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Psychotherapie
Lesezeit: 11 Minuten

Stressreaktionen als Tribut der Pandemie

EMDR-Therapie als hilfreiche Strategie zur psychischen Stabilisierung

Die Coronavirus-Pandemie bringt viele Menschen an die Grenzen ihrer psychischen Belastungskapazität. Die Begleiterscheinungen sind existenzielle, wirtschaftliche, gesundheitliche oder psychische Krisen, die weltweit ein immer größeres Ausmaß annehmen. Zunehmend mehr Menschen fühlen sich durch die der Pandemie geschuldeten Maßnahmen, Einschränkungen und Unsicherheiten gestresst. Einige Folgen sind die Zunahme von häuslicher Gewalt, der Anstieg von Depressionen, Angstzuständen sowie erhöhter Missbrauch von Alkohol und anderer Drogen.

Die Frage ist: Können wir aus einer solchen Krise herauswachsen? Gibt es Mittel und Wege, diesen Widrigkeiten zu trotzen?

Es gibt Menschen, die fallen durch eine Krise in ein Loch, aus dem sie alleine nicht mehr herauskommen. Andere scheinen eine Krise abzuschütteln wie ein Hund das Wasser im Pelz.

Wer aus einer Krise gestärkt hervorkam, war Dr. Francine Shapiro. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Psychologin erkrankte in jungen Jahren an Krebs. Im Laufe dieser schwierigen Zeit erlebte sie während ihrer Spaziergänge eine Minderung ihrer Ängste. Das Phänomen der psychischen Entlastung führte sie auf die Augenbewegungen während der Spaziergänge zurück. Das war der Anlass ihrer Forschungsarbeit, und sie entwickelte daraus ein Behandlungskonzept, das 8 Phasen umfasst. Heute kennen es viele als eine Technik der Traumatherapie: Die Rede ist von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing = Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung).

Die EMDR-Therapie ist inzwischen auch in Deutschland ein durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie anerkanntes therapeutisches Verfahren für Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Die 8 Phasen im EMDR-Verfahren

Um eine wissenschaftliche und therapeutische Anerkennung der Methode zu erlangen, belegte Dr. Francine Shapiro das EMDR-Verfahren mit einer Vielzahl an Studien, Metaanalysen sowie empirischen Untersuchungen und begründete es mit dem AIP-Modell (Adaptive Information Processing), dem selbstregulierenden eigenen Informationsverarbeitungssystem.

Gleichwohl sagte sie, dass es für eine erfolgreiche Therapie notwendig sei, das von ihr entwickelte 8-Phasen-Modell genau zu befolgen. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die EMDR-Therapie ihren Schwerpunkt in der Durcharbeitung traumatischer Erinnerungen hat. Darunter fallen Auslösereize, aktuelle Verhaltensstörungen und tiefgreifende psychische Verletzungen. Es betrifft Menschen, die ein erschütterndes Erlebnis nicht verarbeiten können und aufgrund dessen eine Traumafolgestörung entwickeln (PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung).

Bei PTBS-Patienten, die sich einer EMDR-Therapie unterziehen, müssen Risiken und Nebenwirkungen beim Einsatz der Methode beachtet werden. Dr. Shapiro war sich bewusst, dass eine unsachgemäße oder arglose Anwendung der EMDR-Technik zu einer steigenden Belastung bis hin zur Retraumatisierung führen kann. Diese Risiken lassen sich durch präzise Diagnostik, ausführliche psychische Stabilisierungsphase (z.B. durch einen imaginären Ruheort), Vorbereitung und Einhaltung der Qualitätsstandards des 8-Phasen-Standardprotokolls verringern.

Die Phasen beinhalten folgende Schritte:

Phase 1 Ermitteln der Vorgeschichte des Klienten, Erstellung des Behandlungsplans und Stabilisierung

Phase 2 Vorbereitung des Klienten auf den Ablauf und das damit verbundene Wiedererleben der Erinnerung

Phase 3 Bewertung der eigenen kognitiven Erfahrung, Evaluation der Erinnerungen

Phase 4 Desensibilisierung und Reprozessierung über Augenbewegung oder bilaterale Stimulation

Phase 5 Verankerung der sich entwickelnden positiven kognitiven Erfahrung

Phase 6 Überprüfung der Prozessentwicklung über Körpercheck (Bodyscan)

Phase 7 Abschluss durch Bewertung des sich positiv entwickelnden Belastungsgrads

Phase 8 Nachbefragung/Follow-up zur Kontrolle der Entwicklung nach 3-4 Wochen, weil der Prozess nachwirkt

In der psychotherapeutischen Anwendung ist die Wirksamkeit der EMDR-Therapie nicht nur auf die Posttraumatische Belastungsstörung beschränkt. Auch wenn die Kassenleistung für EMDR auf Posttraumatische Belastungsstörungen, Auswirkungen belastender Lebenserfahrungen und starke Trauer nach traumatischem Verlust begrenzt wird, so ist die EMDR-Therapie auch bei Depressionen, Angststörungen und Panikattacken, Stresszuständen und Prüfungsängsten, chronischen Schmerzen, Suchterkrankungen und Zwangsstörungen anwendbar und wirksam.

Gesunde Menschen in belastenden Lebensumständen

Vorweg müssen wir unterscheiden, ob es sich um ein Trauma oder ein Ereignis bei einer Person handelt, das aufgrund der persönlichen Bedeutung so belastend wirkt, dass es zu hohem oder andauerndem Stress führt. Sind die Kriterien für ein Trauma nicht erfüllt, ist das selbstregulierende Informationsverarbeitungssystem (AIP) grundsätzlich intakt, während bei einem vorherrschenden Trauma eine Dysfunktion des AIP besteht.

Warum EMDR anwenden, wenn das selbstregulierende Informationsverarbeitungssystem intakt ist? Dazu werfen wir einen Blick auf die Wirkweise des EMDR-Verfahrens:

Alle kognitiven Erlebnisse hinterlassen Eindrücke im Gedächtnis. Viele können wir aufgrund von Erfahrungen, unbewussten automatisierten Programmen und Bewertungsmustern direkt verarbeiten. Andere hingegen bleiben unverarbeitet im Gedächtnis. Diese kognitiven Erlebnisse werden laut Dr. Francine Shapiro durch das eigene AIP unseres Gehirns fragmentiert und unzusammenhängend gespeichert. Somit sind die Erinnerungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf den verschiedenen Sinnesebenen zugänglich. So können wir aus den Erfahrungen und Erkenntnissen lernen und mit anderen Erlebnissen verknüpfen.

Ist eine Erinnerung jedoch zu belastend, was bei einem Trauma der Fall sein kann, oder gibt es zu viele stressbeladene Eindrücke und Konflikte, die auch eine psychisch stabile Person mangels alternativer Handlungsmuster überfordern, kann es zur Abspaltung der Erinnerung an diese kognitive Erfahrung kommen, bei der eine selbstregulierende Informationsverarbeitung nicht direkt stattfindet.

In erster Linie bedeutet das, dass die abgespaltene kognitive Erinnerung keinen Zugang zu anderen Lösungsmustern oder zu lösungsorientierten Bewertungsmustern hat. Können wir diese abgespaltene kognitive Erinnerung mit dem AIP nachträglich verarbeiten, erhalten wir auch Zugriff auf andere Ressourcen innerhalb unseres Erfahrungsschatzes.

Dr. Francine Shapiro erklärt im AIP-Modell, dass ein Wirkanteil des AIP die REM-Schlafphase ist. Diese ist bekannt als diejenige Schlafphase, während der durch innere visuelle Eindrücke – z.B. in Form von Traumbildern – nachträglich unsere erlebten kognitiven Erfahrungen fragmentiert und verarbeitet werden. Dr. Shapiro ging davon aus, dass wir das selbstregulierende Informationsverarbeitungssystem durch eine imitierte REM-Phase im Nachhinein aktivieren können. Das wird durch die Augenbewegung oder die bilaterale Stimulation im EMDR-Verfahren bewirkt. Ob eine REM-Phase imitiert oder aktiviert wird, ist immer noch Gegenstand intensiver Forschung.

Nun zur Frage, inwiefern das EMDR-Verfahren auch bei gesunden Menschen eingesetzt werden kann:
Bei einem Trauma liegt eindeutig eine Dysfunktion des AIP vor. Wenn wir jedoch psychisch stabile Menschen in Konflikten oder stressbeladenen Überforderungssituationen beobachten, fehlen oft angemessene Strategien und Lösungen. Sie sind quasi von der Lösung abgespalten und scheinen keinen Zugang zu naheliegenden Ideen zu haben. Manchmal fallen Betroffene sogar in kindliche Verhaltensmuster zurück, weil das Gehirn in Stresssituationen auf Energiesparmodus umschaltet und den energiesparenden älteren Teil des Gehirns (das Stammhirn) nutzt, damit mehr Energie für den Körper zur Verfügung steht. Dann gibt es nur noch das „Kurzzeit-Notfall-Programm“: Stress. Dieser lässt nur die minimale Entscheidung zwischen Fight, Flight oder Freeze (Kämpfen, Fliehen oder Erstarren) zu.

Das AIP wird erst dann wieder aktiviert, wenn wir in eine Ruhephase übergehen. Ist eine Person im Dauerstress, kommt es dazu nicht oder nur mangelhaft. Manchmal raubt es den Betroffenen sogar den Schlaf, wodurch die notwendige REM-Phase und der damit verbundene Verarbeitungsprozess vorrübergehend gestört ist. Hier kann das EMDR-Verfahren helfen, diese verzögerte selbstregulierende Verarbeitung frühzeitig anzustoßen.

Das EMDR-Verfahren wirkt auf die betroffene Person entlastend. Sie erhält wieder Zugang zu bereits erprobten oder neuen Verhaltensmöglichkeiten und Lösungsideen.

Effekte sind sichtbar – Fallstudien

Fallstudie 1 Bei einem von mir durchgeführten EMDR-Coaching mit Hilfe eines neu entwickelten EMDR-Brettspiels wird diese Entlastung in nur drei Sitzungen sichtbar.

Der Klient ist Führungskraft im gehobenen Management und besucht regelmäßig Meetings, bei denen er vor einer bis zu 25-köpfigen Führungsriege Präsentationen abhalten muss. Er kommt zu mir, weil er aufgrund eines internen Führungswechsels Hemmungen und Angstzustände entwickelt hat. Er ist vor einem Meeting so gestresst, das er nachts nicht schlafen kann, kaum mehr isst, grübelt und an seinen Fähigkeiten zweifelt. Zudem ist er gereizt, wenn solche Termine anstehen, ohne dass er es sich erklären kann. Er erzählt, dass es ihm immer eine Freude gewesen sei, zu präsentieren, auch bei mir hinterlässt er einen extrovertierten Eindruck. Seine Leistung ist nach wie vor hervorragend, er liebt seinen Beruf und ist sehr zufrieden mit seinem Arbeitgeber.

Ich stelle ihm die EMDR-Technik vor und erkläre ihm den Ablauf. Bereits während der ersten Sitzung verspürt er eine enorme Entlastung, die er sich nicht erklären kann; er bezeichnet es als „spooky“. Die nächste Sitzung vereinbaren wir direkt vor einem Meeting. Auch hier erlebt er eine Entlastung seiner körperlichen und geistigen Anspannung. Das Meeting verläuft großartig, „so wie früher“. Seither läuft bei ihm beruflich alles so, als wäre nie etwas gewesen. Wir haben zur Nachsorge einen Folgetermin vereinbart, um sicher zu gehen, dass alles bereinigt ist.

Mit diesem Beispiel möchte ich zeigen, dass das EMDR-Verfahren auch im Coaching seine Berechtigung hat. Das gilt nicht nur für das Business- und Berufs-Coaching, sondern auch für die Bereiche Sport, Persönlichkeitsentwicklung und Beratung. Das EMDR-Verfahren als solches darf bei jedem gesunden und psychisch stabilen Menschen eingesetzt werden. Soll EMDR als Heilverfahren angewendet werden, darf dies nur von Therapeuten mit Heilerlaubnis und entsprechender Ausbildung praktiziert werden.

Am beschriebenen Praxisbeispiel aus dem Coaching-Bereich ist auch interessant, zu sehen, dass es nicht zwingend nötig ist, vergangene biografische Ereignisse durch den EMDR-Prozess aufzudecken. Es kann jedoch spontan auftreten, wenn eine abgespaltene Erinnerung plötzlich wieder Zugang zu anderen ressourcenreichen Erinnerungsclustern erhält. So entdeckte eine meiner Patientinnen während eines EMDR-Prozesses, den ich ebenfalls mit besagtem Brettspiel durchführte, den Ursprung ihres Problems – hier ihre Geschichte:

Fallstudie 2 Die alleinerziehende Patientin klagt darüber, dass sie seit ihrer geschiedenen Ehe schon seit Jahren keine zufriedenstellende Beziehung fände. Die attraktive Mittvierzigerin hangelt sich von einer Beziehung zur nächsten und ist sehr frustriert.

Während der EMDR-Session erinnert sie sich spontan an eine Situation aus ihrer Kindheit im Alter von etwa 4 Jahren. Sie kann diese Erinnerung nicht mit ihrer Beziehungsthematik in Einklang bringen, da es für sie schöne Erinnerungen an ihre Oma sind. Bei ihr habe sie sich stets an einem Lieblingsort versteckt, unter dem Ehebett im Schlafzimmer. Für sie ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Ganz im
Gegensatz zu den Erfahrungen der Beengtheit und Unsicherheit in ihren Beziehungen, die sie häufig panikartig abbricht. Wir greifen dieses Motiv auf und führen den EMDR-Prozess weiter. Tatsächlich stellt sich heraus, dass diese Erinnerung ein Teil einer Assoziationskette ist, die im Rahmen der EMDR-Anwendung frei wird und sich mit anderen Erinnerungsclustern verknüpft. Plötzlich ist die Patientin ganz aufgeregt und beginnt zu erzählen: „Da gab es einen Vorfall, den hatte ich ganz vergessen. Einmal war ich bei der Oma wieder unter dem Bett und geriet in Panik, habe geschrien, weil ich Angst hatte, keine Luft mehr bekam und ich nicht wegkonnte. Oma und Opa waren angelaufen gekommen und hatten Mühe, mich unter dem Bett hervor zu holen. Denn ich hatte mich mit meinem Pullover in einer Bettspirale verfangen, und beim Versuch, mich zu befreien, zog sich der Pullover so eng um meinen Hals, dass er mich würgte und mir die Luft zum Atmen nahm.“

Sie fragt mich daraufhin, ob dies etwas mit ihrer Empfindung in ihren Beziehungen zu tun habe, in der sie sich ja auch beengt fühle, scheinbar keine Luft zum Atmen habe, und diese beenden müsse. Obwohl eine Beziehung doch Geborgenheit und Sicherheit vermitteln solle, so wie es ihr sicherer Ort unter Omas Bett getan hat. Sie ist fasziniert und gleichzeitig ungläubig darüber, dass dieser Vorfall aus der Kindheit die Ursache für ihre heutige Beziehungsthematik sein könnte. Das Wunderbare ist, dass die Patientin nicht einmal 4 Wochen später einem Mann begegnet, mit dem sie heute noch glücklich liiert ist. Seither ihre längste Beziehung.

EMDR als Selbstschutz in der Erstversorgung

Gerade jetzt, da die Coronavirus-Pandemie ihren Tribut bei der Bevölkerung fordert, sind Folgeerscheinungen der Dauerstresssituation häufig. Um diesen Widrigkeiten zu begegnen, möchte ich das EMDR-Verfahren als einen möglichen hilfreichen Weg aufzeigen. Die Fallstudien belegen, dass sich diese Methode sowohl in der Therapie als auch im Coaching einsetzen lässt. Zudem kann EMDR auch in der Selbstanwendung für den Selbstschutz genutzt werden.

Ersthelfer in Gesundheitsberufen sind derzeit besonders von schwerwiegenden kritischen Ereignissen betroffen, aufgrund der vielerorts immer noch dramatischen Situation, die mit einer hohen Opferzahl, Personalmangel und daraus folgend Überarbeitung einhergeht. Die entstehenden Ohnmachtsgefühle aufgrund von Hilflosigkeit und vielen anderen Faktoren können bei ihnen genauso wie bei schwer Erkrankten und Angehörigen (von Verstorbenen) verschiedenste Reaktionen auslösen:

Die psychischen Auffälligkeiten reichen von Verwirrtheit, Belastungsstress, Gefühlen von Unzulänglichkeit und Identifikation mit Opfern/ Verwandten über Unzufriedenheit aufgrund von mangelnder Anerkennung, Frustration, Wut und Trauer bis hin zu Angstzuständen und Schuldgefühlen. Somatische Reaktionen können Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Konzentrations- und Schlafstörungen oder die Unfähigkeit zur Entspannung sein.

Nicht nur, dass dadurch die Arbeitsfähigkeit gefährdet wird, es bedeutet auch eine Einschränkung der Lebensqualität und die Gefährdung der Gesundheit der Ersthelfer.

Fazit

Wer sich selbst schützt, bleibt handlungsfähig und psychisch stabil. Hierfür gibt es einige Techniken zur Unterstützung und Prophylaxe von Stressreaktionen, die nach einem belastenden Ereignis effektiv eingesetzt werden können. EMDR ist ein wirkungsvolles Verfahren für Therapie und Coaching, das auch in der Selbstanwendung helfen kann, die eigene Handlungsfähigkeit wiederherzustellen oder zu bewahren, wenn belastende Lebensumstände bewältigt werden müssen.

Martina KütterMartina Kütter
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkten Hypnotherapie und Traumatherapie (EMDR), Business-Coach, Spiele-Entwicklerin, Buchautorin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
Hypnose-mkv@hotmail.de

Foto: © Olga / adobe.stock.com

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