Klassische Homöopathie – Ein Glücksfall in der Krise
Der Verlust des inneren Gleichgewichts kennzeichnet eine Krise. „Den Boden unter den Füßen verlieren“, sagt der Volksmund. Diese Situation ist der Gipfel eines Spannungsbogens, an dem sich die Betroffenen in einem sehr labilen psychischen Zustand befinden und sich nicht mehr in der Lage fühlen, Lebensumstände aus eigener Kraft zu bewältigen. Ein Bruch in der Normalität des Lebensverlaufs geht dem zuvor, etwa Krankheit, Unfall, Arbeitsplatzverlust, Trennung, Lebensphasenübergänge oder tiefgreifenden Veränderungen der Gewohnheiten. Einige Menschen stürzen während solcher Phasen in Zustände von Angst, Schock, Kummer und Isolation bis hin zur Depression. In dieser Notsituation sind Wahrnehmung und Problemlösungsfähigkeit eingeengt oder herabgesetzt. Die Lage erscheint den Betroffenen zunehmend bedrohlich.
Aktuell beschert uns COVID-19 nachhaltig schwierige Zeiten und bringt viele Menschen an ihre Grenzen. Zum Glück bietet die Homöopathie einige Möglichkeiten, um den Herausforderungen positiv zu begegnen.
Homöopathie hat auf Krisen eine Antwort
Aus nahezu 2500 Arzneien, hergestellt auf Basis von Mineralien, Pflanzen, Tieren und anderen Produkten, haben sich rund 20 Notfallmittel für die Bewältigung von Krisen herauskristallisiert. Die wichtigsten homöopathischen Arzneien sind:
Bei Trennung, Schock und emotionalen Ereignissen
Aconitum, Arnica, Belladonna, Carcinosinum,
Ignatia, Natrium muriaticum, Phosphoricum acidum, Staphysagria, Veratrum album
Wenn Eifersucht im Spiel ist
Apis, Hyoscyamus, Lachesis, Pulsatilla
Weitere Mittel
Mercurius, Opium, Platinum, Sulphur
Ziel der Homöopathie
Die zwingende Kraft der Veränderung, die durch die Krise wirkt, ermöglicht einen Neuanfang. Gerade solche Phasen bieten Chancen, um zu wachsen und Resilienz zu formen. Die Homöopathie begleitet diesen Prozess. Bemerkenswert ist, dass die Behandlung ohne bewusste Beeinflussung wirkt und dass unter der Therapie die Selbstheilungskräfte reguliert und harmonisiert werden können. In der Regel treten Erstreaktionen auf, die für den Patienten eventuell unangenehm sein können, aber notwendig sind, um alte unterdrückte Symptome und Verhaltensmuster verarbeiten zu können; erst dann darf Veränderung oder Heilung geschehen.
Suche nach dem Mittel der Wahl
Bei Geistes- und Gemütsproblemen, die typisch für eine Krise sind, sollte sich das passende Mittel nicht allein auf die psychische Symptomatik stützen, sondern auch körperliche Beschwerden mit einbeziehen.
Ein „komplettes Symptom“, das sowohl Ursache als auch Folgeerscheinungen psychisch und körperlich beschreibt, wäre die ideale Voraussetzung für eine treffende Arzneimittelwahl. Erstaunlicherweise gibt es Krankheitsfälle, bei denen speziell und manchmal ausschließlich das körperliche Krankheitszeichen den Hinweis auf die Traumatisierung und die passende Arznei gibt. Das nennt der Homöopath „Simile“; denn dann ist die Ähnlichkeit des homöopathischen Mittels dem Zustand und der Symptomatik des Patienten am größten. Es hat dann die beste Heilungschance.
Fallstudie
Die 35-jährige Laura kommt mit stechenden, unangenehmen Halsschmerzen in meine Praxis. Auffallend ist, dass die Schmerzen besser werden, wenn sie feste Nahrung schluckt. Paradox, denn bei dieser Erkrankung sollte das Gegenteil der Fall sein. Die Patientin beklagt sonst keine Unpässlichkeiten. Die genannten Beschwerden sind ein spezielles Leitsymptom von Ignatia, was ein wertvolles Indiz für diese Arznei darstellt. Ich verordne Ignatia C30, Dosierung: 2 Globuli unter der Zunge zergehen lassen. Innerhalb kurzer Zeit ist die Patientin schmerzfrei. Bei der Frage, ob ihr etwas Kummer mache, was sie bei der Anamnese vergessen habe zu erwähnen, fällt ihr ein, dass sie 2 Tage zuvor ihren ehemaligen Partner mit seiner neuen Familie gesehen hat. Dass er inzwischen verheiratet ist und ein Kind hat, verletzt Laura sehr, aber sie schluckt den emotionalen Schmerz wortwörtlich hinunter und lenkt sich mit Arbeit ab.
Zwar sind homöopathische Mittel nicht in der Lage, den Kummer zu nehmen, aber sie helfen, besser mit den Gegebenheiten zurechtzukommen. Zudem beeinflussen sie körperliche Symptome positiv, die sich nach einem erlebten emotionalen Schock einstellen.
Dosierung und Verordnung homöopathischer Mittel
Da die verwendeten Substanzen in Reinform zu starken Reaktionen führen können oder sogar giftig sind, müssen sie verdünnt werden. Als der Begründer der Homöopathie, der deutsche Arzt Samuel Hahnemann, feststellte, dass die Wirkung des Mittels besser war, nachdem es verdünnt und anschließend potenziert worden war (dynamisiert durch Verschütteln oder Verreiben), und sogar mit steigender Potenz tiefer und anhaltender wirkte, übertrug er diese Art der Herstellung auf sein gesamtes Therapiesystem.
Beispiele für Potenzen
• 1 Teil Ursubstanz, 9 Teile Verdünnung, verschüttelt = D1-Potenz
• 1 Teil D1-Potenz, 9 Teile Verdünnung,
verschüttelt = D2-Potenz
• 1 Teil Ursubstanz, 99 Teile Verdünnung, verschüttelt = C1-Potenz usw.
Wie genau die Mittel wirken, obwohl kein nachweisbarer Wirkstoff mehr enthalten ist, wird intensiv erforscht. Vermutet wird, dass durch das Dynamisieren die Information der Arznei auf das Verdünnungsmedium übertragen wird.
In der Homöopathie gibt es keine Standardbehandlung, alles ist individuell auf die Symptome und das Befinden des Patienten abgestimmt. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass ein Mittel, wenn es in einer niederen Potenz gut angenommen wird, z.B. als D6, auch in einer höheren Potenz, etwa als C30, gegeben werden kann. Häufige Wiederholungen sind zu unterlassen, da das Homöopathikum sonst eine Arzneimittelkrankheit auslösen kann, d.h. der Mensch entwickelt Symptome, die die Arznei ursprünglich in ihrem Mittelbild aufzeigt. Diese Wirkung ist nicht erwünscht. Deshalb sollte die Gabe entweder nur einmalig erfolgen oder eine Wiederholung erst dann einsetzen, wenn sich die Arzneiwirkung nach gutem Effekt erschöpft.
Die erste Gabe kann trocken erfolgen, d.h. man nimmt 3 Globuli und lässt diese unter der Zunge zergehen. Sollten weitere Anwendungen nötig sein, erfolgen diese in aufgelöster Form: 3 Globuli werden in ein Glas Wasser gegeben und nach dem Auflösen 10x verrührt. Davon trinkt man einen Schluck. Durch dieses Verrühren wird eine weitere Potenzierung erreicht. Die Häufigkeit der Mittelwiederholung ist abhängig vom Bedarf des Patienten. Welche Symptome zeigen sich und welche nicht mehr? Deswegen lässt man das Glas abgedeckt stehen für spätere Arzneigaben. Das Auflösen in Wasser reduziert auch die Gefahr einer Arzneimittelkrankheit und verbessert die Mittelwirkung. Schon Hahnemann sagte, man solle die Arzneigabe immer modifizieren!
Krisenmittel in der Praxis
Die nachfolgenden Arzneien kommen gehäuft in der homöopathischen Praxis vor und werden deshalb ausführlicher besprochen:
Aconitum
Der Eisenhut ist die Nummer 1 bei einem Unfall- oder Schockerlebnis. Die Arznei wirkt
bei reaktionsstarken Menschen. Alles kommt rasch und vergeht genauso schnell wieder. Beschwerden nach Schreck, Angst
und Angriffen. Die Symptome treten mit aller Heftigkeit auf. Der Betroffene reagiert mit Angst, Schlaflosigkeit,
Herzklopfen, Panik, Verzweiflung, großer Unruhe, Ungeduld, Durchfall, Erbrechen oder Magenbeschwerden.
Carcinosinum
Hier handelt es sich um eine Nosode aus „krankem“ (pathologischem) Material der
weiblichen Brust. Die Arzneiwahl ist dem erfahrenen Homöopathen vorbehalten, der sich in der chronischen
homöopathischen Behandlung gut auskennt. Die Heilsubstanz kann als interkurrentes oder als Konstitutionsmittel
verwendet werden. Es ist bei ständig wechselnden Zuständen und widersprüchlichen Symptomen angezeigt. Viele Anzeichen
ähneln dem Erscheinungsbild von AIDS, wie z.B. die Peridizität, hohes Fieber, geschwollene Drüsen, Abmagerung,
chronische, heftige Schlaflosigkeit und Diarrhoe.
Typische Carcinosinum-Patienten haben sehr wenig Selbstvertrauen. Sie fühlen sich beständig in einer Überforderungssituation. Obwohl sie die Fähigkeit hätten, sind sie nicht in der Lage, Aufgaben zu erfüllen, weil ihre Ansprüche zu hoch sind. Sie neigen zu Perfektionismus. Eine Krisensituation bringt diesen Typ schnell an seine Grenzen. Erfolg oder Misserfolg sind für ihn mit Achtung und Liebe bzw. Missachtung und Liebesentzug gekoppelt. Dies kann, muss aber nicht mit der Realität übereinstimmen. Nicht selten stammen solche Menschen aus sehr strengen, leistungsorientierten Elternhäusern. Die inneren Spannungen können zu schweren Schlafstörungen und in Folge zur Depressionen führen.
Carcinosinum hat eine große Wirktiefe, da es polymiasmatisch ist. Es deckt sowohl das psorische und das sykotische als auch das syphilitische und das tuberkulinische Miasma ab. Es gilt als Basismittel v.a. in einer Krise, wenn die Familienanamnese mit Diabetes oder Krebs vorbelastet ist.
Opium
Die Angstzustände durch Schock lassen nicht nach, obwohl das Ereignis schon eine Weile
zurückliegt. Es besteht ein Krampf oder eine Betäubung mit hochrotem Kopf. Der Patient wirkt wie gelähmt, gefühllos,
verharrt im Zustand der Benommenheit, beklagt sich über nichts, ist geistesabwesend. Das ist die Arzneifolge der Droge
Opium. Das Mittel wirkt gut bei Folgen von Schreck, Zorn, heftiger Kränkung mit starker Blutfülle des Kopfes.
Ignatia
Die Ignazbohne ist ein großes Kummermittel und hat schon viele Menschen trösten können,
die emotionale Verletzungen, innere Kränkung, Liebeskummer, verbissenen Ärger, den Tod eines Partners/Elternteils/
Kindes, den Schreck eines Verbrechens oder Unfalls erlebt haben. Der Betroffene reagiert mit stillem Kummer oder
Verlust der Selbstbeherrschung und Weinkrämpfen. Es bestehen rascher Stimmungswechsel und ausgeprägte emotionale
Labilität. Seelische Einflüsse führen rasch zu funktionellen körperlichen Symptomen. Häufig sind paradoxe Symptome
vorhanden, z.B. Magenschmerz und Brechreiz bessern sich durch Essen.
Natrium muriaticum
In der modernen Industriegesellschaft ist dieser Konstitutionstyp am
weitesten verbreitet. Kochsalz ist ein Spiegelbild der Unterdrückung emotionaler Schmerzen, die mit der
durchschnittlichen Erziehung in der heutigen Gesellschaft verbunden sind. Es vermag den inneren Schmerz und die
Verwundbarkeit gut zu verbergen, meidet die Gesellschaft und hasst Sympathie. Natrium-muriaticum-Patienten können
nicht weinen und sind unfähig, ihre Zuneigung zu zeigen. Ein plötzlicher Tod, eine Trennung oder Entfremdung von einem
geliebten Menschen kann der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und Depressionen auslöst. Natrium
muriaticum ist ein Mittel zur Behandlung von Stauungen aller Art: von Flüssigkeit, Tränen, Ärger, Trauer und der allzu
starken Bindung an geliebte Menschen. Loszulassen ist hier das Schwierigste, und das auf verschiedenen Ebenen, v.a.
bei einschneidenden Veränderungen der Lebensgewohnheiten, z.B. nach dem Verlust des Arbeitsplatzes.
Staphysagria
Das Stefanskraut ist das erste Mittel der Wahl nach Enttäuschung und Demütigung.
Körperliche oder psychische Beschwerden, wie z.B. Kopfschmerzen oder Wut, treten auf durch unterdrückten Zorn
(„Zeitbombe der Wut“), Entrüstung, erlittene Ungerechtigkeit, Kränkung und Kummer. Mögliche Ursachen dafür sind:
Autoritäre Eltern, auch Vorgesetzte bei der Arbeit, Abwertungen (verbal), Demütigungen und Strafen.
Staphysagria-Typen reagieren sehr empfindsam auf jede Form von Grobheit und bilden sich mitunter auch ein, man habe sie beleidigt. Nach einem unausgefochtenen Konflikt, wenn Zorn oder Hass unterdrückt wurden, kann der Betroffene nach einer Gabe Staphysagria einen heftigen Gefühlsausbruch bekommen. Der hinuntergeschluckte Zorn oder Kummer kann sich lösen. Danach geht es ihm besser.
Psychische Merkmale bei Staphysagria sind: Der Patient lebt im Außen, wirkt selbstbewusst, ist im Herzen aber schüchtern und sucht ständig nach Anerkennung. Er ist anderen gegenüber sehr geduldig und hilfsbereit, kennt kein „Nein“. Starkes Bewusstsein/Gefühl für Ehre und Würde. Er hat Angst, andere zu verletzen, und erwartet dieselbe Fairness auch von seinen Mitmenschen.
Pulsatilla
Der Charakter des Pulsatilla-Patienten ist sanft, nachgiebig, unentschlossen,
wechselhaft, weinerlich, gefühlsbetont und sentimental. Es besteht ein starkes Verlangen nach Gesellschaft. Er will,
dass man sich um ihn kümmert und ihn tröstet. Gerade Pulsatilla-Typen können durch die aktuelle Coronabedingte
Isolation depressive Beschwerden entwickeln: himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Die Stimmung wechselt wie das
Aprilwetter. Depressive Zustände können infolge von hormonellen Störungen der Ovarien und der Hypophyse verstärkt
auftreten. Regelstörungen und andere Beeinträchtigungen des weiblichen Geschlechtslebens kommen ebenfalls vor.
Angezeigt sind venöse Stauungen, Gelenkrheumatismus und Schnupfen. Auffällig ist, dass der Patient oft keinen Durst
verspürt und eine Unverträglichkeit bei fetthaltigen Speisen aufweist.
Fazit
Die Homöopathie in Krisenzeiten jeglicher Art ist eine sanfte, aber hochwirksame
Heilmethode. Indem Symptome und Befindlichkeitsstörungen nicht einfach unterdrückt werden, z.B. mit einem
Beruhigungsmittel, wird das Problem an der Wurzel gepackt. Denn durch die Homöopathie schalten sich die
Selbstheilungskräfte ein. Der Betroffene kann so gestärkt aus der Krise herausgehen. In Eigenregie eignen sich nur die
Potenzen D1 bis D12, alles andere gehört in die Hand von Experten.
Erika
Bernlöhr
Heilpraktikerin mit Schwerpunkt
Klassische Homöopathie in eigener Praxis in Mögglingen
erika.bernloehr@gmx.de
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