhalten hatte, denn es war ganz trockenes Wetter.“
So beginnt ein wunderschönes Märchen des dänischen Dichters und Schriftstellers Hans Christian Andersen. Darin wird der erkältete Junge von seiner Mutter mit einer Tasse Fliedertee ins Bett geschickt. Während der Junge den Tee trinkt, erzählt ein aus der Nachbarschaft herbeigerufener alter Mann eine Geschichte. Darüber schläft der Kleine ein und erlebt einen wundersamen Traum vom Fliedermütterchen, das ihn auf eine Reise mitnimmt. Im Traum kann er fliegen und betrachtet die Welt von oben, sieht alle Jahreszeiten in ihrer Schönheit und auch sein eigenes späteres Leben. Er träumt u.a. von einem jungen Mann, der als Matrose um die Welt reist, und von seiner Liebsten, die lange auf ihn warten muss, bis er schließlich vor ihr steht und sie heiratet. Er träumt von seinen Kindern und Kindeskindern und sieht sich selbst im Alter glücklich und zufrieden unter einem Fliederbaum sitzen. Als der kleine Junge wieder erwacht, fühlt er sich erholt und erfrischt. Der alte Mann geht wieder und das Fliedermütterchen ist verschwunden.
Was genau wird in dieser Geschichte erzählt?
Der Flieder
Zunächst einmal ist der Fliederbaum im Märchen kein Fliederbaum, an den wir heute auf Anhieb denken würden. Mit dem Begriff sind nicht die in verschiedenen Weiß-, Rosa- und Violetttönen blühenden Flieder-Arten (Syringa spec.) aus der Familie der Ölbaumgewächse gemeint. Diese wurden zwar schon im 16. Jahrhundert aus Südosteuropa eingeführt und waren auch zu Andersens Zeiten schon bekannt; jedoch war der Name „Flieder“ im norddeutschen Sprachgebrauch ein üblicher Begriff für den Schwarzen Holunder (Sambucus nigra) aus der Familie der Moschuskrautgewächse.
Der Schwarze Holunder war zu jener Zeit viel bekannter als der Flieder und in seiner Heilkraft seit Jahrhunderten geschätzt und verehrt. In anderen Gegenden wurde er auch als Holler- oder Holderbusch bezeichnet.
Dass in unserem Märchen ganz sicher der Holunder gemeint ist, erkennt man am Hinweis des Erzählers, wenn er von den wundervoll duftenden weißen Blüten spricht, die in langen Trieben aus der Teekanne wachsen.
Das Fieber
Das Märchen erzählt außerdem die Geschichte eines fiebernden Kindes und wie dessen Mutter damit umgeht. Das Fieber wird dabei nicht explizit erwähnt, aber uns muss klar sein, dass die Träume, die der kleine Junge hat, Fieberfantasien sind. Halluzinationen, die bei erkälteten Kindern häufig vorkommen. Dieses Fieber wird von der Mutter des Kindes sogar noch unterstützt und befeuert, indem sie ihm heißen Tee gibt und ihn ins Bett schickt – zum Schwitzen!
Heute wissen wir, dass Fieber nicht die Ursache einer Erkältung ist. Vielmehr ist Fieber ein wichtiger immunologischer Vorgang bei der Abwehr von Infektionen. Es unterstützt den Körper darin, Erkältungen erfolgreich zu überwinden. Durch die Erhöhung der Kerntemperatur vervielfacht unser Körper seine Chancen im Kampf gegen Erreger und macht es den Eindringlingen schwerer, sich zu vermehren und auszubreiten. Deshalb ist es so wichtig, das Fieber nicht sofort zu senken, sondern dieses im Vertrauen auf ein starkes Immunsystem zu unterstützen, wie es die Mutter des Jungen in unserem Märchen macht.
Die Fieberphasen
Wir unterscheiden drei Fieberphasen, die individuell charakterisiert sind:
Die erste Phase des ansteigenden Fiebers wird Stadium incrementi bezeichnet. Sie ist durch Frostigkeit, Kälte der Hände und Füße und eventuell Schüttelfrost gekennzeichnet. Hier wurde im Gehirn, im Hypothalamus als Reaktion auf eingedrungene Erreger der Sollwert der Körperkerntemperatur bereits erhöht. Der Körper bemüht sich nun, diese „Vorgabe“ umzusetzen. Wir frieren, ziehen uns dicker an, decken uns zu und verlangen warme Getränke. Zu Schüttelfrost kann es kommen, weil unser Organismus versucht, über Muskelkontraktionen besonders schnell Wärme zu produzieren.
In der zweiten Phase, dem Stadium fastigium, erreicht das Fieber die höchsten Werte. Es kann zu Fieberträumen und -fantasien kommen, besonders bei Kindern. Sie schrecken aus dem Schlaf, weil sie Monster oder Geister sehen, und fantasieren von Dingen, die keiner außer ihnen wahrnimmt. In unserem Märchen ist dies ausführlich dargestellt. In seinen Träumen erlebt der Junge verrückte Dinge. Er fliegt über ferne Länder, Zeit und Raum verändern sich in kürzester Zeit und damit auch seine Perspektive darauf.
In der dritten Phase (Stadium decrementi) kommt es zum Absinken des Fiebers. Durch mehr oder weniger starkes Schwitzen kann der Körper wieder abkühlen. Dieses Stadium ist durch allgemeines Hitzegefühl und starken Durst gekennzeichnet. Es ist klar, dass genügend Flüssigkeit vorhanden sein muss, um schwitzen zu können. In dieser Phase haben Kinder deshalb eher den Wunsch nach kalten Getränken und wünschen sich frische Luft. Wichtig ist, darauf zu achten, dass das nass geschwitzte, hitzige Kind nicht der Zugluft ausgesetzt wird und dabei friert.
Jede dieser Phasen hält für einige Stunden an. Während einer akuten Erkrankung, z.B. bei einer Erkältung, wiederholen sich die drei Fieberphasen oft über mehrere Tage hinweg, bis der Infekt vorbei ist. Dabei wird der Fieberanstieg meist am späten Nachmittag und Abend auftreten. Der Fiebergipfel wird am späten Abend und in den frühen Morgenstunden erreicht. Das absinkende Fieber leitet schließlich am Morgen eine allgemeine Besserung ein.
Der Fliedertee
Die Mutter im Märchen weiß genau, was sie bei einer beginnenden Erkältung zu tun hat: Sie kocht dem Kind Fliedertee, also Holundertee. Damit fördert sie die Erhöhung der Körpertemperatur und die Immunreaktion, denn Holundertee wärmt durch und lässt schwitzen, wie das Märchen weiß. Das Kind schläft ein – unterstützt durch die Erzählungen des alten Mannes – und der Körper kann seine Arbeit tun. Der Junge schläft sich gesund.
Schwarzer Holunder ist tatsächlich ein uraltes Hausmittel bei Erkältungen, Husten, Schnupfen und Co., weil er wärmend, schweißtreibend, immunstärkend und schleimlösend wirkt. Dabei bietet der Holunder gleich zwei Pflanzenteile mit Heilwirkung an: die Blüten und die Früchte.
Holunderblüten, die im Juni geerntet und dann getrocknet als Tee gereicht werden, haben schweiß- und harntreibende wie auch entzündungshemmende Wirkung. Der Tee fördert die Nierentätigkeit und verringert Wasseransammlungen im Körper. Deshalb kann er auch das Fieber senken.
Holunder unterstützt nicht nur bei beginnenden Erkältungen, sondern auch bei zur Chronifizierung neigenden Infekten, z.B. Nebenhöhlenentzündungen, Bronchitiden oder Raucherhusten. Hier ist seine schleimlösende Wirkung von Vorteil.
In der Volksmedizin wurde Holunderblütentee auch bei rheumatischen Erkrankungen angewendet.
Für das homöopathische Mittel Sambucus nigra führt das Arzneimittelbild Gelenkbeschwerden an. Ebenso reichliches Schwitzen, nächtliches Hochfahren und Aufschrecken, wie bei Fieberträumen.
Insgesamt steigert der Holunder die Abwehrkräfte bei Entzündungen und kann diese auch vorbeugen. Dies gilt umso mehr für die Holunderbeeren. Sie werden im August und September geerntet und zu tiefrotem Saft eingekocht, den man im Winter bei Bedarf trinken oder als köstliche Suppe essen kann, um sein Immunsystem aufzubauen und Erkältungen vorzubeugen. In den Früchten finden sich neben reichlich Vitamin C auch Anthocyane, die für die dunkelrote Farbe verantwortlich sind und durch ihre antioxidative Wirkung einen deutlich positiven Einfluss auf unsere Gesundheit haben.
Es sei vorsorglich darauf hingewiesen, dass der Genuss größerer Mengen Holunderbeerensafts abführend wirkt.
Rezept für Holunderbeerensuppe
700 ml reinen Holunderbeerensaft mit 250 ml Apfelsaft oder Wasser und der Schale einer Zitrone erhitzen, dabei nach persönlichem Geschmack Zucker zugeben. Mit 1/2 Päckchen Vanillepuddingpulver oder 2 EL Stärkemehl binden und auf vier Teller verteilen. Die Suppe kann mit Zwieback (wenn sie für appetitlose kranke Kinder zubereitet wird) oder Griesklößchen (als Leckermäulchen-Prophylaxe) serviert werden. Sie lässt sich auch mit abgeriebener Orangenschale oder Zimt verfeinern.
Holunder als magischer Baum
Alle beschriebenen Effekte machen aus dem Holunder einen guten Geist. Kein Wunder, dass er sich den Menschen als Schutzpflanze förmlich anbietet.
Tatsächlich haben Menschen zu allen Zeiten gern auf dessen Gaben zurückgegriffen. Seine Kraft wurde schon in der Steinzeit geschätzt, wie Ausgrabungen prähistorischer Siedlungen zeigen. Zudem sind zahlreiche Verwendungszwecke und Bräuche aus späterer Zeit überliefert.
Kaum ein Hof, auf dem nicht der hauseigene Holunder stand, von dem die Menschen Blüten, Beeren, Rinde und Blätter verwendeten. Die Pflanze wurde schon seit jeher nicht nur als Heilmittel genutzt. Schwarzer Holunder wurde auch in der Küche zu Mus, Marmelade, Gelee und Suppe weiterverarbeitet. Weiterhin kam er als Färbemittel zum Einsatz, z.B. für die Haare. Das Holz verwendete man auf vielfältige Art, so schnitzte man z.B. aus den hohlen Zweigen Flöten. Seiner Aufgabe als häuslicher Schutzgeist kam der Holunder auch im Garten nach, wo er Mäuse oder Maulwürfe vertrieb, wenn man den Aufguss der Blätter in die Löcher gab. (Leider gilt dies nicht für allerlei schwarze Käfertiere, die zahlreich die Zweige und Blüten besiedeln. Darauf sollte man beim Ernten der Blüten und Beeren achten und sie möglichst gut abschütteln.)
Dass man einem Strauch oder Baum, der so vielfältige Aufgaben erfüllt, sehr viel Verehrung entgegengebracht hat, wundert nicht. Zahlreiche Bräuche und Rituale ranken sich um den Holunder. So galt das Verzehren einer Holunderblütendolde, die am Johannistag in Butter gebraten wurde, als gutes Mittel, um ein Jahr lang Fieber abzuwehren.
Man war früher davon überzeugt, dass es Unglück bringe, einen Holunderbaum zu fällen, denn in seinen Zweigen säßen die guten Hausgeister. Mit den Blüten des Holunders wurden deshalb auch Orte, Menschen und Gegenstände gesegnet; auch kamen sie zum Einsatz, um Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen.
Selbst das wird alles im Märchen beschrieben: Das gute Fliedermütterchen sitzt hier im Baum, begleitet den Jungen durch sein ganzes Leben, segnet ihn mit seinen Blüten, wacht als Schutz- und Hausgeist über ihn.
Fazit
All die wertvollen Informationen über den Schwarzen Holunder sind von Hans Christian Andersen kunstvoll in seinem Märchen vom Fliedermütterchen verwoben worden, das die Geschichte eines fiebernden Kindes und seiner Genesung durch Holunderblütentee erzählt. Es lohnt sich nicht nur in diesem Fall, auf die Weisheit in den Mythen und Geschichten unserer Vorfahren zu achten.
Dagmar
Geue
Heilpraktikerin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
info@heilpraktikerin-chemnitz.de
Fotos: © Rawf8 / adobe.stock.com, © Vera Kuttelvaserova / adobe.stock.com
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