Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis
Julia, 35 Jahre alt und Mutter eines 2-jährigen Kindes, kommt zusammen mit ihrem Mann zum Erstgespräch, während dem sie mir unter Tränen schildert, dass sie enormen Druck von außen erfahre, weil sie ein weiteres Kind bekommen solle. In wenigen Wochen feiere ihr Vater seinen Geburtstag mit einem großen Fest. Seit ihr Bruder öffentlich verkündet habe, dass ein zweites Kind unterwegs sei, seien die Nachfragen drängender geworden. Das Unverständnis darüber, warum sie kein weiteres Kind plane, würde wachsen. Dabei seien sich ihr Mann und sie nicht sicher, ob sie ein zweites bekommen möchten. Für sie fühle sich ihr Leben mit Kleinkind, Erwerbstätigkeit und persönlichem Freiraum sehr stimmig an.
ANAMNESE
Julia wächst mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder auf, der als Baby über Monate viel weint und schreit. Ihre Eltern, v. a. die Mutter, sind darüber sehr verzweifelt und wissen sich nicht zu helfen. Die Einzige, die das Baby beruhigen kann, ist die große Schwester. So kommt es, dass die Klientin früh in die Pflege und zeitweise Betreuung des Bruders eingebunden wird. Das bleibt so. Wann immer seine Stimmung kippt, ist sie an der Seite ihrer Mutter. Sie spielt mit ihm, beruhigt ihn, wenn er sich weh tut oder sich seine Jacke nicht anziehen will. Ihre Eltern spiegeln ihr, dass sie gar nicht wüssten, was sie ohne sie tun würden.
FAMILIENSYSTEM
Die Klientin und ihr Mann machen auf mich einen harmonischen und einander zugwandten Eindruck. Er erzählt, dass sich seine Frau für die Harmonie in der Familie verantwortlich fühle und dass ihre Eltern immer wieder klar formulierten, was sie von ihrer Tochter erwarteten. So hätten sie auf den geplanten Namen für ihr Kind kritisch reagiert, vehement eigene Vorschläge ins Spiel gebracht und versucht, ihre Tochter von einem anderen Namen zu überzeugen. Das habe auch er als belastend empfunden.
Das Wort „Kleiner Bruder“ geistert als Bezeichnung für einen erwachsenen Mann, der selbst Vater ist, wie selbstverständlich durch die Familie, wann immer von ihm die Rede ist. Julia ist immer „die große Schwester“. „Aus dieser Rolle komme ich nicht mehr raus“, sagt sie. Sie möchte nicht die gleiche Situation heraufbeschwören, sollte ein Geschwisterkind folgen. Darüber hinaus möchte sie die Entscheidung, ob und wann ein weiteres Kind kommt, ohne den Druck der Eltern treffen.
DIAGNOSE
Ich diagnostiziere eine Parentifizierung. Damit ist nicht nur eine fehlende Abgrenzung zu den Eltern, sondern sogar eine Rollenumkehr innerhalb der Familie gemeint. Ein Kind wird verpflichtet, seine Eltern oder einen Elternteil zu unterstützen. Es geht nicht um Hilfe beim Rasenmähen oder Einkaufen, sondern um die Übernahme einer zentralen Rolle innerhalb der Familie. Das heißt, ein Kind wird dazu angehalten, wie ein Elternteil oder ein Partner Verantwortung zu übernehmen, aber auch als Umsetzer von Lebensträumen der Eltern zu fungieren. Ein Kind kann dafür benutzt werden, einem Elternteil den Partner zu ersetzen oder bei Streitigkeiten vermittelnd einzugreifen.
BERATUNG
In Julias Fall wird deutlich, dass bei ihr sowohl instrumentelle wie auch emotionale Parentifizierung stattgefunden haben. Sie wurde mit der Geburt ihres Bruders ein Teil des „Eltern-Teams“ und übernahm wichtige Aufgaben, auf die sich ihre Eltern langfristig verließen. Das führte dazu, dass Julia nicht nur ihre kindliche Unbeschwertheit aufgeben musste, sondern sich bis heute in der Rolle des dritten Elternteils sieht und so wahrgenommen wird. Bemühungen, sich zu befreien, sei es durch einen Umzug in eine andere Stadt oder die Wahl ihres Partners, wurden von den Eltern kritisch bewertet. Die Zuschreibungen „Große Schwester“ und „Kleiner Bruder“ nutzen diese bewusst immer dann, wenn sie klarmachen wollen, dass sie mit einer Entscheidung ihrer Tochter nicht einverstanden sind.
Nun ist für die Klientin der Zeitpunkt gekommen, diese Rollenumkehr aufzulösen. In mehreren Sitzungen üben wir verschiedene Situationen, die immer wieder auf sie zukommen. Wir sprechen über ihre Ängste, was passieren könnte, wenn sie den Erwartungen ihrer Eltern nicht mehr entspräche, denn einen Kontaktabbruch möchte sie nicht. Gemeinsam überlegen wir, ob es eine Möglichkeit gibt, ihren Bruder mit ins Boot zu holen, sodass dieser sie unterstützen kann, wenn sie gemeinsam auf die Eltern treffen.
ERGEBNIS
Nach der Geburtstagsfeier meldet sich Julia wieder. Sie erzählt, dass es emotional herausfordernd gewesen sei, sich den Kommentaren zu ihrer Familienplanung zu stellen. Ihr Bruder habe ihr sehr geholfen, die Nachfragen zu beenden. Die Klientin macht sich inzwischen bewusst, dass sie nicht für alle und alles verantwortlich ist, dass sie Ja zu ihren Bedürfnissen sagen kann und sowohl ihren Mann als auch ihren Bruder zur Seite hat, die sie unterstützen.
FAZIT
Dieser Fall zeigt, wie wichtig es ist, Parentifizierung nicht zu verharmlosen, denn die Betroffenen leiden auch im Erwachsenenalter darunter, sich für alles verantwortlich zu fühlen. Eine wertschätzende Gesprächsführung, auch unter Zuhilfenahme verhaltenstherapeutischer Werkzeuge, kann dazu beitragen, dass sie langfristig nicht nur besser für sich und ihre Bedürfnisse einstehen, sondern auch ein gesunder Abnabelungsprozess von den Eltern stattfinden kann.


Anna Hofer
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkten Gesprächspsychotherapie nach Rogers und Verhaltenstherapie nach Beck & Ellis, Stillberaterin und Autorin
mail@anna-hofer.deWeitere Artikel aus dieser Ausgabe
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