Chronobiologische Ernährung – Teil 1
Das Potenzial chronobiologischer Ernährung und Epigenetik – Teil 1
Wussten Sie, dass wir mithilfe einer chronobiologischen Ernährung und der Epigenetik die Möglichkeit haben, die Macht der inneren Uhr optimal zu nutzen und selbst die Genaktivität zu regulieren? Tatsächlich können wir unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit grundlegend bis auf die DNA-Ebene positiv verändern, wenn wir darauf achten, WAS wir WANN essen. Lassen Sie uns gemeinsam erkunden, wie wir mit den richtigen Nährstoffen zum richtigen Zeitpunkt einfach und effektiv unsere Gesundheit gestalten können.
Tag-Nacht-Rhythmus
Entscheidend für unser Leben ist der auf 24 Stunden angelegte Tag-Nacht-Rhythmus (auch: zirkadianer Rhythmus oder innere Uhr). Er wirkt in jedem Lebewesen, das länger als einige Tage lebt, so wie es drei amerikanische Forscher – Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young – bewiesen und da- für 2017 den Medizin-Nobelpreis bekommen haben (1, 2). Der Tag-Nacht-Rhythmus läuft automatisch ab und steuert grundlegende physiologische Prozesse, z. B. wann wir schlafen oder wach sind sowie wann wir Hunger und Durst verspüren. Zudem beeinflusst er unsere Stimmung und reguliert Körpertemperatur, Stoffwechsel und die Ausschüttung zahlreicher Hormone.
Der Dirigent
Hauptverantwortlich ist die zentrale innere Uhr („Masterclock“), der suprachiasmatische Nucleus (SCN) im Hypothalamus. Diese Uhr steuert den Organismus im 24-Stunden- Rhythmus unter Berücksichtigung wichtiger Signale aus der Umgebung, v. a. Licht und Dunkelheit. Lichtsensitive Zellen melden der Masterclock, ob es Tag oder Nacht ist, und das abends produzierte Hormon Melatonin signalisiert den Beginn der Dunkelheit. Nachts werden verschiedene Prozesse, z. B. Puls und Körpertemperatur, herunterreguliert, während das Immunsystem und Reparaturmechanismen aktiv sind. Zwischen 0 und 3 Uhr überschreitet der Melatonin-Wert sein Maximum, danach steigt zusammen mit der Körpertemperatur der Cortisol-Wert wieder an, um den Körper auf den Tag vorzubereiten. Cortisol, das die Leistungsbereitschaft steigert, erreicht morgens zwischen 6 und 8 Uhr seinen Höchstwert.
Die innere Hauptuhr im Hypothalamus gibt nicht für alle Zellen und Gewebe denselben Takt vor, sondern koordiniert ganz geschickt viele kleine, unterschiedliche innere Uhren – wie ein Dirigent ein ganzes Orchester. Je nach Tageszeit variieren Hormon- und Enzymausschüttung sowie die Organaktivität. So werden nicht nur die Aufrechterhaltung und die Regeneration der Körperfunktionen reguliert, sondern dies beeinflusst auch die Wirkung unserer Nahrung abhängig vom Zeitpunkt des Verzehrs.
Im Rhythmus trotz Individualität
Neben dem zirkadianen Rhythmus gibt es einen genetisch bestimmten Chronotyp, der vom zirkadianen Tag-Nacht-Rhythmus abweichen kann. Man unterscheidet landläufig zwi- schen „Lerchen“ (Frühaufsteher) und „Eulen“ (Abendmenschen). Der Chronotyp kann sich im Laufe des Lebens verändern: Kinder sind meist Lerchen, Teenager neigen zum Eulen-Typ, und im Alter kehren viele zum Lerchen-Rhythmus zurück. Dennoch behält der Körper seinen 24-Stunden-Rhythmus bei und reduziert in der Nacht u. a. die Aktivität der Verdauungsprozesse – selbst bei einem „Eulen“-Chronotyp, der bis spätnachts wach ist.
Klar ist: Wir alle folgen automatisch einem Rhythmus von 24 Stunden, selbst ohne Lichtimpulse. Dies wurde bereits in den 1960er-Jahren im „Andechser Bunker“-Experiment bewiesen.
Uhren oder Kontakt zur Außenwelt, doch ihr Schlaf-Wach-Rhythmus blieb mit einem natürlichen 24-Stunden-Zyklus bestehen.
Chronobiologie der Ernährung
Die innere Uhr gibt zwar zuverlässig den Takt für unsere Stoffwechselprozesse vor, doch um diese auszuführen, benötigt der Körper Nährstoffe. Lange Zeit nahm man an, dass es egal sei, wann wir unsere Lebensmittel verzehren, solange wir ausreichend Makro- und Mikronährstoffe aufnehmen. Die Chronobiologie der Ernährung hat jedoch gezeigt, dass der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme einen wesentlichen Einfluss auf die Verwertung und Wirkung der Lebensmittel hat.
Die Chronobiologie (griech. chronos = Zeit) befasst sich mit den zeitlichen Abläufen biologischer Prozesse sowie der inneren Uhr und findet vermehrt Anwendung in den und Medizin, um z. B. Medikamente dann zu verabreichen, wenn ihre Wirkung am größten und die Risiken für Nebenwirkungen minimal sind. Als noch junge Wissenschaft untersucht die Chronobiologie ebenso die Auswirkungen der Nährstoffaufnahme im Zusammenhang mit dem Tag-Nacht-Rhythmus und betrachtet die Aktivität von Organen, Hormonen und Verdauungsenzymen, die innerhalb von 24 Stunden stark variiert.
Die chronobiologische Forschung zeigt, dass Lebensmittel je nach Zeitpunkt des Verzehrs offensichtlich unterschiedliche Wirkungen im Körper entfalten, da sie verschieden verstoffwechselt werden. Das Ziel einer chronobiologischen Ernährung ist somit, die Nahrungsaufnahme an unsere natürlichen Rhythmen anzupassen, um Nährstoffe bestmöglich zu verwerten und gleichzeitig optimale gesundheitliche Vorteile zu erzielen.
Richtige Nahrung zur richtigen Zeit
Ein und dasselbe Lebensmittel kann je nach Tageszeit unterschiedliche Effekte auf den Körper haben. Während es zu einer bestimmten Zeit die Konzentration fördert, die Stimmung hebt oder den Fettabbau unterstützt, kann es zu einer anderen Tageszeit den Schlaf stören, die Regeneration beeinträchtigen oder sogar die Cholesterinwerte in die Höhe treiben. Die richtigen Lebensmittel zur richtigen Zeit zu essen, kann der Schlüssel sein, um ohne Verzicht genau die Effekte zu erreichen, die man sich wünscht. Einige Beispiele verdeutlichen, wie die chronobiologische Ernährung in der Praxis funktioniert:
Omega-3-Fettsäuren
Während der morgendliche Verzehr von kurzkettigen Omega-3-Fettsäuren (z. B. Leinsamen, Walnüssen) am stärksten gegen Entzündungen wirkt, empfiehlt sich der Konsum von langkettigen Omega-3-Fettsäuren (z. B. EPA und DHA aus Algenöl) eher nachmittags oder abends. Zu diesen Zeiten werden sie für die nächtliche Regeneration in die Zellmembranen eingebaut, was sich positiv auf das Gehirn, die Augen, das Herz und den Schlaf auswirkt.
Gesättigte Fette
Lebensmittel, die reich an gesättigten Fetten sind, z. B. roher Käse, Butter, Kokosöl oder Eier, sollten vorzugsweise am Morgen verzehrt werden. Morgens produziert der Körper selbst gesättigte Fette, z. B. Cholesterin, das für die Hormonproduktion und Gallenflüssigkeit benötigt wird. Durch den Konsum gesättigter Fette zum Frühstück wird die körpereigene Fettproduktion reduziert. Diese Wirkung wird nur morgens durch das Enzym HMG-CoA-Reduktase ermöglicht. Werden gesättigte Fette hingegen abends regelmäßig verspeist, können sie die Regeneration stören, den Schlaf beeinträchtigen und zu einer unnötigen Erhöhung des Körperfetts führen.
Süße am Nachmittag
Ein idealer Nachmittagssnack ist eine Kombination aus rohen Nüssen oder Samen und frischem Obst. Die natürliche Süße von Obst zusammen mit Tryptophan, B-Vitaminen und Mineralstoffen (Mg, Zn, Fe, Se, Cr etc.) aus den Nüssen/Samen fördert die Produktion von Serotonin, das für gute Laune und Entspannung sorgt. Der kleine süße Genuss am Nachmittag sorgt gleichzeitig für die Vitalstoffspeicherung und bleibt dabei ohne negative Auswirkungen auf Gewicht und Figur, da der Körper zu dieser Tageszeit nicht mehr so leicht Fett aus Zucker produziert. Außerdem bereitet sich der Körper hormonell auf den Schlaf vor, indem Serotonin in das Schlaf- und Anti-Aging-Hormon Melatonin umgewandelt wird. Sehr viel süßes Obst sowie schnelle Kohlenhydrate (z. B. Kuchen) sollten vermieden werden, da sie den Blut zucker destabilisieren und dadurch die Aufnahme von Tryptophan ins Gehirn und somit die Glücks- und Schlafhormone verhindern.
Der Zeitpunkt zählt
Diese Beispiele zeigen, dass der Zeitpunkt des Essens ebenso wichtig ist wie das Essen selbst. Die innere Uhr erhält dadurch ihre verdiente Bedeutung: Wer im Einklang mit ihr isst, nimmt Nährstoffe regelmäßig dann auf, wenn der Körper sie am besten verwerten kann und sie ihre optimale Wirkung entfalten. Die Erfahrung zeigt, dass die Umsetzung einer chronobiologischen Ernährung langfristig auf natürliche Weise dabei helfen kann, hartnäckige Beschwerden und Mängel zu überwinden, das Wohlbefinden zu steigern und den Weg zu einer harmonischen Figur zu ebnen.
Nutri-Epigenetik
Unter Epigenetik (griech. epi = über) verstehen wir die Lehre vom Einfluss diverser Umweltfaktoren auf die Genexpression, ohne dass die DNA dabei verändert wird. Zu diesen Faktoren zählen die Nährstoffversorgung ebenso wie die eigene Gedankenwelt, das soziale Umfeld, die Umweltsituation etc. Eine chronobiologische Ernährung arbeitet somit Hand in Hand mit der Genexpression und entscheidet im Sinne einer Nutri-Epigenetik darüber, ob und wie der Körper bestimmte Gene abliest und nutzt. Und so kann das natürliche Essen hochwertiger, vitalstoffreicher Lebensmittel im Takt der inneren Uhr über die Nährstoffe für ein Ein- oder Abschalten von Genen nach bestimmten Mustern sorgen.
Gensteuerung über Ernährung?
Sie haben vielleicht von der Studie des US-amerikanischen Krebsforschers Randy Jirtle (University of Wisconsin-Madison) gehört. Hier wurden trächtige, genetisch identische Agouti-Mäuse mit ungünstigen genetischen Prägungen unterschiedlich ernährt, und tatsächlich waren ihre Nachkommen unterschiedlich gesund (3). Während die Jungen einer Agouti-Mausmutter entgegen ihrer genetischen Veranlagung vollkommen gesund und vital heranwuchsen, bildeten die Nachkommen der Zwillingsschwestern diverse genetisch bedingte Krankheiten aus.
Das Geheimnis dahinter: Methylgruppen. Diese sind im Prozess des An- und Abschaltens von Genen von hoher Bedeutung. Und der Gehalt an bestimmten Vitaminen, Mineralstoffen und Aminosäuren in der Nahrung (z. B. B-Vitamine, Magnesium, Zink, Methionin) ent- scheidet darüber, wie gut der Methylkreislauf im Stoffwechsel funktioniert.
Diejenigen Agouti-Mäuse, die völlig gesunde Nachkommen zur Welt brachten, haben über ihre Nahrung offenbar ausreichend dieser Mikronährstoffe erhalten, um die pathologischen Agouti-Gene nicht zum Zug kommen zu lassen. Ihre Zwillingsschwestern hingegen bekamen über ihre Nahrung leider nicht die notwen- digen Nährstoffe und entwickelten infolgedessen eine Vielzahl chronischer Krankheiten, z. B. Diabetes, Herzerkrankungen und Fettleibigkeit, die typisch für Agouti-Mäuse sind.
Gene sind Möglichkeiten
Störungen und Krankheiten entstehen nicht nur aufgrund genetischer Veranlagung, sondern auch durch eine ungünstige DNA-Me-thylierung, welche mit der Genexpression verknüpft ist. Ein Mangel an verschiedenen Mikronährstoffen, die den Methylkreislauf beeinflussen, kann daher darüber entscheiden, wie unsere Gene reguliert werden.
Wir Menschen gehen oft davon aus, dass wir Opfer unserer Gene sind, doch wenn wir u. a. über eine hochwertige Ernährung für einen gesunden Methylkreislauf sorgen, kann uns Gesundheit trotz ungünstiger Prädisposition lange begleiten. Die in unserer DNA verankerten Anlagen sind lediglich Möglichkeiten, keine unveränderlichen Schicksale.
Fazit
Je mehr Lebensmittel in richtiger Qualität zur richtigen Zeit genossen werden, desto effektiver geschehen Aufnahme und Verwertung der enthaltenen Nährstoffe, desto positiver ist der Einfluss auf die Genregulierung im Sinne einer möglichst optimalen Entfaltung von Gesundheit und desto höher fällt die Wahrscheinlichkeit aus, dass nachfolgende Generationen davon profitieren.
In Teil 2 betrachten wir die chronobiologische Ernährung aus Sicht der Nutri-Epigenetik und fokussieren uns auf den Methylkreislauf und die für ihn wichtigen Nährstoffe sowie Faktoren, die deren Aufnahme und Verwertung hemmen.
Anamaria Hager
Gesundheits-, Ernährungs- und Epigenetik-coach, Mentaltrainerin, Dozentin der Paracelsus Gesundheitsakademien
mail@anamariahager.deWeitere Artikel aus dieser Ausgabe
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