Pflanzenmärchen – Teil 1
Teil 1 Der Löwenzahn und das Kohlenkind
In dieser Serie über Pflanzenmärchen werden die beschriebenen Pflanzen über Inhaltsstoffe und biochemische Wirkungen hinausgehend näher beleuchtet. In den kurzen Geschichten haben sie einen Charakter, ein Wesen. Sie sind Ratgeber, Heiler und Verbündete. Für die Heldinnen und Helden geht es auf ihrem Weg um Veränderung, Entwicklung und Gesundung. Die Unterstützung, die sie während ihrer Abenteuer von den Pflanzen erfahren, ist ein wesentliches Merkmal der Märchen.
Hintergrund
Die Geschichten zeigen Archetypen, die Urbilder des menschlichen Seins, und sind ein Spiegel unserer Seele. Sie vermitteln uns Wahrheiten, die wir nicht lernen müssen. Wir brauchen sie nur aufzunehmen und uns von ihnen berühren zu lassen.
Die Märchen wirken mit ihrer Bildsprache heilend auf uns. Es sind Geschichten, in denen wir uns wiederfinden und die den höheren Aspekt unseres Seins einbeziehen, wie er z.B. in der Homöopathie oder bei Bach-Blüten eine Rolle spielt. Nebenbei erfahren wir auf der Verstandesebene noch wissenswerte Details über die Pflanzen.
Vermittlung von Botschaften
Es geht immer um die uralte Frage: Wie funktioniert Heilung? Bis heute gibt es keine allumfassende und allgemeingültige Antwort darauf, aber viele Erklärungsversuche.
Nehmen wir z. B. die moderne Medizin. Ohne Zweifel bringt sie große Erfolge hervor. Medizinische Forschung und Behandlungsmethoden werden immer besser. Viele Patienten verdanken der modernen Medizin ihr Leben. Doch es gibt noch eine andere Seite des Lebens, jenseits unseres rationalen Denkens. Es sind die seelischen Prozesse, auf die wir häufig erst aufmerksam werden, wenn die moderne Medizin an ihre Grenzen gelangt. Unsere seelischen Prozesse und Entwicklungen abzubilden, genau hier liegt die Absicht der Pflanzenmärchen.
Die Geschichten beruhen auf meinen persönlichen Begegnungen und Erfahrungen mit den Pflanzen. Sie entstanden auf Wanderungen und in meditativen Zuständen. In gewisser Weise sind sie zu mir gekommen. Durch meine Ausbildung zum Diplom-Biologen wurde ich zunächst von der wissenschaftlichen Seite geprägt. Die Hinwendung zum seelisch-geistigen Aspekt kam erst später, interessanterweise durch meine Leidenschaft zur Pflanzenfotografie. Fotografierte ich zu Beginn Pflanzen für Bestimmungsbücher, wurde die Fotografie bald eine Möglichkeit für mich, das Wesen der Pflanzen abzubilden. Im Folgenden erfahren wir mehr über die Essenz des Löwenzahns.
Der Löwenzahn – Das Märchen vom Kohlenkind
Es war einmal ein Köhlerehepaar, das lebte im tiefen Wald. Tagein, tagaus gingen sie ihrem Handwerk nach. Es war ein schweres Handwerk, das nur wenig Lohn einbrachte. Es kam, dass sie im Laufe der Jahre immer unzufriedener wurden. Eines Tages hatte die Köhlerfrau eine freudige Nachricht für ihren Mann: Sie war schwanger. So freuten sie sich trotz all ihrer Unzufriedenheit ein wenig.
Doch als das Kind, ein Junge, geboren war, wurde ihr Alltag noch beschwerlicher. Jetzt mussten sie neben der schweren Köhlerarbeit noch ein Kind versorgen. Schon bald hatten sie keine Zeit mehr für das Kind, und ihre Liebe versiegte. Weil sie sehr einsam lebten und sonst niemand hatten, gaben sie all ihre Unzufriedenheit an das Kind weiter.
Vom inneren und äußeren Schmutz
Zuerst ging alles gut und die Eltern verspürten sogar etwas Erleichterung, denn da war ja jetzt jemand, an den sie all ihre Unzufriedenheit, ihren Ärger und ihre Ängste abgeben konnten. Aber dann geschah etwas Seltsames: Die Haut des Kindes begann sich zu verfärben, sie bekam einen Grauschleier. Zunächst schimpfte die Mutter mit dem Jungen, er solle sich besser waschen. Doch schon bald wurde klar, dass sich der Grauschleier mit Waschen nicht entfernen ließ. Im Laufe der Jahre wurde die Haut des Jungen schmutziggrau – so, als hätte er sich in Kohle gewälzt.
Der Junge wurde immer trauriger und einsamer, denn kein anderes Kind wollte mit ihm spielen. Nur in der Natur, im Wald oder auf einer Blumenwiese spürte er noch etwas Glück und Zufriedenheit. Häufig spielte er mit Stöcken wilde Schwertkämpfe gegen unsichtbare Gegner oder schnitzte aus Holzstücken Figuren. Meist schnitzte er Familien, glückliche Familien – Vater, Mutter und Kind – das waren seine Lieblingsmotive. Wenn er die Figuren fertig hatte, spielte er ein paar Tage mit ihnen. Spielte, wie die Mutter das Kind liebevoll in den Arm nahm und tröstete, wenn es sich weh getan hatte, oder wie der Vater das Kind lobte.
Das half ihm etwas, mit seinem Schmerz umzugehen. Eigentlich wusste er, wie es in einer glücklichen Familie zuging, doch im echten Leben war es leider ganz anders.
Eines Tages war er an seinem Lieblingsplatz, einer Blumenwiese im Wald. Es war April und die Wiese war gelb von den vielen Löwenzahnblüten. Zuerst schnitzte er einige Zeit, dann legte er sich in die Wiese und schaute den Insekten zu. Bienen flogen von Blüte zu Blüte und sammelten Nektar ein, Käfer kletterten an einem Grashalm empor, Grillen zirpten leise. Alles war so ruhig und friedlich.
Der Traum
Bald fiel er in einen Schlaf und träumte. Im Traum sah er von oben auf seinen Körper hinab, sah, wie er selbst schlafend in der Wiese lag. Zuerst konnte er nicht verstehen, was dies bedeuten sollte, doch dann hörte er eine Stimme zu ihm sprechen: „Schau hin, schau einfach nur hin.“ So schaute er auf den Jungen hinunter, der schlafend im Gras der Wiese lag. Sah, wie sich der Brustkorb des Jungen sanft hob und senkte, sah den friedlichen Ausdruck in seinem Gesicht, sah das strahlende Gelb der vielen Löwenzahnblüten, die den Jungen umgaben.
Dann veränderte sich sein Sehen. Je länger er schaute, umso mehr wandte sich sein Blick ab von den Dingen im Vordergrund. Seine Augen entspannten sich, seine Pupillen weiteten sich, sein Blick wurde unschärfer. Es war, als schaue er durch die Dinge hindurch. Die Details im Vordergrund verschwammen und er blickte auf die Dinge dahinter. Jetzt sah er nicht nur die schmutziggraue Haut des Jungen, er spürte auch die Not und das Leid dieses Jungen, er spürte seine Traurigkeit. Je länger er auf den Jungen blickte, desto trauriger wurde er. Tränen liefen ihm über die Wangen. Es waren viele Tränen, die er vergoss. Dann geschah etwas Verblüffendes: Als er sich über den Jungen beugte, fielen einige Tränen auf dessen Gesicht. Und an den Stellen, an denen die Tränen die Haut berührten, wurde die Haut wieder heller. Es dauerte einen Moment, bis er verstand: „Die Tränen bringen Heilung.“
Dann hörte er wieder die Stimme, die zu ihm sprach: „Ja, deine Tränen sind der erste Schritt zur Heilung. Doch du musst noch einen weiteren Schritt gehen. Dabei hilft dir die Pflanze, die auf der Wiese wächst. Schau, wie ihre Blüten die Wiese in ein gelbes Farbenmeer tauchen. Nutze den Löwenzahn, er wird dir helfen, den Schmutz, der sich in dir angesammelt hat, auszuleiten und die Verletzungen zu heilen. Er gibt dir Kraft und Stärke, um wieder hinzuschauen. Er stärkt deinen Willen und deine Tatkraft, um die Dinge anzugehen, die du so lange aufgeschoben hast.“ „Wie soll ich ihn nutzen?“, fragte der Junge. Die Stimme antwortete:
„Es gibt viele Möglichkeiten: Trinke einen Tee aus seinen Blüten, Blättern oder Wurzeln. Bereite einen Salat von seinen Blättern. Spüre seine Blätter und Blüten in deinen Händen. Beobachte die Insekten, die ihn besuchen. Kaue einen Blütenstängel. Male ein Bild von ihm. Sprich mit ihm oder puste seine Samen in die Welt. Es ist ganz egal, wie du es tust: Nimm Verbindung mit ihm auf und liebe ihn. Er wird dir helfen.“
Die Heilung
Als der Junge aus seinem Traum erwachte, spürte er eine tiefe Zufriedenheit und Zuversicht. Und nein, es war nicht einfach. Seine Eltern waren wie sie waren. Gefangen in ihrer eigenen Not, gefangen in ihrer eigenen Blindheit. Doch mit Hilfe des Löwenzahns heilte der Junge Stück für Stück seine Welt. Seine Haut wurde wieder hell. Er fand Freunde und machte eine Lehre bei einem Holzschnitzer.
Das Verblüffendste war: So wie früher die Unzufriedenheit, der Ärger und der Schmerz seiner Eltern auf ihn abgefärbt hatten, so färbten jetzt seine Liebe, Zuversicht und Willenskraft auf seine Eltern ab und halfen ihnen, etwas mehr von dem zu werden, was alle Eltern sein sollten: liebevoll.
Erläuterung zum Löwenzahn
Jedes Frühjahr, wenn der Löwenzahn beginnt, seine Blüten zum Himmel zu strecken und die Wiesen gelb zu färben, wird deutlich, wie weit er verbreitet ist. Nicht nur auf Wiesen ist er zu finden, auch am Wegrand oder in Mauerritzen. Mit seinem Wachstum selbst an den unwirtlichsten Stellen zeigt er uns seine Zähigkeit und Durchsetzungskraft. Auf körperlicher Ebene regt er die Nieren an, stärkt Leber und Galle, hilft uns, angefallene Stoffwechselschlacken auszuscheiden. Auf psychischer Ebene unterstützt er uns, Dinge anzugehen, die wir lange, häufig zu lange, aufgeschoben haben.
Er schenkt uns Willen und Selbstbewusstsein, um die Initiative zu ergreifen.
Fazit und Ausblick
Für mich geht es immer um die Dualität von rationalem, verstandesmäßigem Wissen und unserer häufig unbewussten seelisch-geistigen Seite. Beide sind existent, beide sind wichtig, beide wollen gelebt werden. In der nächsten Folge erkunden wir dieses Wechselspiel mit einem Pflanzenmärchen über das Mädesüß.
Buch-Tipp
Roland Szabo
Wenn Pflanzen unsere Seele berühren
Berührende Geschichten vom heilenden Wesen der
Pflanzen
Szabo Verlag
Roland
Szabo
Diplom-Biologe, Pflanzenfotograf und Buchautor mit Schwerpunkten Heilpflanzen und homöopathische
Pflanzen
info@szabo-verlag.de
Foto: © alenalihacheva / adobe.stock.com
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