Begleitung alter, schwerkranker, sterbender Menschen
Der Begriff “Begleitung” wird häufig im Zusammenhang mit alten, schwerkranken und sterbenden Menschen verwendet. Spätestens hier versagt der verfahrensorientierte Behandlungs-Ansatz, weshalb in unserer Gesellschaft diese Lebenssituationen auch aus dem Arbeitsfeld der in stitutionellen Psychotherapie und ihren “wissenschaftlich anerkannten Verfahren” weitgehend ausgeschlossen sind.
Teil 2
Wann benötigt die menschliche Seele jedoch nötiger die Begegnung mit einen wirklichen therápon, einen kompetenten therapeutischen Begleiter, als in Zeiten der schwierigsten seelischen Übergangsprozesse, in Zeiten, in denen sich unser Leben dem Ende zuneigt? Hier zeigt sich der Zuschnitt der einseitigen Verfahrens-Psychotherapie als reparative Veranstaltung besonders deutlich.
Da sich die Psychotherapie von der Begleitung “irreparabel” alter, schwerkranker und sterbender Menschen weitgehend verabschiedet hat und die familiären Gemeinschaften sich dieser Aufgabe in unserer Zivilisation längst entledigt haben, stellt sich die Frage, wer diese therapeutische Aufgabe übernimmt. Die christlichen Riten scheinen ihre heilsame Kraft weitgehend verloren zu haben, die “Rettung einer Seele” im theologischen Sinn ist etwas anderes als eine therapeutische Begleitung von Menschen in Zeiten schwierigster seelischer Umbrüche. Aber auch die Pflegeberufe haben ihr Augenmerk nahezu ausschließlich auf ihre fachkundigen Verrichtungen und Methoden des Versorgens und Pflegens gelegt, für sie ist ein solcher Mensch an allererster Stelle ein “Pflegefall”. Das ernüchternde Fazit ist: Die menschliche Seele wird in unserer Gesellschaft gerade in den Zeiten größter Verunsicherung und Not meist alleine gelassen. Viele Menschen spüren das instinktiv und haben große Angst davor, je in eine solche Situation zu geraten. Es ist jedoch genau die Situation, die mit relativ großer Wahrscheinlichkeit auf viele von uns zukommen wird.
Auch das therapeutische Begleiten alter, schwerkranker oder sterbender Menschen ist eine fachliche Kunst, kein mehr oder weniger automatisches Nebenher zum medizinischen “Behandeln” oder zum betreuenden “Pflegen”. Es kann im Idealfall mit ihm einhergehen, erfordert jedoch ein hohes Maß an psychotherapeutisch-fachlicher Kompetenz. Es reicht nicht aus, ein “guter Mensch” zu sein, der objektive Wissensstand der Psychotherapie muss uns zur Verfügung stehen. So müssen wir Verständnis entwickelt haben für die existentielle Situation des begleiteten Menschen, für die tiefgreifenden seelischen Übergangsprozesse, die im Alter zu bewältigen sind: All das, was bisher die Identität eines Menschen ausgemacht hat, muss Stück für Stück zurückgelassen werden, eine psychische Struktur, die vor allem auf Welttüchtigkeit hin ausgelegt war, taugt jetzt nicht mehr für die anstehende Entwicklungsaufgabe, neue Einstellungen und Sichtweisen, eine grundlegend veränderte Verfassung der Person ist jetzt gefordert.
Als Begleiter sind wir oft mit turbulenten emotionalen Prozessen, mit tiefsten existentiellen Ängsten, mit massivem Ärger, mit dem Erleben von Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit und mit Abwehrmechanismen und regressiven Zuständen jeglicher Art konfrontiert. “Unerledigte Geschäfte” und familiäre Verstrickungen behindern oft den psychischen Prozess des Lassens und Entidentifizierens – Angehörigenarbeit, Arbeit im familiären Umfeld, ist deshalb oft auch ein wichtiger Teil der Begleitung. Von großer Bedeutung sind auch rituelle Aspekte, die symbolische Gebärde, der symbolische innere Vollzug, die heilsame Wirkung von Metapher und symbolischer Kommunikation – all das gehört mit zum fachlichen Hintergrund einer fundierten Begleitung von Menschen in diesen schwierigen Lebenssituationen.
Entscheidend ist die persönliche Kompetenz
Jedes personale, beziehungsorientierte psychotherapeutische Arbeiten erfordert jedoch vor allem persönliche Kompetenz
und Reife der Therapeuten. Denn die heilsamen Wirkungen gehen in der Begleitung weniger vom strategischen Einsatz
bestimmter Verfahren aus, sondern vor allem von meiner Person, wie ich da bin, echt bin, wie ich in Beziehung
bin.
Während ein “Behandeln” immer ein aktives Tun ist, das auf die Veränderung eines Zustandes zu etwas Besserem
hin gerichtet ist, ist das Begleiten nicht etwas, was wir machen können. Das heißt nicht, dass therapeutische
Begleiter nicht auf der Höhe des psychotherapeutischen Fachwissens sein sollten, ganz im Gegenteil. Es geht nicht
darum, das Lernen verschiedenster Verfahren und Methoden der Psychotherapie zu lassen, sondern die Identifikation mit
ihnen – um frei zu sein für die individuelle therapeutische Begegnung, für den Augenblick.
Bedeutsame Aspekte der persönlichen Kompetenz eines Therapeuten sind etwa: ein hohes Maß an Präsenz und Selbstzentriertheit, ein ausgebildetes Spürbewusstsein für die Bewegungen der Seele, die Fähigkeit zur persönlichen Begegnung, zur Selbstwahrnehmung, zu Echtheit und Gelassenheit, zum vorurteilslosen Schauen und Horchen. Um den Bedürfnissen von Menschen in existentiellen Lebenssituationen gerecht zu werden, um sich von ihnen in der Begegnung ansprechen und berühren zu lassen, ohne die eigene Präsenz zu verlieren und ins Helfenwollen zu verfallen, bedarf eines umfassenden Selbststudiums, einer jahrelangen tiefen Selbsterforschung. Denn wie können wir Anteil nehmen etwa an dem Erleben von Hilflosigkeit, wenn wir uns unserer eigenen Hilflosigkeit und der Art unserer Abwehr dieses Zustandes nie wirklich bewusst geworden sind? Projektionen aller Art sind Tür und Tor geöffnet, wenn Therapeuten ihre eigene Instabilität und Bedürftigkeit, ihre Angst vor völligem Kontrollverlust und Angewiesensein auf andere Menschen nie wirklich angeschaut haben. Es sind unsere Projektionen, die immer wieder verhindern, dass wir einen anderen Menschen in der Begegnung wirklich sehen und vorurteilsfrei “spiegeln” können. Insbesondere die psychische Struktur der “Helferpersönlichkeit” ist ein entscheidendes Hindernis einer wirksamen Begleitung, das “Helfenwollen” ist in diesem Zusammenhang eine ausgesprochene Fehlhaltung – meist dient es mehr der Aufrechterhaltung des eigenen labilen psychischen Gleichgewichts des Helfers, als dem begleiteten Menschen.
Die Frage nach den Grundlagen der Psychotherapie neu stellen
Im personalen Beziehungsansatz der Psychotherapie, das dem Begleiten zugrundeliegt, geht es primär nicht um die Beseitigung von Störungen, um Verhaltensmodifizierung und -umformung, sondern um Ganzwerdung und Gesundung der menschlichen Seele in der therapeutischen Begegnung. Seelische Gesundheit ist nicht identisch mit der Abwesenheit einer Störung, manchmal ist diese gerade ein Ausdruck der gesunden Anteile der Person. Sehr häufig jedoch verschwindet oder mildert sich Symptomatisches und Störendes, wenn ein Mensch wieder zu einer seelischen Stimmigkeit zurückfindet, wenn etwas in ihm wieder in Ordnung kommt. Das Begleiten ist eher auf Integration denn auf Veränderung hin ausgerichtet – auch auf die Integration neuen und schwierigen Erlebens. Fritz Perls hat einmal gesagt: “Integration hat kein Ende” -sogar das Erleben unseres Sterbens will integriert seine Wissenschaftlichkeit innerhalb eines solchermaßen auf das Subjektive und das Persönliche abgestellten Psychotherapie- Ansatzes unterscheidet sich grundlegend von dem vorherrschenden Verständnis, wie es im Psychotherapeutengesetz zum Ausdruck kommt.
Die Frage ist hier nicht, inwieweit ein Verfahren wissenschaftlich anerkannt ist, sondern inwieweit ich selbst als Therapeut in der Lage bin, aus einer wissenschaftlichen Erkenntnishaltung heraus zu arbeiten. Weiß ich mich der Wirklichkeit verpflichtet, dem was ist, was spürbar wirkt, oder eher Vorstellungen und Konzepten von dem, wie es sein sollte? Wenn ich das subjektive Erleben des Menschen als seine zentrale seelische Wirklichkeit anerkenne, dann steht nicht mehr die Ausrichtung an bestimmten psychotherapeutischen Verfahren im Vordergrund, sondern an der unmittelbaren Wirklichkeit des seelischen Erlebens selbst. Die Ausbildung eines in dieser Erkenntnishaltung arbeitenden Psychotherapeuten legt ihren Schwerpunkt deshalb vor allem auf persönliche Fähigkeiten, etwa differenzierter und tiefer wahrnehmen, besser spüren und fühlen zu können, um so zu einem wirklichen Verständnis der Phänomene der Seele zu gelangen. Es wird früher oder später zur unabdingbaren Notwendigkeit werden, neben dem vorherrschenden medizinischen Verfahrensmodell (Psychotherapie als “Behandlung”) das personale und dialogische Beziehungsmodell (Psychotherapie als “Begleitung”) als originären und gleichberechtigten Teil der Psychotherapie auch institutionell wieder anzuerkennen. Gerade die Tatsache, dass sich die einseitig am medizinischen Behandlungskonzept orientierte Betrachtungsweise nun politisch durchgesetzt hat, gibt uns die innere Freiheit, die Frage nach den Grundlagen der Psychotherapie in aller Deutlichkeit erneut zu stellen. Martin Buber gibt dazu eine bedenkenswerte Antwort: Er spricht vom “echten Psychotherapeuten” als dem, “der die verschüttete latente Einheit der leidenden Seele erfasst” und fährt fort: “… und das ist nur in der partnerischen Haltung von Person zu Person, nicht durch Betrachtung und Untersuchung eines Objekts zu erlangen.” Diese Sichtweise mag dem derzeitigen Trend unserer Gesellschaft nicht entsprechen. Sie entspricht jedoch den zeitlosen Bedürfnissen der menschlichen Seele. Und diesen zu dienen ist unsere allererste und auch unsere vornehmste Aufgabe.
Dr. Wernher P. Sachon Therapeut für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie |
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