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Osteopathie
Lesezeit: 6 Minuten

Therapieresistente Beschwerden durch Blockaden im Kieferbereich

*Zusammenfassung
Die Ursache organischer Beschwerden muß nicht immer im schmerzenden Organ selbst liegen. Viele manualtherapeutisch tätige Kollegen kennen das Phänomen der Triggerpunkte. Der Triggerpunkt eines Muskels wird gereizt, die Schmerzausstrahlung im Erfolgsorgan ist weit von diesem Punkt entfernt. Ebenso kann es sich mit anderen Regulationskreise verhalten, z. B. den Funktionskreisen der Akupunkturbahnen, wie im nachfolgenden Fallbeispiel beschrieben. Beachtenswert ist, daß viele Triggerpunkte identisch sind mit Akupunkturpunkten.

*Schlüsselwörter
Zahn-, Mund- und Kieferbefunde und ihre energetischen Beziehungen zum übrigen Organismus. Funktionskreise. Akupunkturpunkte. Zahnfehlstellungen. Bißlageveränderung. Aufbißschienentherapie. Interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Eine 57jährige Krankengymnastin kam zur Abklärung des Geschehens im Kieferbereich in meine Praxis. Ihr behandelnder Arzt, der sie seit geraumer Zeit wegen Beschwerden in der rechten großen Zehe und der beiden Daumen behandelte, stellte eine Blockade im Kieferbereich fest, die vermutlich die bisherige Therapie blockierte. Die Beschwerden konnten durch neuraltherapeutische Maßnahmen für einige Zeit beseitigt werden, traten dann aber wieder unverändert auf.

*Anamnese

  • Beschwerden in der rechten großen Zehe.
  • Beschwerden im Daumen rechts, seit einiger Zeit auch links.
  • Gelegentlich steifer Nacken.
  • Zeitweise Beschwerden im rechten und linken Wangenbereich.
  • Dumpfe Beschwerden im rechten Fuß.

*Klinische und instrumentelle Funktionsuntersuchung

  • Große Palpationsempfindlichkeit der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur, rechts stärker ausgeprägt als links.
  • Schmerzen bei isometrischer Muskelkontraktion im rechten und linken Muskulus pterigoideus lateralis.
  • Kompensierte Kapsulitis in beiden Kiefergelenken.
  • Probleme in der DiskusKondylus-Einheit beidseitig.
  • Keine Einschränkungen der Unterkieferbewegungen. Leichter Tiefbiß.
  • Geringe Engstände in der Oberkieferfront, verbunden mit starken Abrasionen und keilförmigen Defekten, besonders der Eckzähne. Verstärkte Engstände und Abrasionen in der Unterkieferfront (Abb.1).
  • Über Adaption gut definiertes Kaufeld. Komplizierter Schluckakt. Zum Ausgleich des Tiefbisses befindet sich die Zunge zwischen den Zahnreihen.
r9901_tb1 Abb. 1: Unterkieferspiegelaufnahme der Patientin. Engstände im Unterkieferfrontbereich, wie hier vorhanden, weisen in der Regel immer auf einen zu weit dorsal liegenden Unterkiefer hin. Diese Retrallage belastet in nicht unerheblicher Weise die Kiefergelenke und die Kau- und Halsmuskulatur.

Die Aufzeichnung der habituellen Kieferbewegungen wurde mit den neuromuskular entspannten Bewegungen verglichen. Die Entspannung wurde über niedrigfrequente TENS-Therapie der Kaumuskulatur durchgeführt. Nach 30 Minuten dieser Therapie setzte schon eine Erleichterung im Schmerzgeschehen der großen Zehe und der beiden Daumen ein. Die neuromuskular entspannte Bewegungsbahn des Unterkiefers verläuft vor der habituellen Bahn und links davon (Abb.2).

r9901_tb2 Abb.2: Bewegungsaufzeichnung des durch niedrigfrequente TENS-Therapie der Kaumuskulatur neuromuskulär entspannten Unterkiefers. Die hintere lange Bewegung in der Sagittalen und die rechte in der Frontalen entspricht der gewohnheitsmäßigen Schließbewegung, die durch das vorhandene Zahnsystem vorgegeben ist. Die kurze, dickere Bewegung (in der Sagittalen vorne, in der Frontalen nach links gerichtet) entspricht der neuromuskulär entspannten Bewegung des Unterkiefers. Dies ist die Bewegung, die das Muskelsystem gerne durchführen würde, aber aufgrund der vorgegebenen Zwänge im Zahnsystem nicht einnehmen kann.

Im Elektromyogramm bestimmter Kau- und Halsmuskelgruppen nach TENS-Therapie der Kaumuskulatur wird klar, daß eine zusätzliche Blockade im Restkörperbereich – wahrscheinlich HWS-Bereich – vorliegen muß. Alle gemessenen Muskelgruppen hatten sich deutlich entspannt, mit Ausnahme der linken Halsmuskulatur und des linken Trapezius. Wenn die Ursache allein im Kausystem liegen würde, wäre auch die Spannung in diesen Muskeln zurückgegangen (Abb. 3 u. 4).

r9901_tb3 Abb. 3,4: Elektromyogramm bestimmter Kau- und Halsmuskelgruppen noch neuromuskulärer Entspannung der Kaumuskulatur mittels niedrigfrequenter TENS-Therapie.
L = Links; R = Rechts; TA = M. temporalis anterior; TP = M. temporalis posterior; SM = M. sternocleidomastoideus; MM = M. masseter,o DA = M. digastricus anterior; TR = M. trapezius

*Therapie
Auch wenn ein Herdgeschehen im Zahnsystem aufgrund vorhandener Wurzelfüllungen und tiefer kariöser Prozesse nicht auszuschließen war, wurde die Therapie vorerst mit der Beseitigung der pathologischen Stellung von Ober- und Unterkiefer begonnen. Da eine nur kurze neuromuskuläre Entspannung der Kaumuskulatur zur Erleichterung des Schmerzgeschehens beitragen konnte, sollte dies der erste Ansatzpunkt sein. Es wurde eine myozentrisch ausgerichtete Aufbißschiene hergestellt, die 24 Stunden am Tag, auch zum Essen getragen wurde. Diese Schiene war so konzipiert, daß physiologische Kontaktbeziehungen der Kiefer zueinander möglich waren und damit Muskulatur und Kiefergelenke entlastet wurden (Abb.5).

r9901_tb4 Abb. 5: Aufbißschiene im Unterkiefer zur Beseitigung der Retrallage und Seitverschiebung des Unterkiefers und zur Aufhebung des posterioren Stützzonenverlustes im Seitenzahnbereich. In die Aufbißschiene wurden Kauflächen eingearbeitet. Die Front konnte in diesem Falle freigelassen werden. Die Bißorthese ist so gut wie nicht sichtbar und erlaubt aufgrund der zierlichen Gestaltung auch ein ungehindertes Sprechen.

Parallel zur Schienentherapie löste der manualtherapeutisch tätige Kollege die Blockaden im Halsbereich. Schon nach zweiwöchiger Tragezeit stellte sich eine deutliche Erleichterung im Schmerzgeschehen ein. Daumen und große Zehe waren wieder beweglich. Die Steifheit im Hals war verschwunden, das allgemeine körperliche Befinden wieder sehr gut.

*Diskussion zur Äthiologie des Schmerzgeschehens
Wo ist der Zusammenhang zwischen großer Zehe, Daumen und Kiefer? Zweifellos läßt sich ein Zusammenhang erkennen, wenn man die Funktionskreise betrachtet, mit denen sich die Akupunktur beschäftigt (Abb. 6-8).

r9901_tb5 Abb. 6: Leber-Gallenblasen-Funktionskreis. Erzieht von der großen Zehe in den Wangen- und Kopfbereich. Ihm sind die oberen und unteren Eckzähne zugeordnet und die in der darüberliegenden Schleimhaut vorhandenen Mundakupunkturpunkte. Die vorhandenen Schmerzbereiche sind farbig gekennzeichnet.

r9901_tb6 Abb. 7: Milz-Pankreas-Magen-Funktionskreis. Er steht im Zusammenhang mit den Kiefergelenken und den Zähnen 16, 17, 26, 27, 35, 34, 44, 45 und den darüberliegenden Mundakupunkturpunkten.

r9901_tb7 Abb. 8: Lunge-Dickdarm-Funktionskreis. Er ist das Bindeglied zwischen Kopf, Hals und Daumen. Ihm sind die Zähne 14, 15, 24, 25, 37, 36, 46, 47 und darüberliegenden Mundakupunkturpunkte zuzuordnen.

Erläuterung zu den Abb.6-8: Die Abb. auf der linken Seite wurden jeweils dem Buch “Die Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis”, Petricek/ Völkel, Hüthig-Verlag, 1998 entnommen. Die auf der rechten Seite dem Buch “Mundakupunktur”, Jochen M. Gleditsch, BiologischMedizinische Verlagsgesellschaft, 1979.

*Fazit für die Praxis
Die vorgestellte Kasuistik schildert Probleme im körperlichen Bereich weit weg vom Zahnsystem und ist ursächlich doch dort verankert. Hätte der behandelnde allgemein medizinisch tätige Kollege diesen Weitblick nicht gehabt und die Blockade im Kieferbereich nicht erkannt, ja, was dann? Immer, wenn wir Schmerzgeschehen gegenüberstehen, die über unser Fachgebiet und unsere daraus resultierenden Möglichkeiten der Therapie auf sonst erfolgreiche Behandlungen nicht ansprechen, sollten wir an solche Regulationskreise denken. Wir sollten auch daran denken, daß es häufig nicht nur eine Therapie gibt, sondern daß oft nur eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Ziel führen kann. Im vorliegendem Fall lag zwar die Hauptkomponente und Therapie im Zahnsystem. Aber ich bezweifle, daß ohne das Auflösen der Blockade im HWSBereich eine befriedigende Erleichterung des Schmerzgeschehens zu erreichen gewesen wäre.

Dr. Brigitte Losert-Bruggner
Lorscherstr. 2
68623 Lampertheim-Hüttenfeld
Tel. 06256 – 1555

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Abb. 9: Die Wechselbeziehungen der Zähne zum Organismus nach Voll und Kramer, entnommen dem Buch von Jochen M. Gleditsch, Biologisch-Medizinische Verlagsgesellschaft, 1979.

 

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