Teufelskreis Essstörungen
Das vermeintlich ideale Aussehen wird uns täglich in den sozialen Medien und in der Werbung vorgeführt. Schlanke Models präsentieren die neueste Mode, einen perfekten Lifestyle und wirken dabei rundum glücklich. Verglichen mit diesem omnipräsenten Schönheitsideal fühlen sich viele Teenager und junge Erwachsene dick und unwohl in ihrem Körper. Das Ergebnis sind Diäten, exzessiver Sport, übermäßiges Hungern und eine eingeschränkte Ernährung. Oft ist dies der Beginn einer krankhaften Essstörung. Das dahinter auf den zweiten Blick noch viel mehr steckt und dabei zum Teil an völlig anderen ursächlichen Themen gearbeitet werden muss, schlüsselt dieser Artikel auf.
Formen und Häufigkeit
Essstörungen zählen zu den ernsthaften Erkrankungen, die unbedingt behandelt werden müssen. Dabei sind v.a. das Verhältnis zum eigenen Körper sowie der Umgang mit Essen gestört. Hier existieren verschiedene Krankheitsbilder, z.B. Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) oder die Binge-Eating-Störung, bei der es zu regelrechten Fressanfällen kommt. Meist tritt eine Essstörung nicht in ihrer Reinform auf, vielmehr findet man Mischformen, bei denen nicht alle Merkmale eines einzelnen Typus auftreten. Eine Mischform wird daher oft als „Nicht näher bezeichnete Essstörung“ benannt.
Erforscht man die genannten Erkrankungsformen näher, stellt sich heraus, dass die Binge-Eating-Störung am häufigsten auftritt, gefolgt von der Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Die landläufig bekannteste Essstörung, die Magersucht, tritt im Vergleich am seltensten auf. Die Mischformen sind mindestens genauso häufig zu finden wie die „Reinformen“ der Krankheit.
Von 1000 Mädchen und Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens im Durchschnitt etwa
- 28 an einer Binge-Eating-Störung,
- 19 an Bulimie und
- 14 an Magersucht.
Jungen und Männer sind seltener von einer Essstörung betroffen: Von 1000 männlichen Personen erkranken im Laufe ihres Lebens durchschnittlich etwa
- 10 an einer Binge-Eating-Störung,
- 6 an Bulimie und
- 2 an Magersucht.
Diese Zahlen basieren auf einer großen Anzahl internationaler Studien, die Wissenschaftler ausgewertet haben. Vergleichbare Zahlen nur für Deutschland liegen bisher noch nicht vor.
Altersgemäße Einordnung von Essstörungen
Meist sind es junge Menschen, die erkranken. Die Magersucht beginnt bei vielen Betroffenen im frühen Jugendalter und während der Pubertät. Auch im jungen Erwachsenenalter sind Magersucht-Fälle häufig anzutreffen. Dagegen sind die Krankheitsformen der Bulimie und v.a. jene der Binge-Eating-Störung erst im späteren Jugendalter und bei Erwachsenen vorzufinden. Allerdings können Menschen auch im mittleren und höheren Lebensalter an einer Essstörung erkranken.
Auswirkungen von Stressoren der Umwelt
Dass äußere Faktoren Stress auf körperlicher, mentaler und emotionaler Ebene verursachen können, der auch das Risiko für ein gestörtes Essverhalten erhöhen kann, zeigt der deutliche Anstieg von Patienten mit Essstörungen, die mit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt Experten in ihren Praxen aufsuchten. Auch in Kliniken wurde damals eine Zunahme dieser Krankheitsbilder wahrgenommen. Bezeichnend ist zudem, dass bei vielen ehemals Betroffenen während der Pandemie ein Rückfall aufgetreten ist.
Die Universität Paderborn befragte in diesem Zusammenhang über 2000 Personen, wie sich ihr Essverhalten während des ersten Lockdowns (März/April 2020) verändert habe. Die Auswertung ergab, dass sich innerhalb der Gesamtzahl der befragten Teilnehmer 3 Gruppen identifizieren ließen:
Gruppe 1 Die Konstanten (36%) Die Teilnehmer berichteten nur wenige bis keine Veränderungen.
Gruppe 2 Die Gesundheitsorientierten (37%) Diese gaben an, verstärkt auf gesunde Lebensmittel geachtet und ungesundes Essen gemieden zu haben. Außerdem führten sie geringere Mengen und weniger Mahlzeiten insgesamt an.
Gruppe 3 Die Emotionsgesteuerten (28%) Bei diesen Teilnehmern zeigte sich ein höherer Einfluss von Gefühlen auf ihr Essverhalten. Ungesunde Lebensmittel wurden seltener gemieden, hinzu kam ein verstärkter Konsum von Süßigkeiten, Gebäck und Alkohol.
Die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitsorientierten oder emotionsgesteuerten Veränderung im Essverhalten war bei Frauen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte sowie bei jüngeren Teilnehmenden größer und stieg zusätzlich mit höherem Body-Mass-Index (BMI). Folgender Schluss wurde aus der Befragung gezogen: Sowohl die Gruppe der Emotionsgesteuerten als auch jene der Gesundheitsorientierten entwickelten deutliche Veränderungen im Rahmen ihrer Essgewohnheiten und Verzehrmengen unter dem Stress der ersten COVID-Welle mit Lockdown. In einigen Fällen könnte dies zu einer Störung des Essverhaltens geführt und das Risiko für Essstörungen und Adipositas erhöht haben. (Quelle: Dr. oec. troph. Judith Bühlmeier, Institut für Ernährung, Konsum und Gesundheit, Fakultät für Naturwissenschaften an der Universität Paderborn)
Essstörungen sind immer multifaktoriell bedingt, lassen sich somit nie auf nur eine Ursache zurückführen und beruhen auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Aspekte. Daher sollten sich weder Betroffene noch deren Angehörige oder Partner fragen, ob sie Auslöser sind und Schuld an der Entstehung der Essstörung haben. Die Beschäftigung mit der Schuldfrage ist für den Heilungsprozess nicht hilfreich. Es gibt Faktoren, die nicht beeinflusst werden oder zumindest heute nicht mehr verändert werden können. Dennoch ist die Suche nach den Ursachen notwendig für die Therapie, um die Entstehung der Erkrankung verstehen zu können und beeinflussbare Parameter positiv zu verändern.
Biologische Ursachen
Zu den biologischen Auslösern zählen die genetische Disposition sowie der Einfluss bestimmter Hormone und Neurotransmitter. Das individuelle Normalgewicht ist genetisch bedingt und wird nicht allein durch eine falsche Nahrungsaufnahme oder übermäßige Essanfälle bestimmt.
Individuelle Ursachen
Zu den individuellen Ursachen gehört eine Reihe persönlicher Einstellungen, z.B.
- geringes Selbstwertgefühl
- hoher Perfektionismus und Leistungsanspruch
- starkes Kontrollbedürfnis
- geringe Konfliktfähigkeit
- traumatische Erlebnisse, z.B. sexueller Missbrauch oder andere Gewalteinwirkungen
- Ungute Stressbewältigungsmechanismen
- Essprobleme oder Übergewicht im Kindesalter
Familiäre Ursachen
Eine Essstörung kann bereits bei einem Elternteil vorliegen. Auch andere psychische Erkrankungen eines Elternteils unterstützen Störungen des Essverhaltens. Das Fehlen positiver Vorbilder in Bezug auf Essverhalten oder eine gesunde Figur, eine fehlende Streitkultur, die Unterdrückung negativer Gefühle oder problematische Ablösungsprozesse, z.B. übermäßige Kontrolle durch die Eltern, können ebenfalls Auslöser sein. Auch die Übernahme von zu viel Verantwortung durch das Kind, etwa nach einer Scheidung, kann unterschiedliche Arten von Essstörungen bedingen.
Soziokulturelle Ursachen
Das vorherrschende Schönheitsideal, verbreitet durch die Medien, die Thematisierung von Essen, Figur, Gewicht und Aussehen unter den Gleichaltrigen, auch Mobbing und negative Kommentare führen immer häufiger zu Krankheiten im Zusammenhang mit dem Thema Essen und Nahrung.
Fallstudie
Eine 30-jährige Angestellte mit Beziehungsproblemen wird von ihrem Partner mit einer schlanken, sehr sportlichen Frau betrogen. Sie selbst ist leicht übergewichtig, kocht und isst nach der Arbeit gerne. Aufgrund des seelischen Schmerzes reduziert sie das Essen und „entdeckt“ das Erbrechen nach den Mahlzeiten. Durch regelmäßiges Essen und Erbrechen verliert sie innerhalb von 2 Monaten etwa 8 kg. Von ihrer Außenwelt erfährt sie viel Aufmerksamkeit und Komplimente für die Gewichtsabnahme. Dadurch entsteht ein Teufelskreis: Sie fühlt sich schlecht durch das heimliche, viele Essen und anschließende Erbrechen. Gleichzeitig isst sie am liebsten hochkalorische, kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Pasta, Pizza, Brötchen, Kekse und Chips.
Die Trennung zu ihrem Lebenspartner bleibt bestehen. Ein neues Vertrauen zu fassen oder zu geben, fällt ihr schwer. Ein geringer Selbstwert und erhöhte Selbstzweifel lassen sie wiederkehrend straucheln, sich minderwertig und schlecht fühlen.
Gemeinsame Arbeit
Essenziell für die gemeinsame Arbeit ist die Entscheidung der Patientin, die Bulimie loszulassen. Sie darf, um zu heilen, verstehen, wie ihre Essstörung ihr bisher gedient hat, welchen Sinn sie beinhaltet, anstatt sie als Hindernis auf ihrem Weg zum Glück zu betrachten. Erst danach kann sie gesunden und die Verantwortung für ihr eigenes Tun übernehmen.
Konkret erhellen wir in mehreren Sitzungen das Trauma der Angst vor der Wut und den eigenen Gefühlen und integrieren es ins (Körper-)System. Systemische und achtsamkeitsbasierte Therapieformen sowie hypnotherapeutische Methoden werden angewendet.
Fragen wie „Wie fühle ich mich?“ und die Erkenntnis, dass innere Leere und Erschöpfung sich anders anfühlen als Trauer und Traurigkeit, werden erarbeitet. Ebenso filtern wir Antworten auf bestimmte Fragen heraus, z.B. „Wie geht es mir, wenn ich oft nachgebe und mich dafür minderwertig fühle, traurig und depressiv bin?“. Denn nach außen hin wird die Patientin von ihrer Umwelt als unproblematisch, hilfsbereit, gut gelaunt, in sich gefestigt und diszipliniert wahrgenommen.
Loslassen und Abschiednehmen von einer Essstörung bedeutet, zu verstehen und anzuerkennen, dass das krankhafte
Essverhalten einst dazu diente, zu „überleben“ und zu „funktionieren“. Überlebenswichtig ist auch die Einsicht, dass
die Vorannahme („Irgendetwas stimmt nicht mit mir“) ein Fehlurteil ist. Im Zentrum einer erfolgreichen Therapie steht
daher, die Selbstregulierung wieder von
Grund auf zu erlernen, um sich neu ausrichten zu können und eine tägliche
Psychohygiene zu entwickeln, mit deren Hilfe man sich mit sich selbst verbinden und spüren kann.
Verlauf
Die Patientin erarbeitet sich, dass ihr das emotional gesteuerte Essverhalten als Ausgleich, Ablenkung oder Trostspender dient. Meist werden durch den Konsum kalorien- und kohlenhydratreicher Lebensmittel v.a. negative Gefühle kompensiert. Im Lauf der Zeit kommt es bei ihr zu einer positiven Verknüpfung der Nahrungsaufnahme mit Entspannung und innerer Ruhe. Da das emotionale Essen impulsiv erfolgt, lautet das Gegenkonzept Selbstreflexion. So lernt die Patientin, auf ihren Körper zu hören und ihre Bedürfnisse zu deuten.
Status quo
Wir treffen uns über 3 Monate im wöchentlichen Abstand zu insgesamt 12 Sitzungen à 60 Minuten, zusätzlich erhält sie Telefon-Support. Heute geht es der Patientin wesentlich besser, nach eigenen Angaben ist sie rezidivfrei. Sie kommt inzwischen zum Festigen ihrer neuen Realität und situationsbezogen nach Bedarf.
Ihre Regel lautet: Gegessen wird ausschließlich, wenn der Körper signalisiert, dass er Nahrung benötigt. Emotionen werden nicht mehr kompensiert, sondern gedeutet und wahrgenommen, anstatt sie mit Essen zu betäuben oder Gefühle wegzudrücken.
Selbsthilfegruppen und Therapie
Bei einer Essstörung kann der Besuch einer Selbsthilfegruppe für Betroffene wie auch für Angehörige hilfreich sein. Für die unterschiedlichen Arten von Essstörungen gibt es spezielle Gruppen.
Eine stationäre Therapie ist eine weitere Hilfsmöglichkeit und manchmal sogar unabdingbar, wenn die Gesundheitsgefahr für die Betroffenen zu schwerwiegend wird. Dabei können Art der Einrichtung, Dauer und Herangehensweise unterschiedlich sein. Sie hängt von den persönlichen Voraussetzungen und der Schwere der Krankheit ab, aber auch davon, was die Krankenkasse bewilligt. So können ein Aufenthalt und eine Behandlung zwischen 6 Wochen und 6 Monaten dauern.
Meine Aufgabe während einer Therapie ist es, den Betroffenen zu helfen, sich selbst zu lieben. Dabei werden innere Anteile betrachtet und die Selbstakzeptanz gefördert. Bei mir dürfen die Patienten sein, wie sie sind, ohne sich verstellen zu müssen. Gleichzeitig lernen sie, ihre Körpersignale als Botschafter richtig zu deuten und zu verstehen. Nur wenn der Ursprung der Essstörung erkannt wird, kann diese erfolgreich behandelt werden. Dabei werden kleine Schritte und realistische Ziele formuliert, um die Krankheit zu besiegen.
Richtiges Handeln bei Verdacht
Haben Angehörige oder andere Personen den Verdacht, dass eine Essstörung vorliegt, ist Handeln wichtig. Ich möchte Ihnen einen Leitfaden mitgeben, wie wir Hilfesuchende unterstützen können, damit sie Betroffenen beistehen und sie zur Reflexion anregen können, frei von (Selbst-)Vorwürfen und ohne den Betroffenen gegenüber in eine Retter-Rolle zu verfallen.
Gesprächsleitfaden
Zuerst sollte das Gespräch gesucht werden. Dabei ist die richtige Vorgehensweise wichtig:
Formulieren Sie „Ich-Botschaften“ Berichten Sie aus der Ich-Perspektive, welche Veränderungen Ihnen im Verhalten aufgefallen sind. Sprechen Sie an, dass Ihnen die Beobachtungen Sorgen bereiten und begründen Sie diese auf eine verständliche Art und Weise.
Zeigen Sie Verständnis Oft ist es für Betroffene eine große Erleichterung, wenn sie jemanden finden, der zuhört, offen ist und die Situation versteht.
Keine Thematisierung des Gewichts Achten Sie darauf, dass weder das Gewicht, eine Gewichtszunahme, die Figur noch das Essverhalten im Mittelpunkt des Gesprächs stehen.
Unbedingt vermeiden Verzichten Sie auf Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Belehrungen, Warnungen oder Drohungen.
Weitere Hilfestellungen
Anstatt die Betroffenen mit Vorwürfen und Ratschlägen zu konfrontieren, ist es besser, die Bereitschaft zur Unterstützung zu zeigen. Sie können helfen, indem Sie das Gefühl vermitteln, dass Sie für sie da sind und sie nicht allein gelassen werden. Machen Sie Angebote zum Reden und fragen Sie aktiv nach, ob ein Wunsch zum Austausch besteht. Weitere Hilfsmöglichkeiten sind
- Wahrnehmen und Würdigen von kleinen Schritten und Erfolgen
- Betroffene auf ihrem Weg zur Heilung stärken und begleiten
- Behutsam zu weiterführender Hilfe motivieren (Besuch einer Beratungsstelle, einer psychotherapeutischen oder ärztlichen Praxis)
- Unterstützung bei der Suche nach Informationen zu Essstörungen
- Begleiten, wenn Ihre Hilfe in Anspruch genommen wird
Außerdem ist es wichtig, positiven Dingen und Erlebnissen, die nichts mit der Essstörung zu tun haben, einen Raum zu geben.
Fazit
Essstörungen sind ein weit verbreitetes Krankheitsbild in unserer Gesellschaft. Häufig durch falsche Schönheitsideale, aber auch durch andere Faktoren können Magersucht, Bulimie, die Binge-Eating-Störung oder eine Mischform hervorgerufen werden. Um aus dem Krankheitsverlauf ausbrechen zu können, ist es wichtig, die Ursache der Essstörung zu ermitteln. Unter der Verwendung erprobter Methoden werden die im Unterbewusstsein vorhandenen schädigenden Einstellungen über das Essen aufgebrochen. Der Patient lernt, sich anzunehmen, von gesellschaftlichen Zwängen zu lösen und ein gesundes Selbstvertrauen zu gewinnen.
Henrike
Ortwein
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkt Traumata, Sterbe- und Trauerbegleiterin,
Beraterin für Stressmanagementtraining und Burnoutprävention
kontakt@henrike-ortwein.de
Fotos: © iridescentstreet I adobe.stock.com, © Julie Francoeur I adobe.stock.com, © bedya I adobe.stock.com
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