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Naturheilkunde
Lesezeit: 9 Minuten

Judasohren und andere Wunder

Heilpilze in unseren Wäldern

Die Mykotherapie, das Heilen mit Pilzen, ist seit jeher in zahlreichen Kulturen bekannt. Heute sind Pilzpräparate auch in Apotheken und Reformhäusern erhältlich. Ihre Einsatzgebiete umfassen Autoimmunerkrankungen, multiresistente Keime, Diabetes und andere „Geißeln der Menschheit“, denen die Medizin bisher nicht viel entgegenzusetzen hat.

Therapie aus dem Wald

Auch in unseren heimischen Wäldern wachsen Pilze mit Heilkraft (s. Tab.), meist sind sie sogar in unserer unmittelbaren Reichweite zu finden. Viele sind auch im Winter verfügbar, wenn sonst nichts wächst. So können wir uns sogar selbst mit der Kraft der Pilze versorgen.

Zwielichtige Wesen

Während in Asien das Wissen um die Heilkraft von Pilzen schon seit langer Zeit Einzug in die Medizin gehalten hat, wurden sie im mittelalterlichen Europa ins Reich der Hexerei verbannt. Bis heute werden sie hier eher misstrauisch beäugt. Kein Wunder – sie schießen quasi „über Nacht“ aus dem Boden, sind vergängliche Schattenwesen, die die Sonne scheuen, haben seltsame Formen und bisweilen eine schleimige Konsistenz. Zudem sind sie schwer zu identifizieren, denn ihr Aussehen kann abhängig von Standort und Wetter variieren. Obendrein haben einige Pilze eine aphrodisierende oder psychotrope Wirkung, andere sind sogar tödlich giftig.

Das Wissen um den therapeutischen Nutzen von Pilzen kehrt nun v.a. aus Asien zu uns zurück, wo sie seit Jahrtausenden ohne Unterbrechung angewendet und erforscht werden. Namen, wie „Pilz des ewigen Lebens“, „König der Pilze“ oder gar „Göttlicher Pilz der Unsterblichkeit“ sprechen für die große Verehrung, die man ihnen im Fernen Osten entgegenbringt.

Pilzheilkunde in der Forschung

Die mangelhafte Studienlage ist bislang der Hauptkritikpunkt an der Mykotherapie. Doch es wird viel geforscht. In den letzten 30 Jahren ging die Zahl der Studien steil nach oben, seit 2010 wurden weltweit tausende Forschungsarbeiten über das medizinische Potenzial makroskopisch sichtbarer Pilze veröffentlicht. Allein 2021 sind es Stand März schon 131.

Inzwischen gibt es auch viele klinische Studien, z.B. wurden 2019 1) bei schwangeren Frauen, die eine einfache Pilzdiät (100 g Pilze täglich) erhielten, signifikante Verbesserungen bei Präeklampsie und schwangerschaftsinduziertem Bluthochdruck erreicht.

Leider sind heimische Pilze, die im Handel nicht erhältlich sind, kaum im Fokus der Forschung. Hier sind wir auf Überlieferungen angewiesen.

Das Fleisch des Waldes

Dass Pilze arm an Nährstoffen seien, ist längst widerlegt. Gerade Austernseitlinge zeichnen sich durch einige Besonderheiten aus. Der Name „Kalbfleischpilz“ oder „Fleisch des Waldes“ deutet auf das fleischähnliche Mundgefühl und Aroma hin, das tatsächlich vom hohen Eiweißgehalt herrührt. Austernpilze bestehen in der Trockenmasse zu 25% aus Proteinen, sie können also – wenn man so will – durchaus als Fleischersatz dienen. Sie sind aber kein „Abklatsch“ von tierischem Eiweiß, sondern punkten sogar mit zwei entscheidenden Vorteilen: Sie sind purinarm (wichtig bei Gicht und Rheuma) und äußerst fettarm.

Die meisten anderen Pilze enthalten weniger Protein, das schwer zugänglich ist, weil es an das unverdauliche Chitin gebunden ist.

Nährstoffe in Pilzen

Die meisten Pilze bestehen – wie Pflanzen – zu annähernd 90% aus Wasser. Außerdem enthalten sie kaum verdauliche Kohlenhydrate und Fette nur in geringen Mengen. Kein Wunder, dass sie lange als nährstoffarm galten.

Dabei glänzen sie mit ihrem Gehalt an Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und sekundären Pilzstoffen; letztere werden eher bei den Wirkstoffen angesiedelt als bei
den Nährstoffen. Die bioaktiven Substanzen der Pilze sind absolut einzigartig in unserem Nahrungsspektrum.

Pilze sind gute Quellen für Vitamine der B- und D-Gruppe. Vitamin A ist in einigen kräftig gelb gefärbten Arten vertreten, z.B. im Pfifferling und im Schwefelporling. Hingegen ist Vitamin C in Pilzen Mangelware; höchstens der Schopftintling enthält es in nennenswerter Menge. Nicht umsonst hat aber die Kombination mit der Vitamin-C-reichen Petersilie oder mit wilden Grünkräutern Tradition.

B-Familie für Muskeln und Nerven

Bei den B-Vitaminen können Pilze mit den besten Gemüse- und Nusssorten mithalten. Gerade der Austernseitling fällt in die Kategorie „besonders wertvoll“. Er kann es locker mit Fleisch aufnehmen, sogar mit den VitaminB-reichen Innereien, die wegen ihrer hohen Purin-Gehalte bei Nierenschwäche gemieden werden sollten.

Vegane Vitamin-B12-Quelle?

Pilze enthalten auch Vitamin B12, jenen Nährstoff, der bei veganer Lebensweise der größte Knackpunkt ist, denn dieses Vitamin kommt nur in tierischen Lebensmitteln vor. Leider können auch Pilze kaum Abhilfe schaffen: Sie enthalten zwar Vitamin B12, jedoch nur in geringen Mengen und mit fraglicher biologischer Verfügbarkeit.

Pilze und Vitamin D

Obwohl das VitaminD-Hormon auch vom Körper selbst gebildet wird, ist die Versorgungslage in der Bevölkerung nicht zufriedenstellend. Vermutlich ist aufgrund mangelnder Tageslichtdosis die körpereigene Synthese zu gering.

Austernseitlinge – sie zählen zu den am besten erforschten Pilzen – enthalten mit 65-214 µg reichlich Vitamin D. Manche Züchter bestrahlen die Pilze mit UV-Licht, um den VitaminD-Gehalt weiter zu steigern. Tatsächlich erhöht sich dieser schon nach wenigen Minuten deutlich. Sogar nach dem Sammeln können Pilze das Vitamin noch anreichern! Lassen Sie daher Ihre Pilz-Ausbeute auf einer sonnigen Fensterbank trocknen.

Typische Wirkstoffe von Pilzen

Pilze sind keine Pflanzen, sie unterscheiden sich von ihnen in mancher Hinsicht sogar stärker als von Tieren. Ihre Nährstoffe werden von unserem Organismus daher gut „verstanden“. Viele Inhaltsstoffe zeigen in entsprechender Dosierung pharmakologische Wirkung:

Terpene sind in harten Baumpilzen vorhanden. In Pflanzen sind sie Bestandteil ätherischer Öle und wirken leberstärkend, blutdrucksenkend, cholesterinsenkend, entzündungshemmend, antibakteriell, antiviral, antioxidativ.

Chitin ist der Zellwand-Baustoff von Pilzen und kann eine cholesterinsenkende bzw. -regulierende, leberstimulierende, Schwermetall ausleitende, tumorhemmende Wirkung haben und bei Autoimmunerkrankungen unterstützen.

β-Glucane sind funktionelle Ballaststoffe. Sie können bei Krebs die Gewebsneubildung hemmen oder wirken antibiotisch, wie das Pleuran aus dem Austernseitling. Weiter zeichnen sie sich durch entzündungshemmende, immunmodulierende, schmerzstillende, tumorhemmende Effekte aus, und sie sind für die Fresszellen des Immunsystems wichtig.

Enzyme unterstützen die wirksamsten Entgiftungssysteme des Körpers, z.B. des Glutathion-Systems.

Lektine können in größeren Mengen gesundheitsschädlich sein, in kleinen Dosen braucht sie der Körper aber als Antibiotikum und für die Zellkommunikation.

Antidepressiva, z.B. das Phenelzin der Champignons, erhöhen die Lebensdauer des im Blut zirkulierenden Serotonins, das für emotionale Stabilität benötigt wird.

Must have: Beta-Glucane

sind jene bioaktiven Kohlenhydrate, denen Hafer und Gerste ihre wohltuende Wirkung auf Verdauung und Gelenke verdanken. Dies gilt auch für Pilz-β-Glucane. Darüber hinaus können sie unser Immunsystem positiv stimulieren. Noch ein großes Plus: Sie liegen nicht im Verbund mit verdaulichen Kohlenhydraten vor. Dies ist z.B. von Bedeutung, wenn in der Tumorbekämpfung eine ketogene Diät eingehalten werden soll.

© ExQuisine I adobe.stock.comPulver oder Extrakt?

Wenn man Pilze nicht selbst sammelt und bearbeitet, bekommt man Pilzpräparate in Apotheken, Drogerien oder im Onlinehandel. Üblich sind Kapseln, die Pulver vom ganzen Pilz enthalten, oder Trockenextrakt aus Heißextraktion. Aus der Volksheilkunde ist hauptsächlich Heißextraktion überliefert. Dies bedeutet, dass die zerkleinerten Pilze gekocht werden, mitunter sogar sehr lange. Bestimmte Wirkstoffe (z.B. β-Glucane) werden dabei angereichert, andere (Chitin, Enzyme, Glykoproteine) zerstört oder verworfen.

So haben beide Darreichungsformen ihre Berechtigung: Während das Pulver vom ganzen Pilz vorbeugend oder für äußerliche Anwendungen interessant ist, sind zur innerlichen Anwendung Extrakte gut erforscht, historisch belegt und reich an Wirkstoffen. Für den Hausgebrauch kann man auch Kaltextrakte mit Alkohol, Öl oder Essig ansetzen.

Pilzporträt Judasohr

Das Judasohr (Auricularia auricula-judae) ist der „Cousin“ der
chinesischen Mu Err-Pilze (Auricularia polytricha). Man kennt sie aus der chinesischen Küche. Beide Arten sind in ihren Eigenschaften vergleichbar. Der Gattungsname stammt vom lateinischen Wort „Auricula auris“ für „Ohrmuschel“ und beschreibt das Aussehen des Pilzes. Der deutsche Name erinnert an den Apostel Judas, der sich – des Verrats überführt – an einem Holunderbaum erhängt haben soll. Was zweifelhaft ist, jedoch besteht ein Bezug zwischen Pilz und Holunder, denn traditionell wird das Judasohr nur vom Schwarzen Holunder gesammelt. Mancherorts wird er als „Hollerschwamm“ bezeichnet.

Jede Pilzart ist interessant und speziell, doch das Judasohr hat ganz besondere Vorzüge. Der Pilz fruchtet nämlich auch im Winter und mag feuchte Wetterlagen.

Selbst wenn er Holunderbüsche bevorzugt, ist seit einiger Zeit eine Ausdehnung auf andere Laubgehölze zu beobachten, v.a. auf Buchen, Erlen und Robinien. Allerdings nehmen Baumpilze Substanzen aus den Wirtsbäumen auf. Bei der giftigen Robinie wäre die Wirkung daher ungewiss. Insofern bitte aufpassen.

Wirkung des Judasohrs

Als Heilpilz ist das Judasohr ein Allrounder. Eine im September 2020 erschienene Studie 2) untermauert erneut seine antibakterielle Wirkung. Seine besondere Stärke ist die Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes, der Pilz wirkt gerinnungshemmend.

Damit sind wir bei den Kontraindikationen: Bei Einnahme von Blutverdünnungsmitteln (Marcumar, Rosenwurz/Rhodiola u.a.) darf er nicht kurmäßig angewendet werden. Ebensowenig bei Kinderwunsch, da er die Einnistung des befruchteten Eies erschwert.

Effekte des Judasohres

  • blutgerinnungshemmend
  • durchblutungsfördernd
  • blutdrucksenkend (wenn erhöht)
  • blutzuckersenkend (wenn erhöht)
  • cholesterinsenkend (wenn erhöht)
  • tumorhemmend
  • antimetastatisch (hemmt die Einnistung von Tumorzellen)
  • antioxidativ
  • entzündungshemmend
  • wundheilungsfördernd

Einsatzgebiete

  • Schlaganfallprophylaxe
  • Diabetes Typ 2
  • Tinnitus
  • Migräne
  • Krampfadern
  • Muskelkrämpfe
  • Rückenschmerzen
  • Schmerzen des Bewegungsapparats
  • Hämorrhoiden
  • als Tonikum (Stärkungsmittel)

Zum Verfeinern von Speisen

Judasohren sind interessante Speisepilze: Sie schmecken besser als man meinen könnte. Einfach in feine Streifen schneiden und dekorativ über den Salat streuen, unter Nudeln mischen oder in Aufstriche mixen. Wenn sie von am Boden liegenden Ästen gesammelt wurden, sollte man sie unbedingt gut waschen und heiß überbrühen.

Pilzverliebt

Wer sich für Pilze interessiert, läuft Gefahr, nicht mehr von ihnen loszukommen. Sie gehören zu den Phänomenen der Natur, über die man endlos staunen kann – sei es die Vielfalt der Formen und Farben, ihre verblüffenden Überlebensstrategien oder ihr Auftauchen an den unerwartetsten Orten in der Menschheitsgeschichte. Umso mehr fühlt man sich beschenkt mit jedem „Schwammerl“ (Dialektbegriff für Großpilz), mit dem man etwas anfangen kann, sei es als Mahlzeit, zur Krankheitsvorbeugung, als Heilmittel oder auch nur zum Bestaunen.

Klinische Studien
1)Sun, L., & Niu, Z.: A mushroom diet reduced the risk of pregnancy-induced hypertension and macrosomia: a randomized clinical trial. Food & Nutrition Research, 64.
https://doi.org/10.29219/fnr.v64.4451
2)Oli, A.N., Edeh, P.A., Al-Mosawi, R.M., Mbachu, N.A., Al-Dahmoshi, H.O.M., Al-Khafaji, N.S.K., Ekuma, U.O., Okezie, U.M., Saki, M.: Evaluation of the phytoconstituents of Auricularia auricula-judae mushroom and antimicrobial activity of its protein extract, European Journal of Integrative Medicine, 38.
https://doi.org/10.1016/j.eujim.2020.101176

Gerit Fischer

 

 

Buch-Tipp
Gerit Fischer:
Heimische Heil- und Vitalpilze
– 20 Pilze für Küche und Hausapotheke.
Mankau Verlag


Fotos: © Ivan / adobe.stock.com, © ExQuisine / adobe.stock.com, © jeremy / adobe.stock.com 

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