Psychotherapie und ihre Risiken
von Prof. Dr. Hans-Ulrich Ahlborn, M.A.
Aus dem Eröffnungsvortrag zum 16. Psychotherapie-Symposium des Freien Verbandes Deutscher Psychologen, Psychotherapeuten und Psychologischer Berater in Berlin vom 17. bis 19. Oktober 1997
Im folgenden werden in der einschlägigen Fachliteratur vorgefundene Hinweise auf gängige Vorwürfe an die
Therapiepraxis in der Absicht resümiert, ihnen nicht ausweichen, sondern sie ernst nehmen zu wollen. Da die
Psychotherapieausbildung (HPG) an den Deutschen Paracelsus Schulen sich als „handwerkliche” Qualifikation begreift,
sollte sie sich auch mit den Vorwürfen und Vorurteilen so auseinandersetzen, daß sie den Gefährdungen gängiger
Therapiepraxis jene Solidität entgegensetzt, die selbige ad absurdum führt.
Insofern hoffe ich, daß unsere
Dozentinnen und Dozenten sich in ihren Seminaren durchaus auch mit dieser monströsen Ansammlung geläufiger Klischees
auseinandersetzen – um den wirklichen Gefahren von Dilettantismus und Inkompetenz aktiv entgegenzuwirken.
Die
folgende Auflistung erfolgt weitgehend unkommentiert, um diesen Prozeß nicht zu präjudizieren.
Risiken für die Klienten
Die Größe und Unübersichtlichkeit des Psychotherapieangebotes mache Konsumentenschutz und „Verbraucheraufklärung” so
schwierig wie notwendig. „Bereits vor mehr als zehn Jahren schätzte H. Nagel (1979,17) die Zahl der auf dem Markt
befindlichen Psychotherapiemethoden auf 300-400.” (Giese, 1989, 20). Ebenso mache die Dehnbarkeit des
Therapiebegriffes und die Verschmelzung der Begriffstermini von „Psychotherapie” und „Therapie” es dem
Therapiesuchenden schwer, eine kritische Auswahl zu treffen.
Darüber hinaus neigen Psychotherapie und Esoterik
dazu, alles Denkbare und Machbare auszuprobieren. Ein Trend zu härteren und exotischeren Therapieerfahrungen sei zu
verzeichnen.
Spektakuläre Sinneserfahrungen zögen ein risikofreudiges Publikum stärker an als die geduldige
Durcharbeitung psychischer Probleme. Hemminger schrieb hierzu, daß in den 70er Jahren selbst die verschrobenste
Therapierichtung wissenschaftliche Weihen suchte und daß zur Zeit der Trend dahin gehe, die Ansprüche an eine
wissenschaftliche Fundierung zu senken (vgl. H. J. Hemminger, 1988). Daraus folge auch eine weitere Zunahme von
Therapieformen.
Die Forschungsarbeit zur Überprüfung psychotherapeutischer Verfahren sei zu forcieren, um die
völlige Freigabe des „Psychomarktes” zu verhindern.
Der „graue” Psychomarkt
Dieser Teil der Psychoszene habe sich den Kriterien strenger Wissenschaftlichkeit entzogen. Man rät zum
„Bauch”.
„So kommt es, daß eine steigende Zahl von Halbtherapeuten eine wachsende Zahl von Halbpatienten
bearbeitet” (Bornemann, 1981). Dies sei mit eine Ursache dafür, daß es keine allgemein verbindlichen
Qualitätsmaßstäbe, die überprüf- und einklagbar wären, gibt (nach Schwendy, 1988). Für den Therapiesuchenden bedeute
dies einen fließenden Übergang von der Seriosität zur Unseriosität. Es bestehe nicht die Möglichkeit, „schwarze
Schafe” auf dem Angebotsmarkt auszumachen, sie überhaupt erst als solche zu erkennen.
Therapieschäden
Deren Festlegung ist, abgesehen von massiven Schädigungen, wie Psychosen, nicht einfach. In der Psychotherapie geschieht die Beurteilung von Nebenwirkungen anders als in der Pharmaforschung und daher oft abhängig von „impliziten Bewertungen der Patienten, Behandler oder Untersucher.” (L. G. Schmidt, 1985)
Werner Schulz listet mehrere Indikatoren negativer Therapiefolgen auf, wie z.B.
- das Auftreten einer existentiellen Krise
- die Überforderung als Folge der Therapie
- Verschlechterung der Symptomatik
- Trennung vom Partner mit der Folge einer Vereinsamung
Der Autor vermutet, daß die Liste denkbarer Therapieschäden ebenso umfassend sein wird, wie eine Liste von
Therapieerfolgen.
Zur Häufigkeit von Therapieschäden berichten K. Grawe und Mezenen (1985) daß negative Effekte bei
ca. 30% aller kontrollierten Therapiestudien aufgetreten sind. Dies bedeute jedoch nicht, daß 30% der Klienten auch
tatsächlich geschädigt wurden. Bergin (1971) schätzt eher eine Zahl von 10%. Nachvollziehbar erscheint mir, daß die
gefährdetsten Teilnehmer,nach E. Bornemann (1981), speziell in der Gruppentherapie offenbar diejenigen sind, die mit
den größten Hoffnungen zur Gruppe kommen.
Gerade in der Gruppentherapie ist der starke Wechsel zwischen Erwartung
und Enttäuschung, Geduld und Ungeduld das Problem für den Teilnehmer. Die Autoren stellen fest, daß in verschiedenen
Fällen eine Nichtdurchführung einer Therapie/Beratung in einer existentiellen Krise das Risiko von Suizid,
Drogenabhängigkeit usw. erhöht. Daraus folge, daß fast alles besser erscheint, als den Klienten ohne Unterstützung zu
lassen.
Die Therapeuten
Ebenso wie die Auswahl der geeigneten Therapieform sei die Wahl der Therapeuten von fehlenden Bewertungsmaßstäben
gekennzeichnet.
Bildlich gesprochen kaufe der durchschnittliche Psychotherapiesuchende die „Katze im Sack”. Es
fehle insbesonders von Seiten der Therapeuten die Klärung der Frage, ob der Klient bzw. die Therapierichtung für
diesen geeignet sein mag.
Forschungsergebnisse zur optimalen Zuordnung von Therapeut und Klient schienen wenig
schlüssig. Eine Rolle für die Wahl der Therapeuten könne die „Attraktivität” des Therapeuten spielen, was zu weniger
Abwehr beim Klienten führe und vice versa. Reiner Tausch (1988) empfahl den Therapeuten, den Klienten schriftlich über
Art und Ablauf seiner Psychotherapie, ungefähre Dauer, erwartete Wirkung und mögliche Nebenwirkungen zu informieren.
Das könnte, bezugnehmend auf die vorherigen Punkte, unter Psychotherapeuten ein Nachdenken über Möglichkeiten der
„Verbraucheraufklärung” ingangsetzen.
Die Autoren stellen fest, daß die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und aus
ihnen zu lernen, bei den Psychotherapeuten nicht besonders entwickelt ist. Gründe hierfür lägen zum Teil im
öffentlichen und fachinternen Erfolgsdruck sowie in der Konkurrenz mit den medizinischen Disziplinen.
Der Klient
könne dabei damit rechnen, daß ein erfahrener Therapeut noch stärker dazu neige, den eigenen Beitrag zu einem
Scheitern der Therapie zu leugnen, als ein unerfahrener.
Die therapeutische Beziehung
Diese Beziehung entsteht zwangsläufig. Mißlungene Therapieerfahrungen werden auch als gescheiterte
Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Klient gesehen. Es wird hierbei kritisiert, daß über den Aspekt der
Überbewertung der Beziehung die angewandte Methode vernachlässigt werde. Jedoch läßt sich keine Beziehung ohne
Inhaltlichkeit herbeiführen.
Als riskant wird es angesehen, wenn innerhalb therapeutischer Beziehungen
Freundschaft, Privatheit und Professionalität, Intimität und Distanz fließend ineinander übergehen oder willkürlich
variiert werden.
Die Machtfrage in der therapeutischen Beziehung beziehe sich zumeist auf die Formen des
Machtmißbrauches durch den Therapeuten. Der Therapeut wird als Machtinhaber angesehen, was bei dem Klienten zu einer
erhöhten Folgebereitschaft führe.
Die Gefahr für den Klienten würde dabei noch größer, wenn der Therapeut seine
Macht verleugne oder sie gar verteufele. Machtausübung in Form einer therapeutischen Intervention werde von den
Therapeuten meist verniedlicht. Der Therapeut müsse sich im klaren darüber sein, daß er in der therapeutischen
Beziehung derjenige ist, der vom Klienten als Machtträger bezeichnet wird.
Seine Macht sei hierbei von folgenden
Faktoren gekennzeichnet:
- Machtquellen (Belohnung vermitteln, sanktionieren, strafen, als Experte auftreten;
- Abhängigkeit von Machtquellen (beispielsweise steigt die „Expertenmacht” des Therapeuten mit wachsender Hilfsbedürftigkeit des Klienten);
- Verfügbarkeit über Alternativen.
Psychotherapieforschung
„Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapie gibt es kaum, und wenn es sie gibt, dann sind sie methodisch
unzulänglich” (R. Langs, 1987). Das Geschehen im therapeutischen Prozeß wird als zu komplex angesehen, um es in
bekannten Forschungsdesigns zu erfassen.
Nach den Autoren gäbe es bei einer geeigneten Therapieforschung und
einheitlichen Erhebungsmethoden durchschaubare und allgemeingültige Ergebnisse, die das Risiko für den Klienten bei
der Therapie- und Therapeutenwahl einschränken würden.
Risiken für Therapeuten
Der „unmögliche” Beruf
Schon Freud bezeichnete 1937 die Tätigkeit des Analytikers „als unmöglichen Beruf”, dessen unzureichender Erfolge man
sich von vornherein sicher sein könne.
Nach einer Zeit von etwa 4-6 Jahren bestehen die Risiken für Therapeuten in
ihrem Beruf zum einen im Verlust der Erfolgsorientiertheit, in dem Schwinden des emotionalen Engagements, im
Verlorengehen persönlicher Leistungsfähigkeit und zum anderen in dem Distanzierungsbedürfnis gegenüber ihren
Klienten.
Dabei werde der Beruf von den meisten als vielfältig, abwechslungsreich und interessant beschrieben.
Einige fühlten sich jedoch „ausgelaugt und fertig”, meinten „das Mitleid verlernt” und die „Spontaneität verloren” zu
haben.
In einer Fragebogenerhebung von Kleiber und Rommelspacher (1988) wurde nachgewiesen, daß Therapeuten von
Klienten und Kollegen ein „Feedback” vermissen. Es entstünden so Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle. Unklare
Erfolgskriterien zusammen mit unklaren Aufgabenbeschreibungen würden zu dem Gefühl führen, nie mit der Arbeit fertig
zu werden.
14% der Befragten hatten nach zwei- bis sechsjähriger Berufspraxis den Glauben an die eigene Wirksamkeit
vollkommen aufgegeben.
Die Frage, die sich hier nun stellt, lautet danach, auf welche Weise diese 14% ihre
Profession weiterhin ausüben.
Psychosoziale Probleme der Helfer
Die Frage, die hier aufgeworfen wird, lautet: Wie steht es mit der Forderung eines höheren Maßes an seelischer
Gesundheit bei den Fachkollegen und -kolleginnen der helfenden Professionen?
Es wird dazu festgestellt, daß
zumindest keine bessere psychische Gesundheit zu erkennen ist als in anderen soziologisch vergleichbaren
Berufsgruppen. Die Statistik von Scheidungsquoten, nach Berufsgruppen getrennt, zeige, daß an der Spitze Psychologen,
Schauspieler, Schriftsteller und bildende Künstler stehen.
Aronson, Pines, Kafry (1983) maßen anhand einer
sogenannten „Überdrußskala”, daß Erzieher und Sozialarbeiter sehr hohe Überdrußwerte zeigen. Das gelte auch für die
Bereiche „Gereiztheit/Belastbarkeit”. Für Psychologen gibt es keine exakten Daten, jedoch die gleiche
Vermutung.
Die APA (American Psychological Association) legte 1986 einen Bericht vor. Demnach kommt es in dieser
Berufsgruppe vermehrt zu Burnout, Alkohol-/Tablettenabhängigkeit und emotional-psychiatrischen Störungen. Die
Selbstmordrate liegt demzufolge dreieinhalbmal höher als in der übrigen Bevölkerung. Für den Autor zeigt dies eine
Notwendigkeit, sich stärker mit den Schattenseiten des Berufes zu beschäftigen.
Für die erhobenen Befunde sieht er
folgende Ursachen:
- Mangel an Feedback der Klienten,
- Konkurrenzdruck,
- schlechte Bezahlung,
- gesellschaftliche Widersprüche in der psychosozialen Arbeit.
Streß und Burnout
Diese in den USA untersuchte Symptomatik gilt als spezifisches Merkmal in der psychosozialen und therapeutischen Arbeit. Es wird auch als helfertypische Streßreaktion bezeichnet. Die Ursachen für das „Ausgebrannt sein” sind in folgenden Bereichen zu finden:
- enger Person/Person-Kontakt,
- Mangel an Feedback,
- schlechte Erfolgs-/Mißerfolgskriterien,
- emotional hohe Frequenz (es werden höchst intime und private Dinge angesprochen),
- die Arbeit ist wenig routinisierbar,
- Handlungsstrategien sind in geringerem Maße professionalisiert, als z. B. in der Medizin, bei den Juristen und in der Industrie,
- geringe Effizienzraten im Bereich der Drogen- und Suchtarbeit,
- Zeit- und Verantwortungsdruck.
Die Ursachen können dann zu Fehlsteuerungen, Streßreaktionen und Überforderung führen und sind demnach als Risiken für den Therapeuten zu sehen. Im Spiegel-Magazin (Nr. 52,1988) wurde Burnout als „neue Krankheit” bezeichnet. Mittlerweile gibt es reichlich Literatur über „ausgebrannte” Lehrer, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Geistliche, Therapeuten, etc.
Hilfen für die Helfer
Der Autor sieht die Begründung für die Hilfen darin, die Risiken für Therapeuten zu minimieren und somit Folgeschäden für Klienten zu reduzieren. Bezogen auf eine Burnout-Prävention können die Hilfsmaßnahmen wie folgt lauten:
- Zeitdruck abbauen
- Verantwortung teilen (in Teams arbeiten)
- Arbeit organisieren
- realistische und klare Ziele formulieren (zur Effizienzkontrolle durch Feedback)
- Teambesprechung
- Reflexion
- Idealismus in der Arbeit (schützt vor Burnout und dem „Gefühl reduzierter Leistungsfähigkeit”)
- Handlungsspielräume erweitern
- berufsbegleitende „Supervision”
Die Bedeutung von Supervision wird hier besonders herausgestellt und eben nicht als „Luxusveranstaltung im Sinne
einer Verwöhnung psychosozialer Fachkräfte” verstanden.
Supervision als Hilfe für die Helfer diene vielmehr zur
Qualifizierung der Arbeit und zu deren Aufrechterhaltung sowie als systematische Reflexion, als
Entlastungsmöglichkeit. Weiterhin ist sie ein wünschenswertes Selbstkontrollinstrument. Supervision sei auch
hierzulande zum Standardbeitrag psychosozialer Ausbildung und Praxis geworden. Weitere Strategien werden diskutiert
und erprobt.
Psychotherapeuten im Abwehrkampf: Reaktionen auf Therapiekritik
Nach Ansicht von Claudia Erdheim ist z. B. die Kritik an der Psychoanalyse und der Umgang damit so alt wie die
Psychoanalyse selbst. Die Psychoanalytiker gingen mit der Kritik bislang folgendermaßen um:
Der Kritiker habe
nichts verstanden, sei dumm oder aggressiv. „Die waren alle dumm!” wird als spontane Äußerung einer Analytikerin in
einer Fernsehsendung genannt, in der die Psychoanalyse heftig kritisiert wurde. Die Autorin stellt für sich fest, daß
der durchschnittliche Psychoanalytiker sich mit der Psychoanalysekritik nicht auseinandersetzt.
Sie gibt ein
Beispiel zu dieser Feststellung:
In einer Fernsehdiskussion im ORF zwischen einem Psychoanalytiker (H. Löwenthal)
und einem Psychologen (H. Eschenröder) fragte der Psychoanalytiker, warum sein Gegenüber ihn kritisieren wolle. In den
Augen der Autorin handelt es sich hier um eine „psychoanalytische” Frage. Was soviel bedeute, wie: Wenn H. Eschenröder
die Psychoanalyse kritisiere, ja sogar Unzulänglichkeit nachweisen wolle, rivalisiere er mit dem Vater, wolle ihn
töten.
Im Klartext: Die Psychoanalyse sei nicht kritisierbar! Wissenschaftliche Argumente würden zum Teil mit ganz
persönlichen psychoanalytischen Deutungen dem Diskussionspartner gegenüber beantwortet.
Claudia Erdheim macht die Nicht-Kritisierbarkeit von Psychoanalyse an der Vorlage fest „daß nicht sein kann, was nicht sein darf”. Das Ansehen von S. Freud und der ganzen Psychoanalyse sei so groß, daß ein Infragestellen des Berufes schlechterdings nicht möglich wäre. Abschließend stellt sie fest, daß ganz allgemein Therapeuten so gut wie nie explizit auf Argumente gegen Psychotherapie eingingen. Voller Ironie resümiert sie: „Wenn die Therapie schaden würde, würden die Therapeuten nicht therapieren. Und weil die Therapeuten therapieren, schadet die Therapie nicht.”
Psychotherapie als riskante Chance
„Psychokultur” – Alltagskultur
Wie bereits beschrieben, gibt es einen expandierenden Psychomarkt mit verstärkt esoterischen Heilslehren. Die
gesellschaftlichen Bedingungen, die zu der verstärkten Nachfrage geführt haben, seien dabei kaum zur Kenntnis genommen
worden. Diese Nachfrage nach psychokulturellen Deutungsmustern und Alltagshilfen ergibt sich nach H. Keupp (München)
aus einem Freisetzungsprozeß der Subjekte. Bisherige Lebensformen seien enttraditionalisiert. Es komme zu einer
Erosion bislang gültiger Beziehungen und Lebenspläne. Dieser Freisetzungsprozeß beinhalte zweierlei:
Zum einen die
Ablösung und Überwindung einengender kontrollierender Sozialformen (Emanzipation von zugeschriebenen Rollen). Dies
werde besonders deutlich auf dem Freizeitsektor mit der darin gegebenen zunehmenden Individualisierung.
Zum anderen
bedeute dieser Freisetzungsprozeß auch eine steigende Krisenhaftigkeit in der Identitätsbildung. Die
Standortbestimmung in der Gesellschaft werde immer schwieriger und die Anforderungen würden fortlaufend
undurchschaubarer, könnten somit zu Lebenskrisen führen.
Keupp stellt die These auf, daß wegen der psychosozialen
Durchdringung der Alltagskultur durch die psychosozialen Professionen von einer „Psychokultur” gesprochen werden kann.
Er versucht diese These empirisch zu belegen, indem er nachweist, daß in den Jahren zwischen 1960 und 1980 Psychologen
und Sozialpädagogen hohe Zuwachsraten in den Dienstleistungsberufen verzeichnen.
Das Kursbuch 82/1985 spricht in
diesem Zusammenhang ebenfalls von der „Therapie-Gesellschaft”. Jedoch werde die Nachfrage nach Beratung, Therapie und
anderen Dienstleistungen des psychosozialen Systems von den Konsumenten aus eigener Initiative getätigt.
Hunger nach Psychologie
Dieser Hunger könne nicht alleine nur aus der raffinierten Angebotsstruktur der „Psy”-Professionen kommen, sondern
sei durch den Freisetzungsprozeß des Subjektes mit seinen Chancen und Risiken bedingt.
„Die Suche nach sich
selbst”, einen Punkt der Festigkeit und Unzweideutigkeit, habe einst der Soziologe Georg Simmel die Nachfrage nach
Unterstützung genannt.
Die Individualisierung/Spezialisierung in der modernen Industriegesellschaft fordern
„Realitätsarbeit” und „Identitätsarbeit”. Keupp sieht die fortschreitende Individualisierung der Subjekte durch
Bildung, Mobilität und Konkurrenz speziell auf dem Arbeitsmarkt als maßgebend für die Veränderungen äußerer
Lebenskonturen.
Daher solle/könne die Psychologie dabei helfen, entstehende Identitätskrisen zu beheben und dem
Subjekt weitere Chancen für neue Lebensformen zu geben (eigene Wege wählen, Interessenbindungen, Emanzipation aus
Traditionen, mehr Handlungsspielraum).
Angebot und Nachfrage
Sie richten sich nach den Bedürfnissen, den spezifischen Identitätskrisen und Lebensproblemen und sei demnach auch
immer zeittypisch.
Insbesondere die „neuen Psychotherapien” mit ihren Erfolgen stellten den Versuch dar, neuartige
individuelle Bedürfnisse besser anzusprechen oder auch Bedürfnisse zu wecken, wo vorher keine waren.
Schünlein
veröffentlichte 1978 hierzu eine Zuordnung von Angebot und Nachfrage, die folgendermaßen aussah (auszugsweise):
1. Beispiel: Verhaltenstherapie
Für die Korrektur bestimmter Personanteile zur effektiven Alltagsbewältigung und für die bessere Erreichbarkeit angestrebter Leistungen geeignet.
2. Beispiel: Gestalttherapie
Für die Stabilisierung der Identität, bei Zerrissenheitsängsten der Subjekte geeignet.
3. Beispiel: Encounter-Gruppen
Für die Vermittlung intensiver Gefühle und zur Herstellung sozialer Kontakte ohne Selbstbemühung geeignet.
New Age (Neues Zeitalter)
Der nach Keupp beschriebene Freisetzungsprozeß bedeute einerseits den Verlust von Lebenszusammenhängen, in denen man
die gesicherte Verortung haben könnte. Diese sei jedoch für die Bewältigung des Alltags von Bedeutung, so daß gerade
die auf dem Psychomarkt angebotenen „Leitfäden” besonders attraktiv werden.
Die Leitfäden versprächen Sicherheit,
vermitteln scheinbar neue Sinnhorizonte und den Eintritt in eine vielversprechende Zukunft, in ein Neues Zeitalter.
Die New-Age Angebote seien wie eine Individualtour auf dem Psychomarkt. „Jede Krise ist auch eine Chance” (chin.
Weisheit), so lautet die Botschaft. Positiv wird die Schwelle zu einem neuen Zeitalter betrachtet, ohne Kriege, Gewalt
und Umweltzerstörung. Das spirituelle Erwachen von immer mehr Menschen stelle die Keimzelle des Neubeginns dar.
In
Texten des New-Age wird häufig der Bezug auf Selbstorganisation genommen. Diese selbstbestimmbaren Lebensformen
reduzieren sich allerdings mehr auf den Jargon der Selbstbefreiung/-erlösung oder -erhöhung.
Beispiele für das
Angebot des New-Age sind: Bücher über Selbstfindung, Meditation, Traumjournale, Körpertraining, Yoga, Biofeedback,
Laufen, Wochenendseminare, Esoterische Lehren.
Hier hätte, und damit will ich den kursorischen Überblick abschließen, die Kurz(zeit)-Therapie, wie sie neuerdings die Paracelsus Schulen in den Vordergrund stellen, hinzugehört. Doch sie ist bei uns zulande noch recht neu und wohl deshalb nicht explizit aufgezählt worden. Dem können wir abhelfen, indem wir, worauf ich setze, den mit der vorliegenden Reihung von kritischen (und ihrerseits kritikwürdigen) Hinweisen in der nächsten Zeit gerade diesen Ansatz mit der Absicht entgegensetzen, darin auch die genannten Mängel zu absorbieren.
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