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Psychotherapie
Lesezeit: 7 Minuten

Fallstudie aus der psychologischen Praxis: Auditive EMDR-Therapie bei Entwicklungsstörung

Patient: 11-jähriger Schüler

© SergiyN - Fotolia.comImmer häufiger zeigen Kinder und Jugendliche Entwicklungsstörungen. Die damit verbundenen Auswirkungen führen zu schlechten Schulleistungen bis hin zu Verweigerung und Schulversagen, schlechtem Selbstwertgefühl und sozialen Problemen. Umso wichtiger ist eine gezielte Therapie.

Anamnese

Klaus zeigt schon von klein auf Auffälligkeiten, die sich später v.a. im Grenzbereich zu Autismus, Savant-Syndrom, Hochbegabung und ADHS herausstellen. Er hat bereits erfolgreich Logotherapie und tiefensensibilisierende Gruppentherapie hinter sich und wird dauerhaft ganzheitlich spirituelltherapeutisch unterstützt.

Seit der fünften Klasse zeigen sich erhebliche Schwierigkeiten mit den Sprachen Deutsch und Englisch. Insbesondere kann Klaus sein Wissen um richtige Rechtschreibung in Diktaten und eigenen Texten nicht umsetzen und ihm gehen seine Lese- und Rechtschreibfähigkeiten sowie gelernte Vokabeln immer wieder verloren. Das ist umso erstaunlicher, als dass seine Sprachbegabung gleichzeitig überdurchschnittlich ist und er mit außergewöhnlich gutem Langzeitgedächtnis Sachinhalte sofort dauerhaft behält.

Eigentlich will Klaus später sein Spezialinteresse Elektronik studieren, aber aufgrund seiner Schwierigkeiten mit den Sprachen würde er trotz besonders hoher Intelligenz keinen entsprechenden Schulabschluss schaffen.

Konventionelle Diagnostik

Klaus zeigt in so gut wie allen konventionellen Tests Auffälligkeiten, ohne aber die Kriterien für eine Diagnose vollständig zu erfüllen.

Für Autismus erreicht er die Schwellenwerte im ADOS-Test lediglich in zwei von drei Bereichen und im Umgang mit Gefühlen zeigt er zwar deutliche Schwächen, ist selbst aber gefühlsmäßig schwingungsfähig. Beim TEA-Ch-Test für ADHS hat Klaus nur in einem von sieben Untertests Schwierigkeiten mit der selektiven Aufmerksamkeit. Lediglich aufgrund des reizoffenen, unruhigen, ablenkbaren klinischen Eindrucks bei der Belastung durch die Tests wird ein Verdacht auf ADHS gestellt.

Beim HAWIK-IV-Intelligenztest liegt sein logisches Denken im Grenzbereich zu Hochbegabung und eine besondere Stärke hat er beim Mosaiktest. Auffallend niedrig ist seine im Vergleich dazu nur durchschnittliche Verarbeitungsgeschwindigkeit. Ein Verdacht auf auditive Wahrnehmungsstörung bestätigt sich durch einen Pädaudiologen nicht, aber es werden eine reduzierte auditive Kurzzeitspeicherung und Selektionsfehler im Störgeräusch festgestellt.

Alles in allem können die Tests Klaus‘ besondere Schwierigkeiten mit den Sprachen nicht erklären. Es wird ihm eine entwicklungsfördernde Psychotherapie empfohlen, um seiner Tendenz, sich auf Spezialinteressen einzuengen, entgegenzuwirken. Für seine Schulschwierigkeiten mit den Sprachen gibt es aber keine konventionelle Lösung.

Alternative Diagnostik

Bei einer symptomorientierten ganzheitlichen Betrachtungsweise fallen v.a. folgende persönlichkeitsübergreifende Merkmale auf: Bei Klaus dominiert zunächst bis ins Körperliche hinein die für die rechte Körperseite zuständige linke Gehirnhälfte, was u.a. über jahrelanges gezieltes Training seiner linken Körperseite schließlich vollständig ausgeglichen wurde. Inzwischen scheinen grundsätzlich alle Fähigkeiten beider Gehirnhälften vorhanden zu sein, aber der Zugang zu ihnen hat in manchen Bereichen einen „Wackelkontakt“.

Zusätzlich weicht seine Art der Informationsaufnahme und -verarbeitung völlig von der anderer Menschen ab und er hat besondere Schwierigkeiten mit Flexibilität und Komplexität. Insgesamt macht Klaus den Eindruck, als wenn die Verbindungswege in seinem Gehirn nicht so wie bei anderen Menschen funktionieren. Das erklärt auch seine im Vergleich zu seiner hohen Intelligenz nur durchschnittliche Verarbeitungsgeschwindigkeit im Intelligenztest.

Da Klaus außerdem nur einen verminderten Zugang zu seinen und anderer Gefühle hat, gibt es gewisse Parallelen zu in der Erinnerung fraktionierten und dissoziierten Traumapatienten. Bei denen ist die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) besonders erfolgreich.

Therapie

Zentrales Element der EMDR-Methode ist die auf eine Vorbereitung folgende bilaterale Stimulierung des Patienten, meistens über die Augen. Verschüttete und verdrängte Gefühle werden dadurch wieder fühlbar gemacht, verarbeitet und losgelassen. Bei Klaus jedoch soll v.a. die Verbindung seiner beiden Gehirnhälften durch die bilaterale Stimulierung angeregt werden. Dazu ist keine kurz- oder mittelfristige EMDR-Therapie mit längeren, Gefühle verarbeitenden Einzelsitzungen notwendig, sondern eine dauerhafte bilaterale Stimulierung seines Gehirns während der Gehirnumbildungsprozesse in der Pubertät.

Da bei Klaus die auditive Wahrnehmung seine anderen Wahrnehmungsformen überlagert, wird schwerpunktmäßig eine auditive EMDR-Therapie gewählt, bei der Klaus per Kopfhörer eine bilateral stimulierende CD* hört. Das hat gegenüber der visuellen Stimulierung außerdem den praktischen Vorteil, dass er EMDR wie eine Brille oder Zahnspange als Hilfsmittel während anderer Tätigkeiten hören kann.

Die Therapie beginnt mit zehn Minuten abends vor dem Einschlafen, sodass mögliche gefühlsmäßige Auswirkungen besonders gut in der Nacht verarbeitet werden können. Bereits nach sechs Minuten hat Klaus am ersten Abend Kopfschmerzen, möchte die Zeit aber nicht verkürzen, sondern mit zehn Minuten fortsetzen.

Im Laufe von einer Woche geben sich die Kopfschmerzen und er nimmt bilaterale Fußbewegungen hinzu. Inzwischen ist er etwas genervt und gelangweilt und würde aufhören, wenn er nicht die Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Schulsituation hätte. Nach neun Tagen kommt ein kurzer Durchgang verschiedener Augenbewegungen in Koordination mit den Füßen hinzu. Das ist sehr fordernd für ihn, seine Augen machen Sprünge und seine Füße vergisst er. Erst nach Wochen regelmäßigen eigenen Übens gelingt es ihm.

Im Verlauf von etwa zweieinhalb Monaten wird die auditive bilaterale Stimulierung nachmittags auf sprachliche Tätigkeiten wie Vokabeln lernen und lesen ausgeweitet. Dabei wird seine Kopfschmerzgrenze allmählich erweitert. Ab und zu zeigt er Widerstand gegen die bilaterale Stimulierung, aber hauptsächlich verarbeitet er über Müdigkeit und geht freiwillig regelmäßig ungewöhnlich früh ins Bett. Allerdings ist er in der Zeit auch erkältungsmäßig fast durchgängig angeschlagen, während viele Lehrer und Klassenkameraden ebenfalls krank sind.

Nach diesen zweieinhalb Monaten kommt es zu ersten Veränderungen in seinen psychischen Strukturen, die sich über die Dauer von etwa einer Woche in heftigen Konflikten bei der parallelen Entrümpelung seines Zimmers ausdrücken. Nach diesem Durchbruch wird er in seiner Persönlichkeit für längere Zeit besonders liebevoll und weich und entwickelt ein spielerisches Interesse an Sprachen. Er kann nunmehr unbegrenzt ohne Kopfschmerzen oder andere Effekte seine bilateral stimulierende CD hören.

Nach etwa drei Monaten hört er seine EMDR-CD in allen sprachlichen Fächern auch in der Schule, weiterhin bei den Hausaufgaben und abends vor dem Einschlafen, ergänzt um die Augen- und Fuß-Übungen. An lernfreien Tagen wird ein Minimum von zwei bis drei Mal je eine dreiviertel Stunde CD hören pro Tag aufrecht erhalten.

Der Therapieerfolg ist bereits kurzfristig geradezu erstaunlich. Klaus‘ motorische Unruhe in den sprachlichen Fächern hat sich gegeben, seine Aufmerksamkeitsfähigkeit hat sich erhöht, seine Rechtschreibung hat sich – auch übertragen auf die naturwissenschaftlichen Fächer ohne CD hören – sprunghaft verbessert und seine sprachliche Flexibilität ist gestiegen. Er fühlt sich auch selbst besser, sodass er seine CD freiwillig hört und für die Schule nie vergisst.

Außerdem zeigt Klaus eine vorher nicht vorhandene Bereitschaft, inhaltliche Verknüpfungen in den Sprachen herzustellen, die sich aber nicht von alleine ergeben, sondern zusätzlich zum auditiven EMDR therapeutisch angeleitet werden. Die auditive bilaterale Stimulierung bietet daher die Basis für weitere lerntherapeutische Maßnahmen bei etwas abnehmendem Lernwiderstand.

Klaus‘ Persönlichkeit verliert an Starrheit und wirkt anpassungsfähiger und ausgeglichener, was eine Kombination aus direktem Effekt des auditiven EMDR und indirekter Folge seiner verbesserten Schulsituation sein dürfte.

Kurzfristige Erfolge zeigen sich also hauptsächlich bei der Rechtschreibung, sprachlichen Konzentrationsfähigkeit und Flexibilität, mittelfristige Erfolge deuten sich als positive Persönlichkeitsentwicklung an und langfristig wird eine günstige Umstrukturierung seines Gehirns während der Pubertät erhofft.

Ausblick

Klaus ist zunächst nur ein Einzelfall, aber aufgrund seiner Nähe zu Autismus, Savant-Syndrom, Hochbegabung und ADHS besteht die begründete Hoffnung, dass eine auditive Langzeit-EMDR-Therapie auch bei Kindern mit ähnlichen Schwierigkeiten gute Ergebnisse erzielen kann. Ein erweitertes Ausprobieren in diese Richtung kann daher vielleicht ungeahnte therapeutische Möglichkeiten eröffnen.

Dr. rer. pol. Ayleen Scheffler-Hadenfeldt
Dr. rer. pol. Ayleen Scheffler-Hadenfeldt
Heilpraktikerin für Psychotherapie
Dr.S-H@web.de

*Quelle: Up Level, EMDR-Inspired, Stable bilateral soundspace, Robert A. Yourell´s, Sounds for Inner Space series
Ein breiter Orchesterklang mit zarter heller Glocke wird durchgängig gleichbleibend, ohne Melodie oder Rhythmus, sehr schnell abwechselnd jeweils mit nur einem Ohr gehört. Das Gehirn bekommt dadurch in sehr schnellem Wechsel jeweils auditive Impulse vom rechten und linken Ohr.

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