Verborgener Schmerz – Männer als Täter und Opfer
Als Männerberater beschäftige ich mich seit über 20 Jahren hauptberuflich mit dem Innenleben und dem Verhalten von Männern. Dabei fällt auf, dass sie inzwischen immer früher Hilfe suchen, also noch bevor ihr Leben vollständig in Trümmern liegt. Demnach steigt die Bereitschaft, aber auch der Druck auf Männer, sich selbst zu hinterfragen, nimmt zu. Vor allem Frauen, die zunehmend an Stärke gewinnen, stoßen diese Veränderung an. Zugleich entstehen immer mehr Angebote speziell für Männer, auch medial werden sie zunehmend thematisiert: Verhalten und Rollenbild werden auf den Prüfstand gestellt. Ausgewogen ist das jedoch selten. Der Tenor ist eindeutig: Männer sind ein privilegiertes Auslaufmodell, meist gefühllos, übergriffig und eine Gefahr für ihr Umfeld, v.a. für Frauen.
Eine unverstellte Sicht auf die Wirklichkeit braucht jedoch auch einen Blick darauf, was Männer verletzt. Denn sie sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Mein Plädoyer lautet daher: Wir brauchen einen bewussteren und ausgewogenen Umgang mit dem Männerschmerz: dem Schmerz, den Männer zufügen, und dem Schmerz, den sie erleiden.
Beachtung schmerzvoller Anteile beider Geschlechter
Für unser lebendiges Sein ist es unumgänglich, sich mit Schmerz zu beschäftigen. Gerade auf der Männerseite besteht ein großer Nachholbedarf, v.a. dann, wenn im Zentrum eines neuen männlichen Selbstbewusstseins das gute und reife Miteinander von Mann und Frau stehen soll. Um die Geschlechter besser verstehen zu können und eine optimale Zukunft für alle zu schaffen, müssen wir neben den Verletzungen der Frauen, die glücklicherweise zunehmend thematisiert werden, auch jene der Männer näher betrachten. Nur wenn wir beide Seiten beachten und mehr Verständnis für die schmerzvollen Anteile der Männer aufbringen, können diese einen besseren Umgang unter sich, aber auch mit Frauen pflegen. Dann lassen sich auch jene Menschen leichter und angstfreier akzeptieren, die sich nicht exakt dem einen oder dem anderen Geschlecht zuordnen.
Innerer Schmerz ist berechtigt
In der Männerberatung erlebe ich Schmerz am häufigsten im Rahmen von Trennungen. Dieser kommt allerdings oft in Gestalt von Wut, Gewalt oder als orientierungslose, betäubte Niedergeschlagenheit daher. Der Anspruch jener Männer, die ihren Schmerz nicht fühlen, ist meist, möglichst schnell wieder „in Form“ zu kommen. Das Problem soll rasch gelöst werden. Doch eine Trennung darf, ja, sie muss sogar schmerzen; ist diese Empfindung doch in der Regel ein Zeichen dafür, dass die Verbindung und die Liebe echt waren. Im besten Fall ist der Schmerz Anlass, sich selbst besser kennenzulernen und zu reifen.
Die männlichen Wurzeln
In meinen Beratungen ist immer wieder auffallend, wie wenig meine Klienten von ihren männlichen Vorfahren wissen. Manchmal fehlt ihnen fast alles, v.a. wenn der Vater wenig bis gar nicht präsent war. Was selbst erlebt werden konnte, ist oft konfliktbeladen oder emotional wenig „nah“, auch weil das Erzählte eher aus Fakten zusammengesetzt wird und es sich seltener um ein mit Stimmungen und Gefühlen angereichertes Wissen handelt.
Das wenige Bekannte bleibt zudem häufig unreflektiert. Wenn der Vater oder die Mutter ihrerseits keinen guten Kontakt zu ihrem Elternhaus hatten, was nicht selten vorkommt, fehlt ein näheres Erleben und Wissen um einen wichtigen Teil der eigenen Familiengeschichte.
Die Kenntnisse von der väterlichen Seite stammen meist von der Mutter. Auch deren Erinnerungen sind häufig mit schmerzbeladenen Eindrücken und Gefühlen belastet und haben selten einen neutralen oder gar liebevollen Wahrnehmungsfilter. Insgesamt fehlen dadurch positive männliche Vorbilder, unterschiedliche lebensnahe Perspektiven und Lebensmodelle. Vielen Männern geht also ein tiefgehender Bezug zu ihrem eigenen männlichen Ursprung ab.
Der Vater im Beratungskontext
Als nachfragende Berater können wir mithelfen, dass der Mann ein vollständigeres Bild der eigenen Herkunft bekommt und so die Nachwirkungen von Kindheitsmustern besser erkennt. Gerade die Auseinandersetzung mit der Beziehung zum Vater stellt in der Beratung von Männern ein zentrales Element dar: Den alten Schmerz zulassen, ohne diesen voreilig vermeiden zu wollen und damit oberflächlich zu verzeihen, ist eine lohnende Herausforderung. Regelmäßig arbeite ich hier mit dem Brief an den Vater, den dieser nie zu Gesicht bekommen muss, selbst wenn er noch lebt. Es lohnt sich, den Brief ausgewogen, tiefgründig und emotional zu schreiben, um ihn anschließend mit einem zugewandten neutralen Berater zu reflektieren und sich selbst dadurch besser kennenzulernen.
Die Rolle der Mutter
Gesellschaftlich, aber auch individuell sind Opfererfahrungen von Jungen und Männern immer noch stark tabuisiert, v.a. wenn die Gewalt von Frauen ausging. Neben Verletzungen durch den Vater haben auch viele Mütter ihren Beitrag geleistet. Nicht selten haben sie ihre Söhne körperlich verletzt, emotional vernachlässigt, als Partnerersatz angesehen oder gar sexuell missbraucht. Noch viel häufiger haben sie subtil, manipulativ und selbstsüchtig „geliebt“.
Der Vater-Sehnsucht steht bei vielen Männern eine Mutter-Übersättigung gegenüber. Die Gefühle und Bedürfnisse der Mutter sowie ihre Sicht auf die Dinge waren während des Heranwachsens für sie allgegenwärtig. Die Geschichte des Vaters sowie die Bewertungen seines Wesens und Verhaltens wurde von ihr häufig eingefärbt oder ausschließlich durch sie übermittelt – zu selten liebevoll oder neutral. Für diese Auseinandersetzung empfehle ich das Buch „Liebe Mutter, du tust mir nicht gut – Söhne schreiben an ihre Mutter“ des Psychologen Wilfried Wiek. Die im therapeutischen Prozess entstandenen Briefe von Männern an ihre Mutter, die in diesem Buch veröffentlicht wurden, bilden ein breites Spektrum an schmerzvollen Erfahrungen ab und zeigen einen Weg auf, wie sie heilsam bearbeitet werden können.
Tabuthema „Gewalt an Männern“
Ein absolutes Tabu ist noch immer das Thema „Gewalt gegen Männer“. Es irritiert enorm, denn wir sind den Aspekt „Gewalt von Männern“, den Blick auf Männer in der Täterrolle gewohnt. Gewalt gegen Männer klingt wie ein Widerspruch. Wer sich gedanklich darauf einlässt, hat schnell einen gebückten Ehemann und seine Ehefrau in Rage vor Augen – was meistens direkt belächelt wird; schließlich wird von Männern erwartet, dass sie sich im Notfall mit ihren Fäusten verteidigen können, egal wer auf sie einprügelt, oder dass sie Schläge auch ohne Klagen wegstecken können.
Dieses Thema trifft offenbar in uns allen auf zu viele Schattenseiten, Vorurteile und Geschlechterklischees, als dass wir neutral und sachlich darüber reden könnten. Dabei ist klar, dass auch Frauen ihre Männer schlagen und bedrohen, Mütter Gewalt gegen ihre Söhne ausüben, Jungen auch von Frauen sexuell missbraucht werden.
Über all das lässt sich immer noch kaum offen sprechen. Es wird sehr wenig geforscht in diesem Bereich. Wenn wir dieses Feld jedoch thematisieren wollen, müssen wir vermeiden, dass weibliche gegen männliche Gewalt ausgespielt und diese damit in irgendeiner Weise relativiert wird.
Perspektivenwechsel
Gesunde, glückliche, liebevolle und kräftige Männlichkeit wird zum großen Teil allerdings immer noch von Männern im Verborgenen selbst beschädigt. Denken sie an erlittenen Männerschmerz, fixieren sie sich sofort auf Frauen als Übeltäterinnen, als diejenigen, die den Schmerz zufügen. Dabei zeigt sich zumeist ein beziehungsorientierter Herzschmerz, wofür sie die Verantwortung den Frauen übertragen.
Was viele dabei verdrängen: Laut offiziellen Gewaltstatistiken sind 60-70% aller Opfer von Gewalttaten Männer. Der überwiegende Teil davon wird von Männern an Männern und von Jungen an Jungen verübt. Hierbei geht es nicht um harmlose Muskelspielereien, sondern um rohe, brutale, zielgerichtete Gewalt mit zum Teil gravierenden Folgen für die Betroffenen. Diese zugefügten Schmerzen und ihre Auswirkungen, v.a. wenn sie unterdrückt bleiben, finden viel zu wenig Beachtung.
Es ist in diesem Zusammenhang frappierend, wie weit entfernt Männer von einer Solidarisierung, von einem empathischen Verstehen von Jungen und Männern sind, die grenzverletzenden Übergriffen ausgesetzt sind, durch Gewalttaten zu Schaden kommen oder unter den ihnen aufgebürdeten geschlechtsbezogenen Zwängen leiden. Heute gilt es bereits als fortschrittlich, wenn sie nicht mehr wie früher kopfschüttelnd ausgelacht werden – weggesehen wird zumeist immer noch. Eine der Frauenbewegung analoge Kraft, die das Thema „Männliche Opfererfahrungen“ als gesamtgesellschaftliches Problem aufdeckt und nach Strategien zu deren Eindämmung sucht, ist noch nicht in Sicht und, zugegeben, auch ein heikles Unterfangen.
Anerkennen des Opferseins
Die Opfererfahrungen von Männern müssen als ein eigenes wichtiges Thema aufgegriffen werden. Das traditionelle Rollenbild erschwert jedoch nach wie vor, dass sich Männer Hilfe holen, denn Angst und Scham halten die Betroffenen ab. Oft werden die Anzeichen eines männlichen Opfers vom Umfeld nicht ernst genug genommen. Auch mangelnde Kenntnis und fachliche Ausbildung von Beratungsfachkräften, die aufgrund der fehlenden öffentlichen Diskussion nicht verwundert, verhindert nicht selten, dass diese adäquat erfolgt. Oft vergehen Jahrzehnte, bis sich Männer mit ihrem eigenen Opfersein in einer Beratung öffnen. Besonders Lebenskrisen wühlen die alten, schmerzhaften Erlebnisse auf. Sie drängen immer wieder nach oben und wollen anerkannt werden, denn Verdrängung funktioniert nie dauerhaft. Das Thema „Männliche Opferschaft“ scheint gerade dem „vermeintlich starken Geschlecht“ und selbst den männlichen Beratern große Angst zu machen. Eine unbekannte und empfindsame Seite in uns wird dabei berührt und steht damit unserem Verständnis von Männlichkeit entgegen.
Veränderung von Schmerzbewältigungsstrategien
Unsere männlichen Strategien, Gefühlen des Schmerzes aus dem Weg zu gehen, z.B. Flucht in die Arbeit, Schweigen, Verdrängen, Mauern oder Rationalisieren, sind auf Dauer eine Last. Gerade die extrem hohe Suizidrate von Männern ist ein Anzeichen dafür, dass viele nicht gut mit ihrem Schmerz umgehen können. Einsamkeit, Schweigen, Schreien oder Schlagen sind keine biologisch zugrunde gelegten, unveränderbaren männlichen Bewältigungsmuster. Sehr wohl aber sind sie Ausdruck unterdrückter, schmerzhafter und beängstigender Gefühle, derer wir uns entledigen wollen und die wir durch ihre Verdrängung nur immer weiter vermehren.
Den Schmerz, den wir anderen zugefügt haben, und jenen, der uns angetan wurde, können wir hingegen durchaus in ein Kraftwerk für persönliche Weiterentwicklung verwandeln. Veränderung kommt zwar ohnehin von allein, Übergänge und Lebenskrisen auch. Aber nur, wenn wir uns aktiv damit beschäftigen, uns immer wieder für unseren Weg entscheiden und dabei offenherzige Begleiter an unserer Seite haben, führt uns dies zu mehr Glück, Tiefgang und Lebensfreude. Ohne Verbindung zu unserer Schattenseite aus erlittenem und ausgeübtem Schmerz ist kein tiefes Glück zu erreichen!
Für eine echte Verbindung zu sich selbst braucht es daher beides: den Willen, mutig hinzuschauen, und ein mitfühlendes Gegen- über, das zuhört, nachfragt und akzeptiert. Ohne den anderen bleibt diese Suche ein auf sich selbst bezogener Kreislauf ohne wirklichen Ausweg. Es geht im Prozess darum, die verletzten und verdrängten Gefühle mehr wahrzunehmen, sie aber auch besser zu verstehen – etwa, dass hinter Wut meist Verletzung, Angst oder Hilflosigkeit steckt.
Bedürfnisorientierte Beratung
Für einen Jungen oder einen Mann ist ein männlicher Part als Gegenüber, der in Beziehung bleibt, weiter zuhört, mit aushält was aufkommt, aber auch nicht mit den Gefühlen abdriftet, sondern bleibt, nicht abblockt oder sofort Lösungsvorschläge präsentiert, ideal.
Ich bin überzeugt, dass seelische Probleme, die ihren Ursprung in einem falsch abgestimmten, fehlenden oder grenzverletzenden Kontakt mit anderen Menschen haben, sich nicht ohne Kontakt zu anderen verändern lassen. In einer Psychotherapie oder einer anderen Lebensberatungssituation, die sich dieser Schwierigkeiten annimmt, ist der authentische, wohlwollende, mitfühlende, vertrauensvolle, und auf Basis dessen durchaus auch konfrontierende Kontakt zwischen Berater und Klient die wichtigste Voraussetzung. Eine reine Behandlung ohne echte Begegnung, ein Gespräch ohne feinfühlige und interessierte Zuwendung lindert kaum die Symptome und führt nicht zu einer tiefgehenden Heilung. In einer professionellen Beratung ist daher die verwendete Methode weniger entscheidend als die Qualität des Kontaktes. Nur über eine gute Beziehung und innere Berührung entstehen Sicherheit, Halt und Orientierung.
Fazit
Männer brauchen Räume, in denen sie sich mit ihrer Unsicherheit und verletzlichen Seite zeigen können, ohne dass ihnen von anderen ein Mangel unterstellt wird. Um Scham und Schuld als lebensfeindliche Muster durchbrechen zu können, aktive und bewusste Schöpfer des eigenen Lebens zu werden und sich die eigene Kraft zurückzuholen, braucht es die Konfrontation mit dem, was wir getan haben, und die Hinwendung zu dem, was uns Schmerzhaftes widerfahren ist. Die Beschäftigung sowohl mit dem Täter als auch mit dem Opfer in uns ist somit unumgänglich.
Buch-Tipp
Dr. Richard Schneebauer
Männerschmerz
Was Männer verletzt
Goldegg
Verlag
Dr. rer. soc. oec.
Richard Schneebauer
Soziologe, Trainer und Autor, seit über 20 Jahren in der Männerberatung tätig
schneebauer@dermaennerkenner.com
Foto: © Srdjan / adobe.stock.com, © Ermolaev Alexandr / adobe.stock.com
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