Anmelden als
Psychotherapie
Lesezeit: 9 Minuten

Ängsten den Schrecken nehmen

Angst sicherte unser Überleben als Spezies, sie begleitet uns somit seit Bestehen der Menschheit. Aus Angst zu verhungern oder zu erfrieren, sorgten wir für ausreichend Nahrung und Unterschlupf. Um unserer Angst vor Raubtieren und Feinden zu begegnen, verteidigten wir uns oder flohen. Die automatisch ablaufenden Angstreaktionen des Nervensystems haben sich über viele Jahrtausende in unser Sein eingeschrieben. Heute sind derartige archaischen Ängste nur noch in den seltensten Fällen vonnöten. Und doch zählen Ängste zu den am häufigsten vorkommenden psychischen Erkrankungen. In der westlich geprägten Welt leidet jeder vierte Mensch mindestens einmal in seinem Leben unter einer pathologisierten Angststörung. In diesem Artikel erfahren Sie, was Ängste sind, wie sie entstehen und welche unterstützenden Tools als therapieergänzende Bausteine angesehen werden können. 


 

Bedeutung im Alltag

Ängste gehören nach Paul Ekman, einem bekannten US-amerikanischen Anthropologen und Psychologen, zu den sieben Grundemotionen, die wir als Spezies in uns tragen. Die anderen sind: Freude, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, Überraschung. Bei der Emotion Angst handelt es sich um eine angeborene Emotion, die dem Schutz vor Gefahren und der Sicherung des Überlebens dienen soll. Im Alltag begegnen uns Ängste immerzu: Wir schließen die Haustür ab, um uns vor Einbruch oder unerwünschten Besuchern zu schützen. Beim Autofahren schnallen wir uns an, um sicher durch den Verkehr zu kommen. Bevor wir eine Straße überqueren, blicken wir nach rechts und links, um nicht überfahren zu werden. 

 

Gehirn und Nervensystem

Die Amygdala und der Hippocampus des limbischen Systems gelten als die dominanten, angstregulierenden Strukturen des Gehirns. Erstere fungiert als eine Art Angstgedächtnis, Letztere ist für die Bewertung bedrohlicher Situationen sowie für das Angstlernen zuständig. Außerdem spielen der Hypothalamus und der präfrontale Cortex wichtige Rollen: Während der Hypothalamus an der Ausschüttung von Stresshormonen beteiligt ist, ist es mithilfe des präfrontalen Kortex möglich, bewusst – im Gegensatz zur unbewussten Reaktion des limbischen Systems – eine Angstreaktion einzuleiten oder zu stoppen. Im Folgenden ein kurzer Überblick, wie Ängste durch unsere Wahrnehmung entstehen. 

Vereinfacht dargestellt, wird ein Angst ähnlich wie andere Reaktionen ausgelöst: 

  • Es kommt zu einer Reizwahrnehmung über die Sinneskanäle.
  • Diese löst unterschiedliche Mechanismen im Nervensystem aus. Die Wahrnehmungen stoßen auf neuronale Vergleichsmuster im Nervensystem.
  • Folglich werden Reizreaktionen entsprechend unseres neuronalen und emotionalen Zustandes sowie auf Basis unserer Erfahrungen eingeleitet.

Wie wir letzten Endes auf die wahrgenommenen Reize reagieren, entscheiden u. a. die individuelle Regulationsfähigkeit, die Resilienz und generelle Anfälligkeit für Ängste. Letztere ist auch genetisch disponiert. 

Angstreaktionen sind somit als physiologische Mechanismen in uns angelegt; sie können uns schnell handeln lassen und schützen uns. Sie tragen auch dazu bei, dass wir Entscheidungen mit Bedacht treffen. Voraussetzung für bewusste Entscheidungen ist allerdings eine Handlung, die gerade nicht auf den automatischen Angstreaktionen basiert. Diese lassen uns immer wieder auf ähnliche Weise auf die wahrgenommenen Informationen reagieren. 

 

Angststörungen

Ängste können wertvoll und lebensrettend sein, doch was ist eine Angststörung, und gibt es verschiedene davon? 

Wenn wir uns erschrecken, aber erkennen, dass keine Gefahr besteht, reguliert sich das Nervensystem automatisch herunter, sodass wir erleichtert aufatmen können. Ist die Angst jedoch permanent vorhanden und schränkt das Leben mehr oder weniger ein, dann spricht man von einer Angststörung. Eine solche Störung kann allerlei Begleiterscheinungen nach sich ziehen. Betroffene leiden oft gleichzeitig unter depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen und körperlichen Schmerzen durch Verspannungen, die aufgrund von Ängsten auftreten. Eingeteilt nach Schweregrad spricht man von: 

 

Angststörung: Liegen unverhältnismäßig starke Ängste über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten vor und beeinträchtigen den Alltag, kann dies ein Indiz für eine Angststörung sein. Häufig vorkommende Formen sind soziale Angststörungen und Phobien. 

 

Generalisierte Angststörung: Hier stehen anhaltende übermäßige Sorgen in verschiedenen Lebensbereichen im Vordergrund, die schwer kontrollierbar sind. 

 

Panikstörung: Gekennzeichnet durch unerwartete, wiederkehrende Panikattacken und geht mit körperlichen Begleiterscheinungen 

 

Bei Vorliegen einer Angststörung, die das tägliche Leben erheblich beeinträchtigt, ist es wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (z. B. Psychotherapie durch einen qualifizierten Therapeuten). Bei herausfordernden Prozessen, die sich von Angststörungen und alltagsbeeinflussenden Ängsten abgrenzen, können speziell ausgebildete Coaches helfen, konkrete Ziele zu setzen und Strategien zur Überwindung der Hindernisse im Alltag zu erarbeiten. Hier braucht es die optimale Aufklärung für Klienten und ein Bewusstsein als Coach, wo die rechtlichen Grenzen der eigenen Möglichkeiten liegen. 

 

Risikofaktoren

Psychische Faktoren, z. B. traumatische Kindheitserlebnisse und langanhaltende Belastungen, gelten als „Risikofaktoren“ für die Entwicklung einer Angststörung. Darüber hinaus dient unser näheres Umfeld während unserer Kindheit als Vorbild für uns. Nicht nur werden wir genetisch von unseren Eltern beeinflusst, auch wurden wir durch ihren Umgang mit Problemen, Herausforderungen und Ängsten geprägt. Wir lernen und erfahren u. a. durch Nachahmung. 

 

Reizwahrnehmung

Mit neuronalem Zustand ist das Grundniveau unseres Nervensystems gemeint. Sind wir z. B. entspannt und auf neuronaler Ebene im Gleichgewicht, sind wir in der Lage, Informationen neutraler wahrzunehmen. Es wird keine automatische, auf Panik basierende Reaktion ausgelöst (oder nur in abgeschwächter Form). Durch eine solche neutralere Wahrnehmung können wir selbstbestimmt und bewusst entscheiden, wie wir mit den wahrgenommenen Informationen umgehen möchten. Um innerlich in Balance zu kommen und zu bleiben, kann z. B. Meditation als komplementär eingesetzte Methode hilfreich sein. 

 

Die Kraft der Meditation

Der längst nachgewiesene positive Effekt von Meditation kann als ergänzendes Verfahren bei Ängsten Anwendung finden, sofern aus therapeutischer Sicht nichts dagegenspricht. Neuronale Verknüpfungen, die für viele unkontrollierte Gedanken und somit auch für Ängste sorgen, können durch Meditation leichter abnehmen, während neue Verbindungen entstehen, die für mehr Gelassenheit sorgen. Der präfrontale Cortex ist maßgeblich an der Emotionsregulation beteiligt. Meditation fördert die emotionale Regulationsfähigkeit und trägt zu einer abnehmenden Aktivität der Amygdala (Angstzentrum) bei. 

Um von der Kraft der Meditation optimal profitieren und leichter in die Gelassenheit gehen zu können, empfiehlt sich eine regelmäßige Anwendung. Je konsequenter praktiziert wird, desto schneller können sich die ausgleichenden Effekte bemerkbar machen. 


Um eine neue Gewohnheit leichter in den Alltag einbauen zu können, hat es sich bewährt, diese mit einer bereits bestehenden Routine zu verknüpfen. So könnte man z. B. nach dem Zähneputzen direkt zur Meditation übergehen. Wichtig ist, nichts dazwischenkommen zu lassen. Um dies noch einfacher zu gestalten, könnte man am Abend zuvor bereits alles vorbereiten: den Stuhl oder das Meditationskissen, die Kerze, das Feuerzeug. Neue Gewohnheiten sollten uns aufgrund möglichst geringen Aufwands dazu einladen, sie auszuführen. Mit der Zeit wird das Meditieren zur Selbstverständlichkeit. 




 

Übungsanleitung

Für Meditationsanfänger kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu lenken. Hierfür eignet sich z. B. eine brennende Kerze. Aufrecht auf einem Stuhl sitzend, lässt man den Blick auf der Kerzenflamme ruhen. Währenddessen fließt der Atem ruhig und gleichmäßig durch die Nase ein und aus. Eine zeitliche Begrenzung hilft Neulingen, während der Meditation geduldiger zu sein. Empfehlenswert ist es, mit einer Dauer von fünf Minuten zu starten. Hierbei kann ein Timer im Smartphone oder ein Wecker helfen. Die Dauer kann je nach Praxiserfahrung langsam gesteigert werden. 

 

Fokusveränderung

Gedanken können zu einer sich verselbstständigenden Flut werden, v. a. bei Ängsten. Sie basieren auf unseren Erfahrungen, Erlebnissen, Überzeugungen, Erwartungen etc. Da unser Gehirn auf Schutz und Überleben programmiert ist, fällt es ihm wesentlich leichter, angst- und sorgenvolle Gedanken zu produzieren. Schließlich hat sich unsere Spezies über viele Jahrtausende hinweg schützen wollen und müssen – sie war permanent in Alarmbereitschaft. Hinzu kommen persönliche Erfahrungen der Betroffenen, welche die Angstanfälligkeit verstärken können. 

Da Angstpatienten oft von unkontrollierbaren Gedanken geplagt sind, kann die bewusste Arbeit mit Dankbarkeit unterstützen, den Fokus umzulenken. Durch Meditation ist es möglich, die Gedanken zu beruhigen. Und im nächsten Schritt kann es leichter fallen, die Aufmerksamkeit auf positive Aspekte des Lebens zu lenken, die Schätze zu erkennen und zu würdigen. 


 

Dankbarkeitstagebuch

Meinen Patienten empfehle ich die Verwendung eines Dankbarkeitstagebuchs, in dem sie direkt nach der Meditation notieren können, wofür sie dankbar sind. Andernfalls fällt es oft sehr schwer, an schöne Dinge zu denken, v. a. während man sich im Angstmodus befindet. Auch am Abend ist es empfehlenswert, das Tagebuch nach einer kurzen Meditation aufzuschlagen und sich bewusst an die guten Dinge des Tages zu erinnern. Dabei kann man sich fragen: Was habe ich heute Schönes erlebt? Wofür bin ich dankbar? Im Schlaf werden die Eindrücke des Tages verarbeitet. Beruhigt man die Gedanken und richtet sich innerlich positiv aus, kann sich dies förderlich auf die Schlafqualität auswirken. 

 

Gezielte Entspannung

Entspannungsverfahren, z. B. Progressive Muskelentspannung (PME), Autogenes Training oder Atemübungen, aktivieren das parasympathische Nervensystem und können körperliche Reaktionen der Angst reduzieren. Während die Herzfrequenz sinkt, entspannt sich die Muskulatur und der Körper wird ruhiger. Auch fördern Entspannungsverfahren die Selbstwahrnehmung, was sich positiv auf die Emotionsregulation auswirken kann. Sie stellen somit eine wertvolle Maßnahme dar. Für Menschen, die sich mental noch nicht auf eine geführte Meditation einlassen können, empfehle ich als ersten Schritt Entspannungsverfahren. Erfahrungsgemäß wachsen mit der Zeit die Offenheit und die Fähigkeit für Meditationen. 

 

Psychoedukation

Diese stellt ebenfalls eine ergänzende Maßnahme dar. Durch das Verständnis für die eigenen Verhaltens- und Reaktionsmuster wächst das Bewusstsein für Lösungsmöglichkeiten. Verhaltenstherapeutisch ist ein gewisses Engagement seitens des Patienten richtungsweisend für den Behandlungserfolg. 

 

Fazit

Grundsätzlich ist eine ausführliche Anamnese unerlässlich, um ein Gesamtbild zu erhalten und die individuelle Ursache für vorhandene Ängste zu erkennen. So können wir als Therapeuten auf den Patienten eingehen und die für ihn beste Behandlung finden. Angst kann in der Praxis ein sehr komplexes und individuelles Thema sein. Die Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten sind erfreulicherweise sehr vielfältig, aber von der Art der Angst abhängig. Ebenso spielt der Schweregrad der Symptomatik eine nicht unerhebliche Rolle. Allgemein gilt jedoch: Betroffene können umso leichter zurück in ein erfüllteres Leben finden, je ganzheitlicher ihre Ängste angegangen werden. 

Nicht nur während der Therapie, sondern auch langfristig zu Hause im Sinne einer Selbsthilfe-Technik können Patienten unterstützende Maßnahmen erlernen und anwenden, die dabei helfen können, sich von alten Verhaltensmustern zu verabschieden und neue zu etablieren. So können z. B. geführte Meditationen und Visualisierungsübungen dazu führen, dass bestehende neuronale Verknüpfungen abgeschwächt und neue gebildet werden, die dabei unterstützen, sich der Visualisierung entsprechend zu verhalten. Die Bedeutung von Selbstwirksamkeitserfahrungen sollte dabei nicht unterschätzt werden. Meditieren zu lernen, Dankbarkeit in den Alltag zu integrieren und Entspannungsmethoden zu praktizieren, können wesentliche Schritte hin zu innerer Gelassenheit bedeuten, was Ängsten den Schrecken nimmt. 

Passende Seminare und Fachausbildungen

Valentin Fröhlich

Heilpraktiker für Psychotherapie mit Schwerpunkt Psychotraumatologie, Yogalehrer (u.a. Medical Yoga, Traumasensitives Yoga), Autor

kontakt@froehlich-leben.com

Weitere Artikel aus dieser Ausgabe

  1. 1
    NFP bei Zyklusstörungen

    Zyklusstörungen ganzheitlich betrachtet

    Naturheilkunde
  2. 2
    Herz unter Druck

    Zur Zeit von Paracelsus galt das Herz noch als der Sitz der Seele. Auch in unserer heutigen Zeit spricht der Volksmund von der „Verbundenheit des Herzens“ mit unseren Seelenzuständen. Dies lässt erahnen, dass eine Erkrankung des Herzens nie nur ein Defekt eines zentralen Organs ist. Aus den vielen Erscheinungen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sticht in diesem Sinne v. a. die arterielle Hypertonie hervor, der in der Naturheilpraxis bereits frühzeitig präventiv und später schulmedizinisch begleitend begegnet werden kann

    Naturheilkunde
  3. 4
    Hufrehe beim Pferd

    Schleichende Vergiftung beim Pferd – Hufrehe als Folge falscher Fütterung

    Tierheilkunde
  4. 5
    Osteopathie ist angekommen

    Von wegen alternativ – Osteopathie verbindet Schulmedizin und empirische Heilkunst

    Osteopathie
  5. 6
    Chronobiologische Ernährung – Teil 1

    Wussten Sie, dass wir mithilfe einer chronobiologischen Ernährung und der Epigenetik die Möglichkeit haben, die Macht der inneren Uhr optimal zu nutzen und selbst die Genaktivität zu regulieren?

    Naturheilkunde
  6. 7
    Hyperakusis

    Die Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis) ist eine Intoleranz gegenüber Umgebungsgeräuschen. Davon abzugrenzen sind die Misophonie als Hass auf bestimmte Geräusche und die Phonophobie als Angst vor bestimmten Geräuschen.

    Psychotherapie