Tibetische Medizin
Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten im Westen
Die traditionelle Tibetische Medizin stellt ein sehr umfassendes und ausgesprochen komplexes System naturheilkundlicher Diagnose- und Therapieformen dar. Im vorliegenden Artikel werden vor allem die Grundzüge dieses altehrwürdigen Medizinsystems sowie die möglichen Anwendungen im Westen erläutert.
Bei der tibetischen Heilkunde handelt es sich um die Synthese einer alt-vedischen Medizin, einer hierauf zu Zeiten des Buddha Shakyamuni entstandenen buddhistischen Medizin, Anteilen einer ägyptisch-persischen Medizin, der traditionellen chinesischen Medizin sowie der in Tibet in frühen Zeiten vorherrschenden animistischschamanistisch geprägten Naturheilkunde. Diese Elemente sind mit dem buddhistisch-philosophischen Gedankengut zu einem vollständig neuen Ganzen verwoben worden. Durch die relative Abgeschlossenheit Tibets bis zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die traditionelle Form dieser Wissenschaft des Heilens in einer bemerkenswert reinen Art erhalten. Selbst die Gelehrten des indischen Ayurveda lassen heutzutage die ihnen zu früheren Zeiten verlorengegangenen Texte aus der tibetischen Sprache zurückübersetzen. Trotzdem darf man aufgrund der jahrhundertelangen Weiterentwicklung und der buddhistischen Quelle dieser Medizintradition nicht meinen, daß indisches Ayurveda und Tibetische Heilkunde dasselbe wären.
Einteilung der konstituierenden Grundenergien
Gemeinsam ist beiden Medizintraditionen die Dreier-Einteilung der
Typenlehre, also die Unterteilung der zugrundeliegenden Seinsprinzipien bzw. Körperenergien. Diese Einteilung wird im
tibetischen System nach Lung (Wind), Tripa (Galle) und Peken (Schleim) durchgeführt. Im Ayurveda entspricht dies in
der gleichen Reihenfolge Vata, Pitta und Kapha. Die Charakterisierungen dieser drei Wirkprinzipien stimmen in beiden
Systemen im Großen und Ganzen überein. Die Bildung dieser drei Grundenergien wird in der tibetischen Literatur den
drei hiermit korrespondierenden sogenannten “Geistesgiften” zugeschrieben, weswegen diese auch als “die entfernten
Ursachen von Krankheit” betrachtet werden. Die drei zugrundeliegenden Geistesgifte der Begierde (Wünsche,
Leidenschaften, Anhaftungen), des Zornes (Ärger, Wut, Aggressionen, Hass) und der begrenzten Sichtweise der Realität
(Engstirnigkeit, Dummheit, Apathie) bilden die Basis für die entsprechende Wiederverkörperungsform sowie der hiermit
einhergehenden körperlichen, emotionalen und mentalen Fähigkeiten bzw. Schwierigkeiten. Nach tibetischem Verständnis
geschieht dies bereits in der Phase von einer Wiederverkörperung zur nächsten. Eine zusätzliche Modifizierung erfährt
der Grundtypus noch durch die Ernährungs- und Verhaltensweisen der Mutter während der Schwangerschaft sowie in
geringerem Maße durch die nach der Geburt vorherrschenden Bedingungen.
Durch die aufgezeigte Sichtweise wird die
Vernetzung und gegenseitige Durchdringung aller Ebenen sehr deutlich. Für einen tibetischen Arzt ist es deshalb auch
nicht nachvollziehbar, eine Erkrankung als “somatisch” oder “psychosomatisch” zu klassifizieren, denn in seinem
Verständnis haben alle Ebenen immer etwas miteinander zu tun. Aus all dem bisher Gesagten wird klar, warum man die
Grundenergien Lung (Wind), Tripa (Galle) und Peken (Schleim) als archetypische Energieformen betrachten sollte. Der in
Anlehnung an die galenische Humoralpathologie häufig verwendete Begriff “Körpersaft” ist deswegen auch viel zu
oberflächlich und wird hier durch den wesentlich weiterreichenderen Begriff “körperliche Energie” ersetzt. Hierdurch
wird klarer ausgedrückt, dass sowohl die körperliche Ebene als auch die emotionale und die mentale Ebene gemeint sind.
Der körperlichen Energie Lung (Wind) werden in der Tibetischen Medizin die Eigenschaften beweglich, rauh, kühl,
fein, leicht und hart zugeordnet. Lung (Wind) bezieht sich auf alle Nerventätigkeiten und auf alle dynamischen
Prozesse (z.B. die Atmung). Dieser körperlichen Grundenergie wird das Element Luft zugeordnet. Viele der im Westen als
psychosomatisch bezeichneten Erkrankungen haben starken Lung-Charakter. Ein Mensch mit vorherrschender
Lung-Konstitution wird hochgewachsen und schlank sein. Seine leichte und unbeschwerte Art wird ihn eher zu
künstlerischen Tätigkeiten und unkonventionellen Handlungsweisen führen. Er hat eine feine Körpergliederung, neigt zu
Schlaflosigkeit, Nervenschwäche und Zuckungen sowie zu Sorgen und Ängsten. Auch Schmerzen des unteren Rückens,
Knochenschmerzen sowie ständig sich in der Lokalisation verändernde Schmerzen sind typische Lung-Symptome. Lung ist
das visionäre Führungsnaturell.
Die körperliche Energie Tripa (Galle) hat die charakteristischen Eigenschaften heiß, beißend-scharf, leicht, ölig,
schnell agierend, etwas abführend, schlecht riechend und flüssig. Tripa (Galle) ist für das Hitzeprinzip im Körper
zuständig. Das Hauptwirkungsgebiet dieser Körperenergie ist die Verdauungstätigkeit. Innerhalb der Elemente wird Tripa
das Feuer zugeordnet. Eine Person mit vorherrschender Tripa-Konstitution hat einen athletischen, muskulösen Körperbau
von mittlerer Körpergröße. Sein Temperament ist dominant und voller Dynamik. Glühender Wille mit starker
Durchsetzungskraft lassen diese Person klar bestimmt auf ein Ziel hinarbeiten. Hierbei können allerdings manchmal
Ehrgeiz und Ungeduld das Feingefühl zur Seite drängen. Stechende Kopfschmerzen, Fieber und ein Austrocknen der
Schleimhäute sind einige der Tripa (Galle) zugeordneten Symptome.
Die Grundenergie Peken (Schleim) korrespondiert
mit den Flüssigkeitsaspekten des Körpers und ist deshalb für die “Schmierung” zuständig. Alle Körperflüssigkeiten
stehen in Abhängigkeit von Peken (Schleim). Auch die Festigkeit und Elastizität des Körpers und des Geistes sind von
dieser Grundenergie abhängig. Dies zeigt sich im Geistbereich u.a. als Geduld. Die zugehörigen Elemente sind Wasser
und Erde. Die grundsätzlichen Eigenschaften von Peken sind kühl, schwer, stumpf, ölig, glatt, haftend, fest und
langsam. Eine von dieser Grundenergie dominierte Person ist von eher kleinem Wuchs und weist einen gedrungenen und
kräftigen Körperbau auf. Die geduldige Art dieses Menschen zeugt von einem zufriedenen Charakter. Peken neigt zu
praktischer Orientierung und zu sachlich fundierter Gedankenstruktur. Dies kann allerdings auch zu langsamen
Reaktionen und einer Tendenz ins Schwerfällige führen. Typische Symptome dieses Grundtypus sind unklare Sinne (z.B.
verschwommenes Sehen), Blähungen und Verdauungsschwierigkeiten direkt nach Aufnahme von Nahrung, blasse Hautfarbe,
ständiges Schläfrigsein sowie ein Gefühl der innerlichen und äußerlichen Kälte.
Die Einteilung in “heiß” und “kalt”
Im Idealfall herrscht ein dynamisches Fließgleichgewicht innerhalb
der individuellen Verteilung der drei Grundenergien. Kommt es durch die Einflüsse der Jahreszeiten, Tageszeiten oder
einer inadäquaten Ernährungs- oder Verhaltensweisen, aber zu Störungen innerhalb dieser Balance so werden sich hieraus
unter Umständen Krankheiten ergeben. Deswegen werden die genannten Einflüsse auch als “auslösende Faktoren bzw.
direkte Ursachen von Krankheit” betrachtet. In der Sichtweise der Tibetischen Heilkunde ist “Gesundheit” also ein
dynamisches Prinzip. Sie strebt deshalb vor allen Dingen die Optimierung des individuellen Fließgleichgewichts der
Elemente, also der körperlichen Grundenergien an. Hierzu verfährt sie nach der Regel des Gegensätzlichen. Herrscht ein
heißer Zustand vor, so werden eher kühlende Maßnahmen bevorzugt, herrscht ein kalter Zustand vor so wird man sich in
der Regel auf wärmende Maßnahmen verlassen. An dieser Stelle sei auf das Prinzip der Einteilung in “heiß” und “kalt”
hingewiesen. Alle der insgesamt 84.000 Möglichkeiten an Erkrankungen können in diese beiden Kategorien eingeteilt
werden. (Eine etwas strengere Auswahl der Erkrankungskriterien reduziert die 84.000 Möglichkeiten übrigens
aufinsgesamt 1.616 bzw. auf 404 Erkankungen.)
Die einzigen Ausnahmen dieser Regel sind Erkrankungen der Lymphe
sowie Krankheiten durch Mikroorganismen (hier vor allem Würmer etc.). Beide genannten Ausnahmen können sowohl von
heißer als auch von kalter Natur sein. Die heißen Erkrankungen haben eher spontanen und akuten Charakter, die kalten
Krankheiten sind eher tiefsitzend und tendieren zur Chronizität.
Die sieben körperlichen Bestandteile
Das hier gelehrte Prinzip beschreibt die Bildung des Körpers mittels der aufgenommenen Energien, insbesondere der
Energien aus der Nahrung. Diese wird als “Nahrungsessenz” bezeichnet. In einer fortlaufenden Stoffwechselkette werden
hieraus nun in sukzessiver Reihenfolge Blut, Muskulatur, Fettgewebe, Knochen, Knochenmark und als Quintessenz die sog.
“Lebensessenz” gebildet. Hier handelt es sich also um den am meisten gereinigten Anteil des Körpers. In seiner
stofflichen Form wird diese Essenz von Ovum bzw. Samenflüssigkeit repräsentiert. In der feinstofflichen Ebene ergeben
sich die sog. “kreativen Tropfen”, welche bei bestimmten Meditationspraktiken eine wichtige Rolle spielen.
Der
gesamte Prozess dieser Umwandlung von der Einnahme der Nahrung bis zur Reifung der Quintessenz dauert zwischen sechs
und sieben Tagen. Durch die Einnahme bestimmter Nahrungs- und Arzneimittel kann dieser Prozess jedoch beschleunigt
werden. Hier könnten als Beispiele Sesam, Wacholder, bestimmte Pfefferarten und vor allem ein durch bestimmte
alchemistische Vorgänge gereinigtes Quecksilber angeführt werden. (Übrigens würde dieses gereinigte Quecksilber in
einer chemischen Analyse nach westlichem Standard natürlich als “Quecksilberbelastung” des entsprechenden Präparates
bezeichnet werden. Hier wird ein riesiger Unterschied in der Betrachtungsweise des Kosmos und der Elemente zwischen
der tibetischen und der naturwissenschaftlich-westlichen Auffassung deutlich.) Fast alle tibetischen Arzneimittel
durchlaufen den genannten Umwandlungsprozeß innerhalb von maximal 24 Stunden, wobei sie auf jeder einzelnen der
genannten Stufen eine spezielle Wirksamkeit entfalten. Auch existieren Substanzen mit einer bis zu einem Jahr
verzögerten Wirkung. Hier handelt es sich vornehmlich um vermischte Gifte, wozu in der Tibetischen Medizin übrigens
auch alle unpassenden Nahrungsmittelkombinationen (wie z.B. gemischte Alkoholika, Fisch mit Milch, Fisch mit Eiern)
gerechnet werden.
Die genauen Wirkungsweisen verschiedener Heilmittel auf den genannten Ebenen nach westlichen Untersuchungskriterien zu messen und zu beschreiben ist außerordentlich schwierig. Auch die Vermischung von meist einigen Dutzend verschiedenster Bestandteile aus dem mineralischen und pflanzlichen Bereich in den tibetischen Arzneimitteln macht dieses Unterfangen nicht einfacher. Für die Beschreibung synergistischer Wirksamkeiten auf höheren Ordnungsebenen müssten völlig neue Maßstäbe und Beurteilungskriterien geschaffen werden. Leider führen die Schwierigkeiten des Wirksamkeitsnachweises der tibetischen Arzneimittel zu einer oft generellen Ablehnung in westlichen Ländern. Auch viele der bewährten naturheilkundlichen Vielstoffgemische westlicher Prägung verschwanden ja aufgrund der genannten Sachlage aus den Regalen der Apotheken. Der Trend zu Monopräparaten scheint ja leider unabwendbar. Dies legt eine eingehende Beschäftigung der naturheilkundlichen Behandler mit der Pharmakologie der Pflanzen und Mineralien sehr nahe. Eine der Möglichkeiten, die dem naturheilkundlich orientierten Behandler hier bleiben besteht in der Verordnung von individuell gemischten Pulvern, Dekokten und Teemischungen auf der Basis der tibetischen Materia Medica. Vor allem bei den Teemischungen kommen die überstrengen Reglementierungen viel weniger zum Tragen. Auch in der Tibetischen Medizin sind Teemischungen ein bewährtes therapeutisches Mittel. Das Angebot der Apotheken in diese Richtung wurde in letzter Zeit mit einigen qualitativ hervorragenden Teemischungen (z.B. von dem in der Schweiz ansässigen Tibeter Dr. Kalsang Shak) deutlich erweitert. Die Möglichkeiten für naturheilkundliche Behandler, diese Behandlungsstrategie anzuwenden werden hierdurch stark vereinfacht.
Die Verdauungshitze
Das sog. “Lebensfeuer” ist eines der dominierenden Prinzipien in
der Betrachtungsweise der Tibetischen Medizin. Man könnte sogar soweit gehen zu behaupten, dass ein optimal
funktionierendes Verdauungsfeuer der Schlüssel zu Gesundheit und langem Leben darstellt. Im Prinzip handelt es sich um
eine Unterart der körperlichen Energie Tripa, nämlich der sog. “verdauenden Galle”. Unter anderem ist dies auch der
Gallensaft, weswegen zum Beispiel eine Stauung dieser Körperflüssigkeit so weitreichende Folgen nach sich ziehen
kann.
Die metabolische Hitze bildet die Basis für die gesamte thermische Regulation des Körpers sowie für den
eigentlichen Verdauungsprozess. Ist diese Hitze zu stark entwickelt (etwa bei einer Person mit
Tripa-Grundkonstitution, die in heißem und trockenem Klima lebt, sich körperlich stark verausgabt und gleichzeitig
scharfe Nahrung zu sich nimmt – um ein Extrembeispiel zu nennen) so bekommt das ‘Teuer” nicht genügend Nahrung durch
die aufgenommenen Lebensmittel. Hierdurch wird die Verdauungshitze die sieben oben aufgeführten körperlichen
Grundbestandteile angreifen und in der Folge zu Auszehrungserscheinungen führen.
Auch im frühen Winter
(November/Dezember) sollte man laut der Tibetischen Medizinlehre für genügend Substanz in Form von süßen, salzigen und
sauren Nahrungsmitteln sorgen. In dieser Jahreszeit ziehen sich u.a. die Hautporen zusammen und sorgen für ein
natürliches Anfachen der Verdauungshitze.
Üblicherweise ist die Verdauungshitze durch langandauernde inadäquate
Ernährungs- und Verhaltensweisen (insbesondere durch den in seiner Wirkkraft sehr kalten Kristallzucker und zu wenig
Bewegung) aber zu schwach und die aufgenommene Nahrung wird nur ungenügend verstoffwechselt. Durch die ungenügende
Verwertung bilden sich Stoffwechselgifte, die im Bindegewege abgelagert werden und in späteren Zeiten zu Krankheiten
führen können. Die Tibetische Medizin nennt dies eine sog. “Scheingesundheit”. Ungenügend verdaute Nahrung kann aber
auch einfach ausgeschieden werden und hierdurch u.U. für Belastungen des Darmes sorgen. Beide Varianten können in also
in direkter Weise zur Symptomatik eines Nährstoffmangels führen. Aus den beschriebenen Zusammenhängen wird deutlich,
wie sinnlos eine ausschließliche Substitution mit Nährstoffen wie Mineralien, Vitaminen etc. auf Dauer ist, wenn nicht
gleichzeitig auch die Verdauungshitze optimiert wird. Befinden sich die drei körperlichen Energien in einem
ausgeglichenen Fließgleichgewicht, so befindet sich auch die Verdauungshitze in einem optimalen Zustand.
Da die
Elemente Wasser und Erde nach unten tendieren, ersticken sie sozusagen das Verdauungsfeuer, d.h. bei schwacher
Verdauungshitze müssen hauptsächlich die Elemente Feuer und in einem bestimmten Maße auch Luft zugeführt werden.
Hierbei ist allerdings darauf zu achten, das Verdauungsfeuer nicht mit zu viel Wind anzufachen. Als praktische
Konsequenz ergibt sich hieraus die Anwendung wärmender und bis zu einem gewissen Grade auch leichter Substanzen. In
der Tibetischen Medizin wird der Granatapfel als herausragende Pflanze zur Aktivierung der Verdauungshitze
beschrieben. Hiervon werden vornehmlich die getrockneten Samen verwendet. Sie können entweder einfach gekaut werden
oder (besser noch) als Abkochung Verwendung finden. Auch das Trinken von heißem Wasser stellt eine einfache und
wirksame Maßnahme dar. Das heiße Wasser sollte immer vor (und unter Umständen auch während und nach) dem Essen
getrunken werden, um das Feuer anzuregen. Eine zehnminütige Abkochung von etwas Ingwer ist der Verdauungshitze sehr
zuträglich. Auch Knoblauch, Honig, Rettich, Fisch, Hammelfleisch und Lammfleisch werden empfohlen. Alle wärmenden
Gewürze wie z.B. verschiedene Pfefferarten, Anis, Zimt, Gewürznelken, Schwarzkümmel u.a. regen das metabolische Feuer
an. Aus den besagten Gewürzen kann man durchaus auch eine Abkochung bereiten. Tibetische Teemischungen werden häufig
auf der Grundlage von Gewürzen, Rinden etc. gemischt. Dies erscheint dem westlichen Gaumen anfangs meist etwas
ungewohnt.
Alle Personen mit einer eingeschränkten Verdauungshitze sollten die Einnahme von Nahrungsmitteln mit den gleichen Wirkkräften und Prinzipien der körperlichen Energie Peken (Schleim) unbedingt erheblich reduzieren oder besser noch ganz einstellen. Hierzu gehören alle kalten und rohen Speisen wie etwa kalte Getränke, Salate, Speiseeis etc. Diese Maßnahme sollte zumindest für die Zeit bis zur Wiederherstellung des metabolischen Feuers konsequent eingehalten werden. Auch das Rauchen unterdrückt die Verdauungshitze in erheblichem Maße.
Anwendungsmöglichkeiten im Westen
Die Rangfolge der therapeutischen Einflussnahme ist innerhalb der Tibetischen Heilkunde folgendermaßen festgelegt: Zuerst werden dem Patienten die individuellen Modifikationen seiner Ernährungs- und Verhaltensweisen angeraten. Sollte dies nicht ausreichen (sowie bei schweren Erkrankungen auch gleich anfangs), wird der tibetische Behandler auf die Gabe medizinischer Substanzen (hauptsächlich Mineralien und Pflanzen in der Form von Pulver, Pillen oder Teemischungen) zurückgreifen. Zeigt auch dies nicht den gewünschten Erfolg, so werden die “zusätzlichen äußeren Therapiemethoden” angewendet. Als letzte Möglichkeit können unter Umständen noch spirituelle Einflussnahmen mittels bestimmter Zeremonien durch einen Lama hinzukommen. In früheren Zeiten waren die tibetischen Ärzte meistens auch Mönche bzw. Lamas und konnten so das gesamte Therapiespektrum abdecken. Erst mit der Okkupation Tibets durch China und der damit einhergehenden Neustrukturierung der Ausbildung tibetischer Ärzte im nordindischen Exil in Dharamsala wurde auch eine Trennung der Funktionen von Arzt und Lama vollzogen. Ob sich dies zum Vorteil auswirkt wird die Zeit zeigen.
Die Anwendungsmöglichkeiten der Tibetischen Medizin in der westlichen Naturheilpraxis werden (neben dem äußerst
hilfreichen und relativ einfach anwendbaren diagnostischen Verfahren der Harnanalyse und in eingeschränktem Maße auch
der Pulsdiagnose) üblicherweise mit den Ratschlägen bezüglich der Verdauungshitze beginnen und dann auf die
individuellen Ernährungs- und Verhaltensweisen nach den Regeln der drei körperlichen Grundprinzipien ausgedehnt
werden. Die eigentliche Arzneimitteltherapie kann im Westen nur in einem sehr eingeschränktem Maße durchgeführt werden
und erfordert ein tiefgehendes Studium der Materie. Weitere Möglichkeiten der Therapie in westlichen Praxen sind dann
die in der Tibetischen Medizin als “zusätzliche äußere Therapieformen” bekannten Verfahren wie z.B. Schröpfen, Wickel,
Moxabustion, Mikro-Aderlass an festgelegten Körperpunkten, humorale Ausleitungsverfahren (Brechmittel bei einem
Übermaß von Peken, Abführmittel bei einem Übermaß von Tripa und Einläufe bei einem Übermaß von Lung) sowie bestimmte
Formen der Massage (insbesondere Reflexpunkte bei Übermaß von Lung).
Wie man hieraus ersehen kann, wird die
Umstellung der Ernährungs- und Verhaltensweisen als absolute Basis einer jeden therapeutischen Bemühung verstanden.
Allein schon die Beschäftigung mit der tibetischen Typenlehre kann hierfür naturheilkundliche Behandler große
Anregungen bringen. Die äußeren Therapieformen werden als etwas Zusätzliches betrachtet, d.h. ein Arzt der Tibetischen
Heilkunde wird diese Anwendungen als relativ drastische Einflussnahme auf den Körper werten. Dies hat unter anderem
auch damit zu tun, dass die genannten Verfahren von den Tibetern häufig auch in recht drastischer Weise angewendet
werden. In den westlichen naturheilkundlichen Praxen werden ähnliche Methoden teilweise ja innerhalb eines anderen
Bezugsrahmens (und in meist sehr viel sanfterer Form) angewendet. Wer sich mit der Tibetischen Medizin (und hier
insbesondere mit der Einteilung der körperlichen Energie, mit den Wirkkräften, den Geschmacksrichtungen und mit den
Elementen) eingehend beschäftigt, kann sein Verständnis der naturheilkundlichen Zusammenhänge um ein Wesentliches
ausweiten. Zudem kann der Behandler die genannten äußeren Methoden durchaus innerhalb eines tibetisch-medizinischen
Bezugsrahmens bzw. Therapieplanes einsetzen und hierdurch sein Therapieangebot um einige relativ sanfte und
ausgesprochen wirksame Methoden erweitern.
(Thomas Dunkenberger ist Heilpraktiker und Autor von: “Das tibetische Heilbuch”; erschienen im Windpferd-Verlag.)
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